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E-Book

Das nationalsozialistische Wien

Orte - Täter - Opfer

AutorJohannes Sachslehner, Robert Bouchal
VerlagMolden Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783990404461
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Aktionspreis Aus Wien wird 'Groß-Wien', der Partei- und Verwaltungsapparat der Nazis bemächtigt sich der Stadt, die Freiheit, von der im 'Jubelsturm' der Machtübernahme so viel die Rede gewesen ist, entpuppt sich als Unfreiheit, die versprochene 'Erneuerung' endet in Terror und Krieg. Gestützt auf zahlreiche Zeitzeugengespräche zeichnen Robert Bouchal und Johannes Sachslehner ein hautnahes Bild von der Stadt im Zeichen des Hakenkreuzes. Sie besuchen die Orte, an denen sich die Herrschaft des Regimes verdichtete, und erzählen von den Wienern und Wienerinnen: von Profiteuren und Mördern, von Mitläufern und Opfern.

Johannes Sachslehner, geb. 1957 in Scheibbs, studierte an der Universität Wien Germanistik und Geschichte (Dr. phil.) und unterrichtete von 1982 bis 1985 an der Jagiellonen- Universität Krakau als Gastlektor für deutsche Sprache und Literatur, seit 1989 Verlagslektor. Zahlreiche Publikationen, zuletzt erschienen bei Styria Premium seine beiden Bände über die 'Schicksalsorte Österreichs' sowie '365 Schicksalstage Österreichs'.

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Leseprobe

Das Parlament der Republik als Bühne für die Diktatur: Festakt im „Gauhaus“ mit Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach.

BRENNPUNKTE DER NS-HERRSCHAFT


EIN BALKON FÜR DEN „FÜHRER“ – DER TAG DES GROSSDEUTSCHEN REICHES


Es ist uns zum vertrauten Wahrzeichen der Stadt geworden: das mächtige Neue Rathaus, errichtet in den Jahren 1872 bis 1873 nach Plänen des Baumeisters Friedrich von Schmidt. Der neogotische Monumentalbau kündet von der Freiheit dieser Stadt, er ist Symbol für die Lebensenergie Wiens, für Kraft, Lebensmut und Tüchtigkeit seiner Bewohner. Der Platz vor dem 98 m hohen Hauptturm mit dem Rathausmann ist als Treffpunkt weithin beliebt, ein Ort der Lebensfreude und des Genießens – der Christkindlmarkt und der Wiener Eistraum, das Filmfestival im Sommer und der Life Ball sind Attraktionen, die das Bild der Stadt nachhaltig mitbestimmen.

Plakat zum Auftritt Hitlers in Wien am „Tag des Großdeutschen Reiches“.

Es ist auch ein Ort, der für politische Kundgebungen wie geschaffen scheint, dafür aber – sieht man von den Schlussansprachen der Wiener Sozialdemokraten zum Aufmarsch am 1. Mai ab – kaum genützt wird. Dabei bildet das gegenüberliegende Burgtheater eine wunderbare Kulisse im Rückraum des Platzes. Das erkennen 1938 auch die Propagandafachleute um Joseph Goebbels, als sie einen Ort suchen, der ihnen für die Inszenierung rund um den „Tag des Großdeutschen Reiches“ am 9. April geeignet erscheint. Der Rathausplatz, der in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannt worden ist, scheint ihnen ein würdiger Rahmen zu sein, es fehlt nur die Bühne für den Auftritt des „Führers“ – ein Balkon am hohen Turm, so der Wunsch, muss es sein. Der Turm besitzt nur keinen Balkon, ein Problem, das sich lösen lässt: Für den „Führer“ wird in aller Eile ein kleiner halbrunder Balkon errichtet, auf ihm soll sich der Diktator den Wienern zeigen.

Am 9. April 1938, von Goebbels zum „Tag des Großdeutschen Reiches“ ausgerufen, ist es dann so weit. Hitler kommt nach Wien, um noch einmal für die Volksabstimmung am 10. April Stimmung zu machen. Der Besuch läuft nach einem von Josef Bürckel minuziös vorbereiteten Programm ab: Um 11 Uhr fährt der „Führersonderzug“ in den Westbahnhof ein, um 11.05 schreitet Hitler die angetretene Ehrenformation, befehligt von SA-Standartenführer Prütz, ab. Die anschließende Fahrt zum Rathaus erfolgt über die Route Mariahilfer Straße – Babenbergerstraße – Ring, die Menschen jubeln, es ist, wie das Kleine Blatt schreibt, „das Gefühl des Dankes, das die Herzen höherschlagen läßt, des unermeßlichen Dankes für das Werk der Befreiung, das Adolf Hitler vollbrachte. Das österreichische Land ist ein Land des Deutschen Reiches geworden, beschützt und bewahrt von der großen deutschen Wehrmacht, eingeführt in das kraftvolle Wirtschaftsleben eines Siebzigmillionenstaates. Und die deutschen Menschen auf österreichischem Boden sind nicht mehr durch Grenzen getrennt von den Deutschen im Reich.“ Ja, alle dürfen jetzt teilhaben an der „Unsterblichkeit Deutschlands“, wie das Kleine Blatt am nächsten Tag berichtet, „ein Land der Verheißung“, ein „heiliges Ziel“ tut sich auf.

Von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels für den spektakulären Auftritt Hitlers am 9. April 1938 ausgewählt: der Balkon am hohen Turm des Rathauses.

Einmal mehr genießt Hitler einen triumphalen Einzug in Wien, in jene Stadt, der er mit sehr unterschiedlichen Gefühlen gegenübersteht.

Um 11.25 Uhr trifft die Wagenkolonne beim Rathaus ein, Bürgermeister Dr. Neubacher empfängt Hitler beim Eingang des Rathauses und geleitet ihn in den Festsaal. Als Hitler die Mitte des Saales erreicht, stimmt der Chor der Staatsoper, dirigiert von Professor Grossmann, den „Wach auf!“-Chor aus Richard Wagners Meistersingern an – man weiß gut Bescheid über die musikalischen Vorlieben des Gastes. Um 11.30 setzt Bürgermeister Neubacher zu seiner Begrüßungsansprache an, fünf Minuten darf er sprechen, Hitler erwidert kurz einige Worte. Dann kommt der Balkon ins Spiel: Sein Geländer ist mit einem großen Tuch abgehängt worden. In der Mitte des Stoffes befindet sich weithin sichtbar ein großes Hakenkreuz. Vier Mikrofone sind bereit, jeden Satz, jedes Wort, ja jede nur erdenkliche Äußerung des „Führers“ aufzufangen und lautstark an die neuen Wiener Volksgenossen weiterzugeben. Goebbels, der Meister der Inszenierung, gibt das Zeichen: Um 11.59 betritt er den Balkon und verkündet den „Tag des Großdeutschen Reiches“, dann befiehlt er „Heißt Flaggen!“ – im ganzen Reichsgebiet werden in diesem Augenblick auf allen öffentlichen Gebäuden die Flaggen geheißt, vom Rathausplatz steigen 30.000 Brieftauben auf, die man aus allen Gauen nach Wien gebracht hat.

Das „Interessante Blatt“ berichtet ausführlich über die Ereignisse des 9. und 10. April 1938. Linke Seite unten: Hitler und Goebbels gemeinsam am Balkon des Rathauses.

Um 12.00 Uhr Stille – im ganzen Reich sind zwei Minuten Verkehrsstille angesetzt, auf den Straßen bleiben die Menschen stehen, die Sirenen der Fabriken heulen auf, die Lokomotiven pfeifen und sämtliche deutschen Kriegs- und Handelsschiffe flaggen über die Toppen. Punkt 12.02 Uhr betritt Hitler den Balkon und hebt die rechte Hand zum Gruß an die Wiener Bevölkerung. Es ist, so die Botschaft, nun seine Stadt.

Vor dem Rathaus werden dem „Führer“ anschließend die „Treuebotschaften“ des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), dann bricht die Wagenkolonne Richtung Hotel Imperial auf.

Der Balkon am Rathausturm spielte seit diesem denkwürdigen Auftritt des „Führers“ politisch keine Rolle mehr – niemand denkt daran, hier hinauszutreten um eine Ansprache zu halten. Der Balkon der Neuen Hofburg, auf dem Hitler den „Anschluss“, ist dagegen im Gedächtnis geblieben.

Die Zentrale der Gauverwaltung: das „Gauhaus der N.S.D.A.P“. Detail aus einem Wien-Panorama im Kinderbuch „Bei uns in Wien“ (siehe auch Seite 52).

DAS GAUHAUS


Das antidemokratische Denken der Nazis hat nicht zuletzt auch das Ziel, das Symbol des verhassten Parlamentarismus, das Parlament, mit neuer Bedeutung „aufzuladen“. Ab dem 23. April 1938 residieren hier Parteigenosse Josef Bürckel und sein „Reichskommissariat für die Wiedervereinigung der Ostmark mit dem Deutschen Reich“, mit dem 1. Februar 1939, dem Tag der Ernennung Bürckels als Nachfolger Globocniks zum Wiener Gauleiter, übersiedelt die Gauleitung vom ehemaligen Haus der Vaterländischen Front, Am Hof 4, ins Haus am Ring, der nun „Josef-Bürckel-Ring“ heißt.

Im Gauhaus ist auch das „Gauarchiv“ untergebracht, das mit Ausstellungen in den Dienst der Propaganda tritt. So stellen die Mitarbeiter des Archivs die Ausstellung „Kampf um Wien“ zusammen, die den Aufstieg der NSDAP und die „Machtübernahme“ dokumentiert. Eröffnet wird die Schau zur 15-Jahr-Feier der „NSDAP-Hitlerbewegung“ in Österreich am 26. April 1941 im Wiener Messepalast, der Besuch ist überraschend gut: Nach wenigen Wochen sind es über 100.000. Ein prJahr später, 1942, widmet sich das Gauarchiv dem Porträt des deutschnationalen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer, der von Hitler mehrmals als Vorbild und Ideengeber gewürdigt wird. Um die Ausstellung überzeugend zu gestalten, betreibt man einiges an Aufwand: Originaldokumente und Objekte sollen die Leser neugierig machen – das Kalkül zielt auf die propagandistische Wirkung.

Am 8. April 1945 stattet Ralf Roland Ringler, in der „Schlacht um Wien“ Führer einer HJ-Volkssturmkompanie, dem „Gauhaus“, inzwischen zur Geisterstätte geworden, einen letzten Besuch ab: „Die Helden der Partei, der SA und der Gauleitung sind restlos ausgeflogen, verdreckt und still sind die Wandelgänge. Aus Mißmut schieße ich mit meiner MP eine Salve durch die Halle und rufe: ‚He, die Russen sind hier! Und wo seid ihr?‘ Aber das ist nur eine innere Befreiung, ist nur ein Gag mit einem einzigen Beteiligten. Kein Mensch nimmt von mir und den Schüssen Notiz.“ (Zitiert nach Ralf Roland Ringler, Illusion einer Jugend)

HITLER AUF DER HOHEN WARTE: DIE SCHIRACH-VILLA · HOHE WARTE 52


Im August 1940 zieht Baldur von Schirach (1907 – 1974) als neuer Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien ein, das ursprünglich für den Transportunternehmer Gottfried Schenker erbaute „Landhaus“ Hohe Warte 52 wird für ihn und seine Familie zur privaten Residenz. Der Sohn einer Amerikanerin und eines preußischen Rittmeisters ist ein treuer Gefolgsmann Hitlers, angeblich kann er Mein Kampf auswendig rezitieren. Der „Führer“ ist Trauzeuge bei Schirachs Hochzeit mit Henriette Hoffmann, der Tochter des Hitler-Fotografen Heinrich Hoffmann, und lange Zeit so etwas wie der „gute Onkel“ der Familie Schirach. 1933 ernennt Hitler seinen jungen Adepten, der selbst ungemein heroisch-pathetische Gedichte schreibt, zum...

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