Kapitel 3 Das prä-luzide Stadium
Ein Traumtypus, der nicht im eigentlichen Sinne luzid, aber einem luziden Traum nahe verwandt ist, ist der, in dem der bzw. die Träumende zu träumen meint, darüber nachdenkt oder verschiedene »Tests« anstellt, um sich über die wirkliche Situation Gewißheit zu verschaffen. Celia Green hat für diesen Erlebnistypus die Bezeichnung »prä-luzider Traum« vorgeschlagen. Auch wenn es durchaus möglich ist, direkt beim Einschlafen oder auch unwillkürlich aus einem nichtluziden Traum heraus in einen luziden Traumzustand einzutreten, geht der Luzidität doch häufig eine prä-luzide Phase der beschriebenen Art voraus. Ein prä-luzider Traum kann eine recht große Ähnlichkeit mit einem luziden Traum haben, was den Grad des realistischen Wahrnehmungsvermögens und das Ausmaß angeht, in dem der Träumer seine intellektuellen Fähigkeiten auszuüben imstande ist.
Der folgende, von dem Psychologen Moers-Meßmer aufgezeichnete Bericht ist ein Beispiel für einen prä-luziden Traum. Er besitzt viele Merkmale eines luziden Traumes, vor allem da, wo er detailliert und realistisch ist, wobei die gelegentlich auftretenden Abweichungen von einem strikten Realismus ähnlich auch in vielen luziden Träumen anzutreffen sind. Auch wenn der Träumer anfänglich das Wesen seines Erlebnisses noch nicht erfaßt, erregen diese Abweichungen dann doch seinen intellektuellen Argwohn. Er reflektiert seine Situation einige Zeit, bis ihm schließlich, trotz seines Widerstrebens gegen eine solche Schlußfolgerung, klar wird, daß er tatsächlich träumt.
An einem kleinen Fluß gehe ich einen schmalen Weg entlang. Die Gegend ist mir fremd. Eine Frau kommt mir entgegen, ein großer Gegenstand, ähnlich wie eine Hutschachtel, entfällt ihr ins Wasser und schwimmt darauf. Die Frau steigt die Uferböschung hinunter, tritt auf die Wasseroberfläche, macht einige Schritte und holt sich den Gegenstand. Dies setzt mich in höchstes Erstaunen, ich gehe vom Weg ab zum Fluß hinunter und betrachte das Wasser. Ob es bewegt war, habe ich vergessen. Die Farbe ist grau und etwas stumpf, die obersten Schichten sind durchsichtig. Ich trete darauf und gehe zum anderen Ufer hinüber. Bei jedem Schritt sinke ich leicht ein, ich habe das Gefühl, wie auf Sand zu gehen. Wie ich mich umsehe, finde ich auf einmal den ganzen Fluß von Menschen bevölkert, die von den Ufern her hinübergehen. Das erste Erstaunen ist bald verschwunden, ich finde mich mit den gegebenen Tatsachen ab. Doch wie ich in einiger Entfernung eine Brücke sehe, regt sich wieder mein unvertilgbarer Intellektualismus. Ich fange an zu grübeln: Eis kann es nicht sein; dazu ist es zu weich, außerdem ist die Luft zu warm. Vielleicht handelt es sich um eine neue Erfindung. Wozu baut man dann aber Brücken, wenn es auch so geht? Auf einmal kommt mir blitzartig der Gedanke: Könnte es sich nicht wieder einmal um einen Traum handeln? Zunächst empfinde ich eine Abneigung gegen diese Vorstellung, aber langsam überzeuge ich mich, daß es die einzige Möglichkeit ist, die mir übrig bleibt.
Nicht alle prä-luziden Träume enden wie dieser damit, daß der Träumende sich dessen bewußt wird und in einen luziden Traum eintritt. Selbst nach einer noch so sorgfältigen Überprüfung des Zustandes, in dem er sich befindet, kann der prä-luzide Träumer dennoch zu der Schlußfolgerung gelangen, er sei in Wirklichkeit wach. Daher gibt es einige Überschneidungen zwischen den als falsches Erwachen einzuordnenden Erfahrungen und dem, was wir als prä-luzide Träume bezeichnen (s. Kapitel sieben).
Prä-luzide Träumer können plötzlich aufgrund der Glaubwürdigkeit ihrer Umgebung zu der Überzeugung gelangen, sie seien wach, oder sie können zu verschiedenen »Tests« greifen, deren Ergebnisse sie möglicherweise dazu bringen können, die richtige Schlußfolgerung zu ziehen. Es ist interessant, sich einige dieser verwendeten Tests, mit denen Träumende herauszufinden versuchen, ob sie nun wach sind oder nicht, einmal anzuschauen.
Der klassische Test, sich zu kneifen, ist völlig unzuverlässig, da ein prä-luzider Traum durchaus imstande ist, ein Empfinden hervorzurufen, als ob man gekniffen worden sei, überzeugend genug, um den Träumer zu täuschen. Ähnliches gilt im Prinzip von allen vergleichbaren Empfindungen; später werden wir sehen, daß der Realismus von Empfindungen bei luziden (und prä-luziden) Träumen sehr weit entwickelt sein kann.
Zu den erfolgreichsten, von luziden Träumern angewandten Tests zählen: der Versuch zu fliegen oder zu lesen, das Licht anzuschalten sowie Gedächtnistests, in denen der Träumer versucht, die Ereignisse zurückzuverfolgen, die zu seiner jetzigen Situation geführt haben. Jeder dieser Tests ist durchaus geeignet, Ergebnisse zu erzielen, die sich von denen unterscheiden, zu denen man im Wachen gekommen wäre, so daß – vorausgesetzt, man kann diese Diskrepanz erkennen – die richtige Schlußfolgerung gezogen werden kann.
Andererseits kann es dem Träumenden durchaus passieren, daß er den »Fehler« in seinem Traum nicht findet, wie das folgende Beispiel von Paul Tholey illustriert. Darin erinnert sich der Träumende, wie er seinen Zustand durch eine Drehung um die eigene Achse testen wollte. Wenn man sich im Wachen einmal um sich selbst dreht und dann stehen bleibt, hört auch die Umgebung auf, sich zu drehen. Im Traum jedoch läßt sich Tholey zu der Überzeugung verleiten, das unaufhörliche Um-einen-herum-Drehen sei charakteristisch für das Wachen.
Ich gehe mit Freunden durch eine herrlich klare Herbstlandschaft … Ich rufe: ›Diese Behauptungen von der völlig realistischen Wahrnehmung der Traumwelt sind doch unhaltbar! Wie sollte es denn möglich sein, daß man im Traum zum Beispiel diesen kalten, klaren Morgen und diesen farbenprächtigen Herbstwald in allen Details wahrnehmen könnte? Wie sollte man denn im Traum wohl dieses kalte und klare Gefühl in der Lunge fühlen, das sich bei tiefem Einatmen einstellt … Die sogenannten Realitätstests sind doch nichts als Augenauswischerei! Zum Beispiel dieser Drehtest. Wenn ich mich schnell um 180 Grad auf der Stelle drehe (und ich demonstriere es), dann dreht sich die Umwelt danach natürlich gegensinnig weiter.‹
Auch der folgende Traum läßt erkennen, wieviel Einfallsreichtum der Träumer Paul Tholey aufwendet, um sich davon zu überzeugen, daß er wach ist, trotz seiner Bemühungen, analytisch zu denken. Dr. Tholey ist Psychologe, von daher mag seine Vorstellung, er trüge eine Umkehrbrille (wie sie manchmal bei Wahrnehmungsexperimenten im Wachzustand verwendet werden), vielleicht nicht ganz so unwahrscheinlich anmuten, wie es wohl bei anderen Träumern der Fall wäre.
Mir fiel auf, daß ein unmittelbar vor mir stehendes Haus verkehrt herum zu stehen schien, worauf ich zur Überzeugung gelangte, daß ich wohl träumen müsse. Dann bemerkte ich aber, daß ich eine Brille aufhatte, und mir kam sofort der Gedanke, daß es eine Umkehrbrille sein könnte. Um dies zu prüfen, nahm ich die Brille ab, woraufhin das Haus jetzt in aufrechter Stellung vor mir stand. Dies führte mich dann zu der fälschlichen Annahme, daß ich mich doch im Wachzustand befände.
Es scheint also offenbar erst ein beachtlicher psychologischer Widerstand überwunden werden zu müssen, damit der Träumende schließlich dazu kommen kann, seiner Situation gewahr zu werden. Ein besonders interessanter Typ prä-luzider Träume ist der, bei dem dieser Widerstand selbst zum Ausdruck kommt, nicht allein indem dem Träumer Vorschläge gemacht werden, wie er seine Wahrnehmungen rechtfertigen kann, sondern auch indem die Vorstellungswelt des Traumes modifiziert wird, sobald der Träumer sie kritisch zu betrachten beginnt, wie in dem folgenden, von dem Physiker Ernst Mach berichteten Fallbeispiel:
Als ich viel mit Raumfragen beschäftigt war, träumte mir von einem Spaziergang im Walde. Plötzlich bemerkte ich die mangelhafte perspektivische Verschiebung der Bäume und erkannte daran den Traum. Sofort traten aber auch die vermißten Verschiebungen ein. Im Traum sah ich in meinem Laboratorium ein mit Wasser gefülltes Becherglas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. ›Woher bezieht das den Sauerstoff?‹ dachte ich. ›Der ist im Wasser absorbiert. Wo kommen die Verbrennungsgase hin?‹ – Nun stiegen Blasen von der Flamme auf, und ich war beruhigt …
Jemand, der einen prä-luziden Traum erlebt, kann durchaus zu dem einfachen Schluß kommen, dies sei das Ergebnis irgendeiner undefinierbaren, aber unverkennbaren Eigenart der Situation. Er kann aber auch ein beachtliches Maß an intellektueller Arbeit in den Versuch investieren, zur richtigen Schlußfolgerung zu gelangen, wie in dem folgenden, von Moers-Meßmer berichteten Traum.
Von der Höhe eines ziemlich flachen unbekannten Berges aus sehe ich über eine weite Ebene bis zum Horizont hin. Da kommt mir der Gedanke, daß ich gar nicht weiß, welche Tageszeit es ist. Ich sehe nach dem Stand der Sonne. Sie steht in gewohnter Helligkeit fast senkrecht am Himmel. Das wundert mich, da mir einfällt, daß jetzt schon Herbst ist und sie vor kurzem viel niedriger stand. Ich überlege: Die Sonne steht jetzt senkrecht auf dem Äquator, muß also hier im Winkel von ungefähr 45° stehen. Wenn daher mein Schatten nicht meiner eigenen Länge entspricht, muß ich träumen. Ich schaue hin: Er ist ungefähr 30 cm lang. Es kostet mich eine ziemliche Anstrengung, die ganze fast blendend helle Landschaft mit allen Ortschaften für Täuschung zu halten.
Menschen, die häufiger wiederkehrende Traumerlebnisse haben, versuchen manchmal, sich selbst...