1DAS NOWITZKI-PHÄNOMEN
Dirk Nowitzki ist eine Anomalie. In der NBA, im Basketball, im Sport im Allgemeinen. In spielerischer Hinsicht natürlich, worum es in diesem Buch ausführlich gehen wird. Aber nicht nur darin.
Es gibt kaum Sportler, die universell nicht nur respektiert, sondern auch gemocht werden. Einerlei, wie gut LeBron James, Kobe Bryant, Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo in ihren Feldern sind, sie alle haben leidenschaftliche Fans, die sie fast bis auf den Tod verteidigen würden, aber auch „Hater“, gegen die sie sich verteidigen „müssen“. Erfolg bringt fast immer auch Missgunst mit sich, gerade in Zeiten, in denen über die sozialen Medien jeder eine mehr oder weniger laute Stimme haben kann. Roger Federer ist noch jemand, gegen den nahezu niemand etwas sagen kann, auch der Schweizer ist aber ein Ausnahmefall, zudem in einem Einzelsport. Beispielhaft ist er nicht, bei den allermeisten Sportlern gibt es sportlich oder charakterlich etwas, worauf sich zumindest einige Leute einschießen. Es spielt keine Rolle, wie viel Erfolg sie haben – siehe etwa die deutschen Fußballweltmeister von 2014.
Deutschland hat ohnehin einen etwas eigenen Umgang mit seinen Sportlern. Boris Becker oder Lothar Matthäus hätten in den meisten Nationen dieser Welt wohl auf Lebenszeit Narrenfreiheit für das, was sie auf dem Feld erreicht haben, in Deutschland ist ihr Bild bei vielen Menschen nicht einmal positiv. Gerade die jüngeren Generationen kennen sie aus den Schlagzeilen als Schaumschläger und nicht besonders clevere Zeitgenossen. Nicht, dass sie nicht selbst ihren Beitrag dazu geleistet hätten; trotzdem ist das ein Phänomen, das man längst nicht überall beobachten kann. Geschützt werden Sportler in Deutschland nicht, jede Angriffsfläche wird im Normalfall sofort genutzt, auch von vielen Medien.
Vermutlich ist es eine von Dirks größten Errungenschaften, dass er von diesem Phänomen nahezu ausgeschlossen ist. Seine einzigen „Kontroversen“, als er auf die Betrügerin Christal Taylor hereinfiel und als sein Mentor Holger Geschwindner mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung mal einige Wochen in Untersuchungshaft verbrachte, waren einerseits nicht seine Schuld und liegen andererseits so lange zurück, dass man sie heute kaum noch auf dem Schirm hat – Nowitzki ist einer der beliebtesten Sportler nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Es gibt eine ganze Reihe von Sportstars, die ihn als großes Vorbild bezeichnen, die Sportart ist in dem Fall nebensächlich. Toni Kroos (Real Madrid) etwa bezeichnet sich selbst als „größten Fan“ Nowitzkis.
Nowitzki lebt gewissermaßen genau die Qualitäten vor, die jeder Sportler gerne sein Eigen nennen würde: sportliche Exzellenz, Loyalität und fast beispiellose Bescheidenheit. Kaum jemand versteht es so gut wie er, sich über sich selbst lustig zu machen, ohne einen Hehl daraus zu machen, wie groß der Ehrgeiz trotzdem ist. Fast niemand hat individuell so viel erreicht, ohne sich für individuelle Errungenschaften zu interessieren. Für Nowitzki stand nie die Vermarktung seines Namens oder die „Brand“ im Vordergrund, die im Sport heute so oft heraufbeschworen wird. Er kam immer wie der normale Typ rüber, der eine bestimmte Sache besser beherrscht als fast jeder andere und trotzdem weiß, dass er einer von vielen ist. Ein Typ, den man einerseits bewundert und mit dem man es sich andererseits gut vorstellen kann, bei einem Bier über Dinge zu reden, die mit Basketball überhaupt nichts zu tun haben.
Nowitzki hat im Lauf seiner Karriere unglaubliche Höhen, aber auch unglaubliche Tiefen erlebt. Sein Weg war keineswegs so vorgezeichnet, wie es nach über 20 Saisons in der besten Liga der Welt erscheint – es gab Momente, in denen er Dallas verlassen und nach Hause zurückkehren wollte, es gab später in seiner Karriere diverse Momente, in denen die allermeisten Spieler ihr Team definitiv verlassen hätten, um anderswo eine bessere Chance auf Titel zu haben. Die Tatsache jedoch, dass er immer bei den Mavs geblieben ist und 2011 bei diesem Team den Titel holte, ausgerechnet gegen LeBron James, der zu diesem Zeitpunkt fast genau das Gegenteil von Nowitzki verkörperte, hat diesen endgültig unsterblich gemacht. Es gibt in der Geschichte der NBA nur wenige Spieler, die so fest mit einer Franchise verbunden sind, die diese zu 100 % verkörpern – Nowitzki hat die Mavs erst zu einer legitimen Organisation gemacht. Seine Beliebtheit in Dallas ist so enorm, dass er bei der nächsten Bürgermeisterwahl vermutlich einstimmig gewählt werden würde. Und dabei geht seine Wirkung noch weit über die Grenzen von Texas hinaus.
Nowitzki hat die NBA revolutioniert; auf dem Court als werfender, vom Flügel aus dominierender Big Man, eine Jobbeschreibung, die es so vor ihm nicht gab. Und neben dem Court als Türöffner für den Rest der Welt – Nowitzki ist eins der Gesichter der immer stärker werdenden Globalisierung der Sportart Basketball. Er hat mehr Klischees aus dem Weg geräumt als fast jeder andere und unter anderem gezeigt, dass Spieler von außerhalb der USA keineswegs weich sein müssen. Er war der erste europäische MVP der Liga und nach Tony Parker der zweite europäische Finals-MVP, er hat (Stand Februar 2019) die siebtmeisten Punkte in der Geschichte der NBA erzielt. Sein einbeiniger Fade-Away gehört zu den ikonischen Bewegungen der NBA, vergleichbar mit dem Sky-Hook von Kareem Abdul-Jabbar und dem Fade-Away von Michael Jordan. Kaum ein Move wurde häufiger kopiert, kaum ein Wurf war jemals so effektiv und tödlich, zumal er auf physischen Berechnungen basiert: Wenn Dirk wollte, könnte er damit auch als 50-Jähriger noch punkten. Wie soll man jemanden blocken, der 2,13 m groß ist und den Ball dann auch noch in einer perfekten, hohen Flugkurve loswerden kann? An diesem Rätsel verzweifeln NBA-Verteidiger seit einer halben Ewigkeit.
Apropos Ewigkeit. Nowitzki bestritt in der Saison 2018/19 seine 21. Saison bei den Mavs, so viele hat noch kein NBA-Spieler bei einem Team absolviert. Schon lange sucht man für ihn beziehungsweise für seine Karriere vergeblich nach Parallelen, dieser weitere Meilenstein zementiert seinen Status sogar noch mehr. Mittlerweile steht Nowitzki regelmäßig mit Spielern auf dem Court, die noch gar nicht auf der Welt waren, als er in der NBA debütierte – und trotzdem strahlt er noch immer eine fast schon kindliche Begeisterung für den Sport aus. Vielleicht ist es das, was den Sportler Nowitzki am besten beschreibt: In den letzten Jahren seiner Karriere hatte man als Zuschauer manchmal den Eindruck, dass man bei seinen Sprints jedes einzelne Gelenk laut knacken hören konnte, und trotzdem wirkte das Spielen bei ihm nie wie eine Qual, sondern wie ein Privileg. Schon als 30-Jähriger hatte er gesagt, dass er aufhören würde, sobald sich das Ganze wie Arbeit anfühlt – ausgesorgt hatte er da natürlich schon lange. Aber auch mit 40 Jahren überstrahlte noch immer der Spaß am Spiel und am Zusammenhalt im Team die Energie, die Nowitzki in Rehas oder in die Instandhaltung seines Körpers investieren musste. Auch deshalb gibt es in der Liga kaum einen Spieler, dem in fast jeder Halle so viele Sympathien zufliegen wie ihm.
Gewissermaßen ist er dabei im Rampenlicht erwachsen geworden. Er war als junger Mann nicht wirklich überzeugt vom Umzug nach Dallas, nachdem er bis dahin nur die Heimat Würzburg gekannt hatte. Seine Skepsis bestätigte sich in der ersten Saison, während und nach der er eigentlich die Zelte abbrechen und zurück nach Deutschland fliehen wollte. Es brauchte Zeit und Zuspruch seines Coachs Don Nelson, doch mit der Zeit etablierte sich Nowitzki, wurde zum Star, zum MVP, zum Revolutionär und dann spätestens 2011 zu einem universell respektierten und gefeierten Superstar, zu einem der Gesichter der Liga. Im letzten Abschnitt seiner Karriere kam dann noch ein weiterer Aspekt hinzu: Mittlerweile ist Dirk, der einst als „Fremder“ in die Liga kam, eine Art Elder Statesman in der NBA. Diverse junge Spieler blicken zu Nowitzki, der lebenden Legende, auf und suchen seinen Rat, den er bereitwillig anbietet.
Nowitzki hat bei allem Erfolg nie die Bodenhaftung verloren oder vergessen, wo er herkommt. Auch er hat sicherlich seine Eigenheiten, er hat sich jedoch nie als Person gesehen, die wichtiger ist als andere, weder im Teamgefüge noch in der Gesellschaft. Die Plattform, die er gemäß seiner Prominenz hatte und hat, nutzt er natürlich, in erster Linie aber für wohltätige Zwecke in Texas und in Deutschland. Als Werbefigur ist er über die Jahre nur sehr begrenzt aufgetreten, obwohl sein Potenzial hier aufgrund seiner Beliebtheit für noch wesentlich mehr Einnahmen hätte sorgen können.
Im Kern ist sich Nowitzki einfach immer treu geblieben: Er ist tatsächlich ein normaler Typ, der eine bestimmte Sache besser beherrscht als fast jeder andere. Und der damit eine Karriere hingelegt hat, die auf diese Art und Weise niemals zu replizieren sein wird.
1.1URSPRÜNGE IN WÜRZBURG
Nowitzki kommt aus einer durch und durch sportverrückten Familie. Seine Mutter Helga...