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Das nächste Jahrhundert wird uns gehören

Frauen und Utopie 1830-1840

AutorBettina Schäfer, Claudia von Alemann, Dominique Jallamion
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783105617137
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Frauen wie Claire Démar, Flora Tristan, Suzanne Voilquin und Désirée Gay sind in Deutschland weitgehend unbekannt. Diese Frauen gehörten den sozialutopischen »Schulen« an. Sie setzten sich vehement für ihre Rechte als Frauen ein und veröffentlichten Bücher und Pamphlete. Einige von ihnen gaben eine Zeitschrift heraus, die unter verschiedenen Titeln von 1832-34 in Paris erschien. Artikel dieser Zeitschrift bilden den Hauptteil dieses »Lesebuches«, das einen lebendigen Eindruck davon entstehen läßt, wie Frauen damals ihre Emanzipation auffaßten und für eine Neuordnung der Gesellschaft eintraten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Claudia von Alemann, geboren 1943 in Seebach/Thüringen, studierte Soziologie in Westberlin; Filmstudium in Ulm. Ausbildung in London, Berlin; Arbeit mit Filmkollektiven in Paris. Filmmacherin für Fernsehanstalten und in eigener Produktion. Regisseurin des Spielfilms über Flora Tristan »Die Reise nach Lyon«. Veröffentlichungen in »Kursbuch«, Filmkritiken in »Frauen und Film«, »Medium« etc.

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Leseprobe

Aus dem Leben der »Familie«


»Richtige Familienfeste …«

Oft hielten wir unsere großen Versammlungen sonntags am Stadtrande, und alle Mitglieder der Familie kamen dazu herbei. Manchmal übernahmen Julien Gallé, Louis Vinçard, Victor Laudy und ich die Organisation.

Nach unserem Pilgergange zum Haus des Vaters in Ménilmontant gingen wir in Gruppen zur Versammlung in einen großen Saal, wo wir regelrecht spartanische Mahlzeiten miteinander teilten. Ja, wir bereiteten diese brüderlichen Mahle mit frugaler Sparsamkeit.

Nach dem Abendessen nahmen zwei junge Mädchen ihre Violinen zur Hand und spielten uns bis um zehn Uhr zum Tanze. Es waren richtige Familienfeste. Unser Heimweg führte entlang der äußeren Boulevards, und wir sangen dabei auf Anregung und unter der Anleitung Gallés, Vinçards, Ducatels und anderen die schönen Lieder von Ménilmontant.

Widernisse einer saint-simonistischen Landpartie

Einmal verließ uns das Wohlwollen, das uns die Proletarier sonst bezeugten. Wir begleiteten den jungen Poeten Mercier, der – unterstützt von Vinçard – als Apostel in die Provinz aufbrach, ein Stück weit auf seinem Wege.

Hinter Charenton wären wir beinahe gesteinigt worden, als wir von unseren Planwagen absteigen wollten. Die Bauern des Dorfes überfielen uns geradezu mit Schreien, Beleidigungen und recht vielen Steinen. Dies zwang die Damen, sofort wieder aufzusteigen und unter den Planen unserer ländlichen Fuhrwerke Schutz zu suchen. Meine liebe Célestine und ich waren unter den ersten, die flüchteten, denn wir verspürten nicht den geringsten Wunsch, mitten in diesem neunzehnten Jahrhundert gesteinigt zu werden. (aus Suzanne Voilquin, Erinnerungen …)

Die »Familie« in der Rue Monsigny oder »Inspirierender Blick der Frauen …«

Alles war dazu angetan, die aktive Propaganda der Saint-Simonisten anziehend wirken zu lassen. Die Familie in der Rue Monsigny erstrahlte in ihrem gleißenden Lichte zugleich als Stätte einladender Großzügigkeit. Die Doktrin entwickelte sich hier unter den inspirierenden Blicken der Frauen inmitten der Feste.

Ingenieure, Künstler, Ärzte, Rechtsanwälte und Poeten waren zusammengekommen, nachdem sie ihre Berufe, ihre Träume von Reichtum und oft ihre familiären Bindungen aufgegeben hatten, um nun ihre weitestgehenden Hoffnungen mit anderen zu teilen.

Die einen hatten ihre Bücher mitgebracht, andere ihre Möbel, wieder andere ihre ganze Habe. Man nahm die Mahlzeiten gemeinsam ein, ja, überhaupt versuchte man sich im Kulte der Brüderlichkeit.

Alltag in Ménilmontant – Kommuneleben der »Männerfamilie« 1832–33

Der Apostel Gustave D’Eichthal über den Mangel an Abwechslung:

Uns fehlte in Ménilmontant das Unplanmäßige und Malerische. Die Appelle, Zimmervisiten, gelegentliche Lektüre von Zeitschriften und Spaziergänge in der Gruppe oder einzeln bildeten die einzige Abwechslung zwischen den Stunden gemeinsamer Arbeit.

Ein Tagesplan – am 5. Juli 1832

um 4.30

Aufstehen

bis 4.45

Fußbad und Appell

4.45

Appell und Frühstück

um 5.00

Beginn der Arbeiten

um 9.00

Suppe

um 10.00

Wiederaufnahme der Arbeiten

Mittag

Ein Stück Brot

um 1.00

Musikgeneralprobe


anschließend Freizeit

um 4.30

halbes Habit ankleiden

um 5.00

Abendessen


nach dem Abendessen: Gartengießen

um 8.00

Appell

um 9.15

Licht aus

Verstöße gegen die Gruppendisziplin, ein Aushang im Juli 1832:

Desloges

blieb länger als zwei Stunden in Belleville, obwohl er mit dringenden Einkäufen beauftragt war.

Broet

wird wegen Verweichlichung vom Tischdienst suspendiert.

David

hat sich geweigert, andere Arbeiten, als solche, die dem Komponieren und Einüben der Musik dienen, zu übernehmen.

Justus

hat sich trotz seiner Beteuerungen immer wieder der Arbeit entzogen.

Massol


Mercier


Retouret

haben verschiedene Gegenstände aus Küche und Büro entwendet.

Enfantin über Sympathiebezeugungen seitens der Nationalgarde, die das Haus in Ménilmontant überwachte

Ein Gefühl der Verbindung zu uns ist unter Männern aufgekommen, die uns bisher nur sehr vorsichtig begegnet sind. Nun aber bekunden uns die Soldaten der Nationalgarde von Belleville, die jeden Tag als ganze Truppen unsere Türen bewachen, abends beim Gehen ihre Sympathie.

Winter 1831: Die »Neue Moral« Enfantins erregt Aufsehen

Die »Gesellschaft für christliche Moral« konnte nicht gleichgültig bleiben. Ihre Mitglieder beschlossen in der monatlichen Versammlung im November 1831, einen Preis von 500 Francs für die Abfassung einer Streitschrift auszusetzen, die die »beste und umfassendste Widerlegung saint-simonistischer Lehren, besonders zu den Punkten, die der christlichen Moral entgegenstehen«, enthalten würde.

August 1832: Ein Prozeß wegen Verstoßes gegen die öffentliche Sittlichkeit

Man begibt sich zum Verhandlungsort:

 

Am 25. August, um 7.30 Uhr, findet sich die Familie im Hof von Ménilmontant im Apostelhabit versammelt. Michel Chevalier läutet zum Aufbruch. Männer und Frauen aus Paris reihen sich unter der Leitung von Fournel und Lemonnier hinter der Familie ein. Der »Appell« und das »Salut« werden gesungen, worauf sich der Zug in Bewegung setzt. Durch die Straßen von Ménilmontant, über die äußeren Boulevards, durch die Rue de la Juiverie erreichen sie zu Fuß den Justizpalast ohne Behinderung und unter Beteiligung einer beträchtlichen Menge. Um 11.00 Uhr rufen die Gerichtsdiener die Angeklagten im Gerichtssaale mit der Bitte zusammen, ihre Rechtsbeistände mitzubringen. Schon bei der Eröffnung der Verhandlung beginnen die ersten Zwischenfälle.

 

Frauen als Rechtsbeistände vor Gericht?

 

Auf die Frage des Richters nach seinen Verteidigern, verweist Enfantin an Aglaé St. Hilaire und Cécile Fournel, die beide anwesend sind. Er fügt hinzu, keiner der Angeklagten habe Verteidiger, und diese Damen seien als seine Beraterinnen vor Gericht anzusehen. Der Richter erklärt, daß es unmöglich sei, Personen weiblichen Geschlechtes als Rechtsbeistände vor Gericht zuzulassen, und verfügt, daß beide im Gerichtssaale unter den Zeugen Platz zu nehmen hätten.

 

Provozierende Antworten der angeklagten Apostel:

 

Der Richter versucht Chevalier in seinen Ausführungen über das Los der Frauen mehrmals zu unterbrechen. Schließlich droht er ihm, er werde ihm das Wort entziehen und einen Rechtsanwalt verordnen, wenn er in seiner »Apologie orientalischer Sitten« noch weiter fortfahren wollte.

Darauf Chevalier: »Einen Rechtsanwalt! Wie wollen Sie denn einen finden? Ich habe bei unserer Ankunft zu allen Anwälten hier gesagt, daß ich angeklagt bin, weil ich schrieb, die Welt lebe mit Prostitution und Ehebruch, und daß auch sie alle mit Prostitution und Ehebruch leben würden, also auch den Mut haben sollten, dies offen auszusprechen, und daß dies das einzige Plädoyer sei, welches sie für uns halten könnten. Dies lehnten die Herren aber ab – also kann mich gar niemand verteidigen!«

1833: Jahr der Mutter und Aufbruch zu Missionen im Orient

»Wer weiß, ob Sie tatsächlich große Lust haben, die freie Frau zu finden. Die Propheten sprechen alleine …«

(Hortense Allart an Enfantin)

Am 8. April ankern Barrault und die Ritter der Frau zum ersten Male im Orient, bei Llacota, einer Küstenstadt nahe des Cap Blanc. Als sie an Land gingen, erregten sie einiges Aufsehen, und das Begrüßen einer jeden Frau hätte ihnen beinahe größere Unannehmlichkeiten eingebracht, wenn sie nicht schnell wieder an Bord gegangen wären.

Am 15. April erreichten die Ritter der Frau um sieben Uhr morgens schließlich Istanbul. Für vier Tage begaben sich nun die Gruppen von Saint-Simonisten in die belebtesten Straßen und auf die zentralen Plätze. Dort sangen sie ihre Lieder und predigten die Doktrin, grüßten alle Frauen mit tiefer Verbeugung und verkündeten bis vor dem Serail des obersten Paschas, daß sie die Messias-Frau finden wollten, die sie im...

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