II. Wähler, Wahlsystem und Wahlverhalten
1. Wählerschaft
Deutschlands Wählerschaft spiegelt die Strukturen einer wohlhabenden Industrie-, Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wider, die auf einer Marktwirtschaft und einem weit ausgebauten Sozial- und Daseinsvorsorgestaat basiert. Zu den Wahlberechtigten gehören zu etwa gleichen Teilen Männer und Frauen. Der Wählerschaft ist die fortgeschrittene Alterung der Bevölkerung anzumerken: Allein die mindestens 60-Jährigen stellen derzeit rund ein Drittel der Wähler. Noch ist die Mehrheit der Wähler berufstätig. Doch die Alterung wird die Gewichte weiter verschieben und insbesondere den Wähleranteil der Altersrentner erhöhen. Der Klassenstruktur nach zu urteilen wird das Geschehen auf dem Wählerstimmenmarkt fast vollständig von «Erwerbsklassen» (Max Weber) und «Versorgungsklassen» (Rainer Lepsius) bestimmt, also von sozialen Klassen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich aus der Verwertung von Qualifikationen bzw. aus staatlichen Leistungen finanzieren. Die «Besitzklassen» (Max Weber), also diejenigen sozialen Klassen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Einkünften aus Vermögen bestreiten, spielen zahlenmäßig nur noch eine Statistenrolle. Auch die Erwerbsklassen haben sich gewandelt: Nach Berufsgruppen stellen die Angestellten mittlerweile die stärksten Bataillone unter den Wählern, gefolgt von den Arbeitern, die noch in den 1950er Jahren die größte Berufsgruppe in der Wählerschaft bildeten. An dritter Stelle kommen die Selbständigen, an vierter die Beamten. Gewerkschaftlich organisierte Wähler treten dank ihrer schlagkräftigen und lautstarken Organisationen bei Wahlen hörbar in Erscheinung, doch sie waren mit 12 Prozent (2014) eine Minderheit der Wähler. Der Bildungsstand der Wähler reflektiert Strukturen einer Wissensgesellschaft. Gewiss: Es dominieren Wähler mit mittlerer Reife (rund ein Drittel der aktiven Wähler) und Hauptschüler (rund 20 Prozent), doch 42 Prozent der Wähler sind Hochschulabsolventen oder haben Hochschulreife.
Religiöse und konfessionelle Trennlinien spielen nach wie vor eine bedeutende Rolle im Wählerverhalten. Religion und Konfession teilen die Wählerschaft im wiedervereinigten Deutschland in drei etwa gleich große Teile und einen vierten kleinen Teil. Knapp ein Drittel der Wähler ist römisch-katholischer Konfession, ein Drittel protestantisch, 31 Prozent sind konfessionslos, und 4 Prozent gehören anderen Konfessionen an. Und von den rund 4½ Millionen Muslimen in Deutschland sind derzeit schätzungsweise eine Million wahlberechtigt. Ihr Wähleranteil wird bei zunehmender Einbürgerung von Migranten aus muslimischen Ländern zunehmen.
2. Wahlsystem
In Deutschland wird nach dem personalisierten Verhältniswahlsystem gewählt. Die Wählerstimmen werden bei Bundestags- und Landtagswahlen nach dem Prinzip der proportionalen Repräsentation in Parlamentsmandate umgerechnet – im Unterschied zum Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien, Frankreich oder bei der Auszählung der Wahlmännerstimmen bei US-Präsidentschaftswahlen. Die Verhältniswahl zielt vor allem auf die angemessene Vertretung der kandidierenden Personen oder Parteien entsprechend ihrer Stimmenanteile. Die Mehrheitswahl hingegen soll vor allem handlungsfähige Mehrheiten hervorbringen. Hierfür nimmt sie erhebliche Unterschiede zwischen Stimmen- und Mandatsverteilung in Kauf. Bei der US-Präsidentschaftswahl vom 8. November 2016 beispielsweise gewann der Wahlsieger – der Republikaner Donald Trump – 46,1 Prozent der Wählerstimmen, während die unterlegene Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, mit 48,2 Prozent die Mehrheit der Wähler auf ihre Seite gezogen hatte. Den Ausschlag aber gab die Verteilung der Wahlmännerstimmen: Trump erhielt dank des Mehrheitswahlrechts 304 Wahlmännerstimmen, Clinton hingegen nur 227.
Bei Bundestagswahlen kommt die Verhältniswahl mit einer personalisierten Komponente und einer Fünf-Prozent-Sperrklausel zum Zuge. Bei der Umrechnung von Stimmen in Abgeordnetensitze werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der Stimmen oder drei Direktmandate gewannen. Die Sperrklausel wirkt – wie beabsichtigt – als Barriere gegen kleine Parteien. Personalisiert ist die Verhältniswahl, weil die Wähler mit ihrer Erststimme darüber entscheiden, welcher Kandidat in den Bundestag einzieht.
Nicht nur die Unterscheidung zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl ist wichtig, sondern auch die Größe der Wahlkreise. Bei Bundestagswahlen sind Einerwahlkreise vorgeschrieben, in denen nach dem Prinzip der relativen Mehrheit gewählt wird, im Unterschied zum Mehrmannwahlkreis, in dem die Mehrheits- oder die Verhältniswahl stattfinden kann.[9] Ferner schreibt das Wahlrecht für Bundestagswahlen die Einzelkandidatur und die starre Liste vor, in der die Kandidaten auf Listen mit Wahlvorschlägen platziert sind. Diese Listen werden von den politischen Parteien beherrscht, was Kritiker des «Parteienstaates» beanstanden.
Seit 1953 haben die Wähler bei Bundestagswahlen zwei Stimmen. Ihre Erststimme entscheidet per relativer Mehrheit darüber, welcher Abgeordnete den Wahlkreis im Bundestag vertritt. Mit der Zweitstimme werden die Parteien gewählt. Mit der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Reform des Bundeswahlgesetzes von 2013 wurde die Umrechnung der Wählerstimmen in Abgeordnetensitze novelliert. Anhand der deutschen Bevölkerung wird festgelegt, wie viele Sitze jedem Bundesland zustehen. Dieses Sitzkontingent wird gemäß den Zweitstimmen der Landeslisten auf die Landeslisten der Parteien verteilt. Hieraus wird für jede Partei die bundesweite Mindestsitzzahl errechnet. Der höhere Wert einer jeden Landesliste zählt: die nach Zweitstimmen errechnete Sitzzahl oder die Anzahl der gewonnenen Wahlkreise. Sodann wird die Gesamtzahl der Bundestagssitze ermittelt, und zwar so, dass jede Partei pro Sitz in etwa die gleiche Anzahl Stimmen benötigt. Schließlich werden die Mandate auf die Landeslisten der Parteien verteilt, und zwar proportional zu den Zweitstimmen, wobei die Anzahl der gewonnenen Direktmandate als Minimum dient. Diese Reform verminderte die bis dahin bestehende Gefahr, dass sogenannte Überhangmandate über Sieg und Niederlage entscheiden konnten. Bestehen bleibt aber die Abweichung von der reinen Verhältniswahl, die durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel zustande kommt.
Wie ist Deutschland mit seinem personalisierten Verhältniswahlrecht mit Sperrklausel gefahren? Passabel, urteilen die meisten Fachleute. Die Zeiten des erbitterten Streits zwischen Befürwortern des Mehrheitswahlrechts nach britischer Art und Anhängern der Verhältniswahl sind vorüber. Das erfreut verständlicherweise Parteien, denen die Verhältniswahl besonders gut bekommt: die kleineren Parteien wie FDP, Grüne und die Linkspartei. Doch ein Problem der Verhältniswahl bleibt: Die Wähler wählen Abgeordnete, aber nicht die Regierung. Denn die Regierungsbildung ist – solange keine Partei die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewinnt – eine Sache von Koalitionsverhandlungen. Doch diese werden von den Parteien der gewählten Abgeordneten geführt – nicht von den Wählern.
Das Wahlsystem für Bundestagswahlen kann ohne großen verfassungspolitischen Aufwand geändert werden. Die Verfassung schreibt nur vor, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt werden. Ferner legt sie das Wahlalter fest. Alles Weitere ist einem Bundesgesetz überlassen, das von der Mehrheit des Bundestages beschlossen wird und von ihr geändert werden kann – und zwar ohne Vetochance der Opposition und des Bundesrates. Rein theoretisch könnte also die Bundestagsmehrheit an die Stelle des Verhältniswahlrechts ein Mehrheitswahlrecht setzen – mit der wahrscheinlichen Konsequenz, dass die kleineren Parteien nicht mehr ins Parlament kämen und dort nur die Unionsparteien und die SPD übrig blieben. Weil aber die kleinen Parteien aus Selbsterhaltungsinteresse nie für ein Mehrheitswahlsystem stimmen würden, käme für eine entsprechende Wahlsystemänderung nur der Konsens der großen Parteien in Frage. Eine solche Lage war das letzte Mal in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Sicht – bis sich die SPD darauf besann, dass die Mehrheitswahl sie womöglich dauerhaft in die Opposition führen würde. Tatsächlich ist die SPD nur in drei Bundestagswahlen die stärkste Partei geworden: 1972, 1998 und mit hauchdünner Mehrheit 2002.
3. Wahlbeteiligung
Wie in vielen Demokratien sinkt die Wahlbeteiligung auch in Deutschland der Tendenz nach. Hierzulande zeigt demnach der Anteil der Nichtwähler, das Fieberthermometer der Demokratie, schon höhere Temperaturen an. Bei der Bundestagswahl 2017 betrug der Anteil der Nichtwähler 23,8 Prozent – 1972 noch waren es gerade einmal 8,9 Prozent. Gewiss: Im internationalen Vergleich ist die Wahlbeteiligung in Deutschland überdurchschnittlich hoch und der Nichtwähleranteil insoweit...