Alternative 1
Beate
Als ich die Tür öffne, gucke ich meiner Mutter ins Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt. Lächelnd reicht sie mir eine Gratinform, die bis oben gefüllt ist mit buntem, knackigem Gemüse, kleinen Butterflocken und frisch geriebenem Käse. Das Ding könnte glatt in einem Kochbuch abgebildet werden, ohne dass man Photoshop bemühen müsste.
»Für euch«, sagt sie und blickt demonstrativ über meine Schulter zum gesprenkelten Herd, auf den gerade zischend das überlaufende Nudelwasser fließt. So was macht sie ständig. Ich könnte sie ohrfeigen. Doch schon merke ich, wie sich mein Gesicht zum Brave-Tochter-Lächeln verzieht und meine Hand sich in einer dankbar anmutenden Bewegung ausstrecken will, um ein Abendessen in Empfang zu nehmen, das ich nicht geplant hatte und worauf ich keine Lust habe. Heute Abend ist – wie jeden Dienstag – Pizza an der Reihe, und das weiß Mama genau. Nur hält sie Pizza für ungesunden Italienerfraß. »Deshalb sind die alle klein und dick«, pflegt sie zu sagen. Ich frage mich, was die Körpergröße mit der Ernährung zu tun hat. Aber selbst diesen Schwachsinn habe ich stets unwidersprochen gelassen. Ganz zu schweigen von ihren Vorwürfen, ich sei für das Scheitern meiner Ehe allein verantwortlich. Mein Verhalten Konrad gegenüber sei unsäglich, hat sie erst kürzlich gesagt, er habe es doch immer gut mit mir gemeint. Und als wäre das noch nicht genug, unterstellte sie mir doch tatsächlich, ich würde bei meinem Egotrip kein einziges Mal an die Kinder denken. Wo ich mich seit Sammys Geburt um nichts anderes als unseren Nachwuchs kümmere.
Als ich an dieses Telefongespräch vor ein paar Tagen denke, werde ich so wütend, dass ich plötzlich die Kraft finde, zu sagen: »Genug.«
»Was genug?«, fragt sie und beobachtet verblüfft, wie ich meine bereits ausgestreckte Hand wieder zurückziehe.
»Genug, dass du hier unangemeldet aufkreuzt, um zu überwachen, ob ich meinen Haushalt richtig führe. Genug, dass du mir vorschreiben willst, was ich meiner Familie zum Abendessen serviere. Genug, dass du dich in meine Eheprobleme einmischst. Genug, dass du dich in mein Leben einmischst!« Den letzten Satz hätte ich geschrien, wenn ich nicht im letzten Moment noch an Clea gedacht hätte, die hinter mir am Malen ist.
Ich gucke meine Mutter herausfordernd an. Sie guckt erschrocken zurück. Sie kapiert es nicht, denke ich. Seufzend trete ich einen Schritt zur Seite und lasse sie herein. Mir wird klar, dass ich die Sache, die ich angefangen habe, nun auch zu Ende bringen muss.
Nachdem ich die verkochten Nudeln weggekippt und das Gratin in den Ofen geschoben habe, bitte ich Clea fernzusehen, bis das Gratin gar ist. Das muss ich ihr nicht zweimal sagen.
Ich setze mich zu meiner Mutter an den Küchentisch und drehe gedankenverloren die Zeichnung zu mir, die Clea ihrer Großmutter geschenkt hat.
»Blume auf Hügel«, sagt meine Mutter erklärend. Ein hilfloser Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Blume auf Scheißhaufen«, antworte ich halb grimmig, halb belustigt und weiß, dass sie gleich verschämt lachen wird. Meine Mutter hat schmutzige Wörter immer heimlich gemocht, doch ihre Erziehung hat ihr verboten, sie zu benutzen. Ich blinzle ihr zu und sie lässt ihr leises, hohes Kichern hören.
Leider währt der Frieden nicht lange. Noch während ich mit dem Zeigefinger die Konturen der Blume nachzeichne, die auf dem Hügel steht, der farblich und der Form nach tatsächlich eher einem Scheißhaufen gleicht, sagt sie: »Schätzchen, ich wünsche mir doch nur, dass es dir gut geht.«
»Es geht mir nicht gut, wenn ich mit Konrad zusammenbleibe«, antworte ich.
»Aber warum denn nicht? Er tut doch alles für euch, bringt genug Geld nach Hause, ermöglicht euch …«
»Mama!«, unterbreche ich sie laut und vorwurfsvoll. »Willst du mir jetzt schon wieder sagen, dass ich alleine schuld an dieser Misere bin?«
Erschrocken hält sie inne und schaut mich an.
»Aber … was tut er denn so Schreckliches?«, fragt sie fast schüchtern.
»Verstehst du denn nicht? Ich möchte endlich das Gefühl haben, selber entscheiden zu können, wo mein Leben hinführt, wie ich es lebe und was ich für richtig halte.
Auch für die Kinder. Ich bin zum Beispiel nach wie vor davon überzeugt, dass Clea eingeschult werden sollte. Aber du wolltest es mir ausreden, genau wie früher. Nur weil du vermeiden wolltest, dass ich mit Konrad streite. Warum unterstützt du mich nie in meinen Entscheidungen?«
Mama schaut mich betroffen an.
»Ach, ich habe alles falsch gemacht«, sagt sie weinerlich.
Ich möchte die Augen verdrehen. Es ist so typisch. Wenn sie mir mal keine Vorwürfe macht, dann versinkt sie im Selbstmitleid.
Sie holt tief Luft und fährt leise fort: »Dabei wollte ich bei dir alles anders machen.«
»Was wolltest du anders machen?«, frage ich und kann die Gereiztheit in meiner Stimme kaum verbergen. Was will sie mir erzählen, was ich nicht schon wüsste?
Sie schaut mich an, als hätte sie meine Gedanken gelesen und sagt: »Macht es dir nichts aus, wenn ich dir erzähle, wie es früher bei mir war?«
Ich schüttle ergeben den Kopf.
»Meine Eltern führten damals ein Hotel. Sie waren tolle Gastgeber, charmant, freundlich, immer zu Späßen aufgelegt. Für mich hatten sie aber nie Zeit. Zum Beispiel erwarteten sie schon früh von mir, dass ich mich alleine bettfertig machte und schlafen ging. Ich wollte Floristin werden. Doch wann immer ich das meinen Eltern klarmachen wollte, wurde mein Vater wütend: ›Ich habe mich doch nicht mein ganzes Leben lang im Hotel abgeschuftet, damit meine Tochter ihre Chance mit Füßen tritt‹, sagte er immer. Ich gab nach und begann als Serviertochter im Betrieb zu arbeiten – unter den wachsamen Augen meiner Eltern, denen ich nie gut genug war, finanziell abhängig, ohne Perspektive auf ein anderes Leben. Dann tauchte dein Vater auf. Und ich stürzte mich in die Ehe, als wäre diese ein angemessener Ersatz für die Floristinnenlehre, die ich mir so ersehnt hatte.«
Meine Mutter seufzt, als sie nichts mehr zu erzählen weiß. Und ich bin verblüfft. Mir war nicht klar gewesen, wie einsam sie als Kind gewesen war. Für mich hatten meine Großeltern Unmengen Zeit gehabt. Mir haben sie Gutenachtgeschichten vorgelesen. Zwar wusste ich bereits, dass sie gerne Floristin geworden wäre, jedoch nicht, dass ihr Vater sie dermaßen vehement davon abhielt.
»Ich verstehe bloß nicht, warum hast du nach allem, was du erlebt hast, mich genauso wenig in meinen eigenen Entscheidungen unterstützt?«, sage ich leise. »Immer wolltest du, dass ich auf Nummer sicher gehe. Ich hätte so gern mal etwas Mutiges gemacht. Mein Traum war, Goldschmiedin zu werden. Und deinetwegen wurde ich Floristin.«
Meine Mutter wischt sich eine Träne weg. »Und ich hab mir geschworen, es mit meinem Kind besser zu machen, immer für dich da zu sein, dich nicht so allein zu lassen«, erklärt sie mit dünner Stimme. »Das wird in Zukunft alles anders. Ich verspreche dir, deine Bedürfnisse ernst zu nehmen, auch dann, wenn ich nicht auf den ersten Blick damit einverstanden bin.«
Als sie sich nach dem Mittagessen verabschiedet, weiß ich, dass ich jetzt eine Verbündete habe.
Kommentar
Beate beginnt, die nie stattgefundene Ablösung von ihren Eltern zu vollziehen. Sie kann der Mutter klarmachen, dass sie unabhängig von ihr leben kann und wichtige Entscheidungen eigenständig treffen will. Die Mutter erkennt daraufhin die tiefer liegenden Gründe für Beates Wunsch, sich von Konrad zu trennen, und nimmt sich vor, sie in Zukunft zu unterstützen. Gleichzeitig gibt sie es auf, die Ehe ihrer Tochter retten zu wollen, ein Bemühen, das Beate sowieso nur als Parteinahme für Konrad verstanden hat.
Natürlich ist diese erste Annäherung nur der Anfang eines längeren Prozesses, der aber letztlich dazu führen wird, dass die Mutter ihrer Tochter zutraut, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein solcher Prozess kann Wochen oder Monate dauern, wird aber gelingen, weil...