Das Puzzle einer 7000 Jahre alten Zivilisation
Die Vorstellung, dass die griechische Zivilisation als erste europäische Hochkultur Licht ins Dunkel der Vorgeschichte gebracht hätte, ist bis heute weit verbreitet. Demnach verdanken wir den Griechen die Grundlagen unserer modernen Welt. Selten wird hinterfragt, ob denn die griechische Zivilisation tatsächlich so originell war, wie wir dies in unserem Schulwissen tradieren. Das vorliegende Buch will dem Leser eine europäische Zivilisation erschließen, die viel älter als die griechische ist und die durch die Forschung in den letzten zwanzig Jahren immer klarere Konturen angenommen hat: Die Donauzivilisation, deren Anfänge im Neolithikum liegen und die ihre Blüte in der Kupferzeit erlebte, hat mit ihren Errungenschaften die Voraussetzungen für den rasanten Aufstieg der griechischen Kultur im ersten Jahrtausend v. Chr. geschaffen.
«Im 5. und frühen 4. Jahrtausend v. Chr. (…) hatten die Alteuropäer Städte mit einer beachtlichen Konzentration an Einwohnern, Tempel, die mehrere Stockwerke hoch waren, eine Sakralschrift, geräumige Häuser mit vier oder fünf Räumen, professionelle Töpfer, Weber, Kupfer- und Goldschmiede und andere Kunsthandwerker, die eine breite Palette hochentwickelter Güter produzierten» (Gimbutas 1991: viii).
Vor zwanzig Jahren war der Begriff «Alteuropa» (Old Europe) in der Regel nur Experten vertraut und die fortschrittliche Kultur der vorgriechischen Bevölkerung war nur schemenhaft bekannt. Vieles von dem, was die amerikanisch-litauische Archäologin Marija Gimbutas (1921–1994) für ihr Mosaik von Alteuropa rekonstruiert hatte, war hypothetisch. Seither hat sich viel getan. Die politischen Umbrüche in Ost- und Südosteuropa nach 1989 haben einen Aufschwung der Forschung und des Kulturschaffens in den neuen unabhängigen Staaten bewirkt und als Folge davon auch eine Intensivierung der Grabungstätigkeit, und zwar sowohl in Südosteuropa als auch in der Ukraine, wo wichtige Fundstätten Alteuropas liegen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Materialbasis erheblich erweitert, und die neueren Erkenntnisse lassen keinen Zweifel an der Qualität der vorgriechischen Kulturstufe als der einer Hochkultur. «Zu seiner Blütezeit, um 5000–3500 v. Chr., entfaltete Alteuropa viele der politischen, technologischen und weltanschaulichen Merkmale, durch die sich eine ‹Zivilisation› auszeichnet» (Anthony 2009 a: 29). Was wir gestern noch der Vorgeschichte zurechneten, gehört tatsächlich der geschichtlichen Periode an.
Die Anfänge des kulturellen Aufschwungs in Alteuropa liegen in einer Periode ökologischer Umwälzungen. Die Hypothese von einer Großen Flut, in der die Wassermassen des Mittelmeers die bis dahin bestehende Landbrücke am Bosporus durchbrachen, ist heute gut gefestigt. Es ist davon auszugehen, dass über diese Landverbindung Menschen aus Anatolien nach Westen migrierten, die bereits Ackerbau und Viehhaltung kannten. Als Folge der Flut entstand um 6700 v. Chr. das Schwarze Meer, die Küstenlandschaften verwandelten sich nachhaltig. Die drastische Veränderung der Lebensverhältnisse setzte einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf es zur Akkulturation der einheimischen (alteuropäischen) Bevölkerung an agrarische Lebensweisen kam, zu kleinräumigen Binnenmigrationen, zu sozioökonomischen Neuerungen und technologischen Innovationen. Dies ist der Prozess des Übergangs von der mittleren zur jüngeren Steinzeit in Europa. Der spätere Klimasturz um 6200 v. Chr. – inzwischen gut erforscht – wirkte sich zunächst hemmend auf die kulturelle Entwicklung aus, hatte aber langfristig deren Beschleunigung zur Folge.
In den letzten Jahren wurden eine Reihe von erstaunlichen Entdeckungen zum Leben der frühen Ackerbauern im Tal der Donau, ihrer Nebenflüsse und in den Einzugsgebieten der Wasserstraßen gemacht: Es gab hier bereits ein rudimentäres Schriftsystem, lange bevor die Schrift in Mesopotamien entstand; die Metallverarbeitung hatte einen Entwicklungsstand erreicht wie nirgendwo sonst in der damaligen Welt; die darstellende Kunst brachte erstaunliche Meisterwerke hervor; und es gab Großsiedlungen von städtischen Dimensionen. Wie die Alteuropäer ihre Städte nannten, wissen wir (noch) nicht, und die Namen der neuen Fundstätten wie Tallyanky oder Majdanec’ke südlich von Kiev klingen fremdartig. Aber inzwischen kennen wir deren Grundrisse und wissen, dass in diesen Siedlungen Tausende von Menschen lebten. Majdanec’ke hatte zwischen 5500 und 8000 Einwohnern. Einige dieser Großsiedlungen waren zwei- oder dreimal so groß wie die frühen Städte in Mesopotamien. Für diese Hochkultur habe ich vor einigen Jahren den Namen «Donauzivilisation» (Danube civilization) eingeführt. Inzwischen werden die Begriffe «Donauzivilisation» und «Alteuropa» meist synonym verwendet.
Es gibt bereits eine Fülle an neuerer spezieller Forschungsliteratur über Alteuropa auf Englisch (z.B. Marler 2008, Anthony 2009 b), Deutsch (z.B. Hansen 2007, Haarmann 2010 a), Russisch und Ukrainisch (z.B. Videjko 2003, Tkachuk 2005) und in den Balkansprachen (z.B. Kolištrkoska Nasteva 2005, C.-M. und Gh. Lazarovici 2006–2007, Nikolov 2007 b). Die New Yorker Ausstellung «The Lost World of Old Europe – The Danube Valley, 5000–3500 BC», die das Institute for the Study of the Ancient World (New York) organisiert hat und die bis April 2010 zu sehen war, hat erstmals eine umfassende Bilanz des neuen Wissensstands für ein größeres Publikum gezogen. Ein Buch, das die früheste Hochkultur Europas einer breiteren Leserschaft vorstellt, ist aber bisher ein Desiderat.
Die Dokumentation des Kulturniveaus, das die Alteuropäer erreichten, bietet so manche Überraschung und etliche Rekorde im weltweiten Vergleich:
– Die ältesten Großsiedlungen (megasettlements) von Stadtgröße – bedeutend größer als Çatalhöyük in Anatolien oder die ältesten Städte Mesopotamiens – entstehen in Alteuropa.
– Die ältesten, kontinuierlich bewohnten Orte in Europa sind nicht Städte wie Athen oder Rom, wo die frühesten Siedlungsspuren ins 2. Jahrtausend v. Chr. datieren; Larissa in Thessalien und Varna in Bulgarien sind mehr als doppelt so alt.
– Die Alteuropäer kennen bereits Einfamilienhäuser mit mehr als 100 qm Grundfläche.
– Die ersten zweigeschossigen Reihenhäuser der Welt werden in einigen der Großsiedlungen Alteuropas gebaut.
– Das Töpferrad, ein Vorläufer der Töpferscheibe, wird in Alteuropa entwickelt, erst später tritt diese technische Neuerung auch in Mesopotamien auf.
– Die ersten zylindrischen Rollsiegel der Welt werden in Alteuropa verwendet.
– Die ersten Brennöfen zur Herstellung hochwertiger Keramikprodukte, in denen die Temperaturen kontrolliert und reguliert werden konnten, werden in Alteuropa in Betrieb genommen.
– Die Technologie des Metallgusses (Verfahren zum Schmelzen von Kupfer) wird erstmals in Alteuropa angewandt, und zwar im ausgehenden 6. Jahrtausend v. Chr., und erst einige Jahrhunderte später auch in Anatolien.
– Die ältesten Artefakte aus Gold wurden in Alteuropa gefunden und in die Zeit um 4500 v. Chr. datiert (der Goldschatz von Varna).
– Die frühesten Notationssysteme mit konventionellem Zeichengebrauch werden in Alteuropa entwickelt; dies sind ein System zur Notation von Zahlen und ein Schriftsystem.
– Jahrtausende vor den Griechen wurde in Alteuropa Wein gekeltert und Olivenöl produziert; und lange vor den Griechen aßen die Alteuropäer Kirschen, Erbsen und Petersilie.
Weder die Minoer in Altkreta noch die mykenischen Griechen haben bei Null angefangen, als sie ihre Zivilisationen aufbauten, von den Griechen der klassischen Antike ganz zu schweigen. Sie alle haben auf die eine oder andere Weise von den Leistungen vorangegangener Generationen profitiert, deren Wissen nicht verloren ging, sondern aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Insbesondere die Griechen haben viele der alteuropäischen Errungenschaften mitsamt deren Namen übernommen.
Man mag nun einwenden, dass die Errungenschaften der Alteuropäer vielleicht gar nicht so exklusiv sind, denn schließlich wurden ihnen die sesshafte Lebensweise und das Know-how von Ackerbau und Viehhaltung von Anatolien herübergebracht. Die Alteuropäer, so könnte man meinen, haben einfach eine andere Lebensweise angenommen und ihre Gemeinwesen neu organisiert. Doch die Alteuropäer konnten die nahrungsproduzierenden Wirtschaftsform nicht einfach so, wie sie aus Anatolien vermittelt wurde, übernehmen, denn Europa gehört zu ganz anderen Klimazonen mit andersartiger Vegetation. Das erforderte erhebliche Anpassungsleistungen und ein zielgerichtetes Experimentieren mit der Domestizierung einheimischer Spezies, von Pflanzen wie von Tieren. Wenn auch die Idee des Ackerbaus von außerhalb nach Europa gelangte, verdankt der soziokulturelle Aufschwung, den Südosteuropa im 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. erlebt, seine Dynamik doch der Initiative, Flexibilität und Kreativität der einheimischen Bevölkerung. Zu diesem Kulturkomplex gehört...