Vorwort
Der Name Bonhoeffer ist mir zum ersten Mal begegnet, als ich 1948 die von dem Niederländer Willem Visser ’t Hooft herausgegebene kleine Schrift Das Zeugnis eines Boten geschenkt bekam. Ich war fasziniert davon, wie lebendig Bonhoeffer einem hier als Mensch vor Augen geführt wird. Trotzdem kam ich nicht darauf, meinen Vater nach Bonhoeffer zu fragen. Daß er ihn nicht nur gekannt, sondern auch einmal in einer «grünen Minna» neben ihm gesessen und sich angeregt mit ihm unterhalten hatte, als sie zusammen mit anderen Theologen in Martin Niemöllers Haus verhaftet worden waren, habe ich erst Jahre später erfahren. Bonhoeffer blieb für mich bis zum Ende meines Studiums ein Name aus der Zeit des Kirchenkampfes, den man respektvoll zusammen mit den Namen von Paul Schneider, Lutz Steil, Werner Sylten, Friedrich Weißler und Friedrich Justus Perels nannte, die ebenfalls als Pfarrer oder Mitarbeiter der Bekennenden Kirche in den Konzentrationslagern der SS ermordet worden waren.
1952 änderte sich das Bild von Bonhoeffer fast von einem Tag auf den anderen, als seine Gefängnisbriefe unter dem Titel Widerstand und Ergebung erschienen und das Gesprächsthema unter uns Jüngeren wurden. Die Generation vor uns war wohl nicht weniger fasziniert, aber fast alle älteren Theologen, die wir auf das Buch ansprachen, meinten, Bonhoeffers neue theologische Gedanken seien doch für eine Bewertung «zu fragmentarisch». Sie hatten im Kirchenkampf vieles so erlebt wie er, aber die letzte Phase seines Lebens, der Zweite Weltkrieg, war für sie etwas völlig anderes gewesen. Dadurch muß er ihnen auch als Theologe plötzlich anders und fremd erschienen sein.
Ich empfinde es bis heute als einen Glücksfall, daß ich 1954 als Pfarrer einer deutschen Gemeinde nach Bradford in Nordengland geschickt wurde, weil ich so Eberhard Bethge, den engen Freund und ersten Biographen Bonhoeffers, kennenlernte. Er war damals in London tätig, und trotz der relativ weiten Entfernung haben wir uns häufig gesehen. Es dauerte nicht lange, bis Eberhard und Renate Bethge mich in ihren Freundeskreis aufnahmen. So habe ich mitbekommen, wie Bethge die nachgelassenen Werke seines Freundes in mühsamer Arbeit entzifferte, um sie herausgeben zu können. Er saß wohl auch schon an den Vorarbeiten für die Biographie; aber jeder Theologe, der eine Arbeit über Bonhoeffer schreiben wollte, hatte bei ihm Vorrang. Er fotokopierte Texte für seine Besucher, beriet sie in langen Gesprächen, und viele wurden auch untergebracht und verpflegt. Die ersten Forscher, die über Bonhoeffer gearbeitet haben, haben ihn mit den Augen Eberhard Bethges sehen gelernt. Auch mir ging es so.
Das meiste, was wir bis heute über Bonhoeffer wissen, geht auf seine große Bonhoeffer-Biographie zurück, die 1967 erschienen ist. Alle späteren Biographien – auch die vorliegende – müssen darauf aufbauen. Da Bethge die entscheidenden Jahre an der Seite seines Freundes miterlebt hat, ist sein Werk eine der wichtigsten Quellen zum Leben Bonhoeffers. Daß es Bethge dennoch möglich war, die Distanz zu seinem «Gegenstand» zu gewinnen, die jeder Biograph haben muß, mag man um so mehr bewundern.
Eberhard Bethge hatte bereits bei Erscheinen der Biographie den Eindruck, sie sei mit ihren 1080 Seiten für die meisten Leser zu umfangreich. Er bat mich darum, eine Kurzfassung zu erarbeiten. Das habe ich dann auch mit Eifer betrieben, mußte die Arbeit aber abbrechen, als ich 1969 eine neue berufliche Aufgabe übernahm. Jetzt habe ich das Gefühl, mit dem vorliegenden Buch endlich eine Bitte des Mannes zu erfüllen, dessen Freundschaft mir so viel bedeutet hat. Allerdings würde eine Kurzfassung des Bethgeschen Werkes den Anforderungen an eine moderne Bonhoeffer-Biographie nicht mehr genügen. Bethge selbst hat 1983, im Vorwort zur fünften Auflage, die Frage gestellt, ob es nicht an der Zeit sei, «das 1967 fixierte Bild» zu überarbeiten. Die Frage ist seither weitaus dringlicher geworden.
Über Bonhoeffers Leben und Denken wissen wir heute mehr als vor einigen Jahrzehnten: Die Brautbriefe Zelle 92, die 1992 erschienen sind, erlauben es beispielsweise, die Verlobung Bonhoeffers mit Maria von Wedemeyer eingehender darzustellen, als es Bethge 1967 möglich war. Mindestens ebenso bedeutsam ist, daß wir seit der vollständigen Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Bonhoeffer und Bethge wissen, wie bescheiden Bethge jahrzehntelang hinter seinem Freunde zurückgetreten ist, während er für Bonhoeffer ein unentbehrlicher Dialogpartner war, der wichtigen Gedanken entweder zur Klarheit verholfen oder sie gar angeregt hat.
Die Zeit des Dritten Reiches war, als Bethge sein Buch schrieb, noch viel deutlicher im Bewußtsein der Deutschen als heute. Kirchliche Erfahrungen und Begriffe, die man inzwischen erklären muß, konnte Bethge noch als bekannt voraussetzen. Andererseits wissen wir heute viel mehr über das Dritte Reich und den Widerstand als zu Bethges Zeiten. Vor allem aber hat sich die Einschätzung des Widerstands fundamental gewandelt: Er wird nicht mehr argwöhnisch betrachtet, sondern überwiegend positiv bewertet. Die Gedenkfeiern zum 20. Juli, die es seit 1946 gab, waren selbst 1967 für viele Politiker noch eine Verlegenheit. Adenauer, der immer ein konsequenter Gegner Hitlers war, hat keine dieser Feiern besucht. Er wußte, wie unpopulär das gewesen wäre. Zwar dürften die wenigsten Deutschen während der Adenauerzeit Hitler nachgetrauert haben, aber kaum jemand wollte sich Fragen über seine NS-Vergangenheit aussetzen oder gar über das nachdenken, was man damals eigentlich hätte tun sollen. Bethge mußte Bonhoeffer daher noch gegen Verunglimpfungen in Schutz nehmen. Seine Biographie kann auch als eine Verteidigung des Widerständlers Bonhoeffer gelesen werden.
Heute dagegen genießt Bonhoeffer hohes Ansehen, nicht zuletzt deshalb, weil sein Widerstand gegen Hitler bereits vor 1933 eingesetzt hat. Der Vorwurf, den man dem nationalkonservativen Widerstand macht, er habe sich erst spät von Hitler abgewandt, trifft ihn so wenig wie seinen Schwager Hans von Dohnanyi oder die übrigen Glieder seiner Familie, wie er ja auch Helmuth von Moltke und Adam von Trott nicht trifft. Bonhoeffer bedarf keiner Verteidigung mehr.
In diesem an sich erfreulichen Wandel liegt auch eine Gefahr. Ein Mensch, dessen hundertster Geburtstag feierlich begangen wird und der vor sechzig Jahren als Märtyrer gestorben ist, kann leicht zum Gegenstand allgemeiner Verehrung werden – schon gar, wenn er ein Leben geführt hat wie Bonhoeffer und es von ihm ein Gedicht wie «Von guten Mächten» gibt. Aber Bonhoeffer wollte nicht verehrt, sondern gehört werden. Wer ihn einsam auf ein Podest stellt, entschärft das, was bis heute die Auseinandersetzung mit ihm lohnend macht.
Dazu gehört Bonhoeffers einzigartige Verknüpfung von Theologie und politischem Handeln, der in der Nachkriegszeit noch mit Mißtrauen begegnet wurde. So wurde etwa der evangelische Pfarrer Paul Schneider, der 1939 im KZ Buchenwald ermordet wurde, Bonhoeffer in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg häufig als «echter» Märtyrer gegenübergestellt, weil Bonhoeffer nicht als bekennender Christ, sondern als Verschwörer zusammen mit seinen Gefährten aus dem Widerstand «liquidiert» worden war. Den Befehl dazu hatte Hitler in seinem Hauptquartier während der «Mittagslage» am 5. April 1945 selbst erteilt. Ein christlicher Märtyrer ist Bonhoeffer dennoch, weil er in seine Rolle als Verschwörer nicht zufällig hineingeraten ist, sondern theologische Gedanken und Entscheidungen diesen Pfarrer der Bekennenden Kirche zum Mitglied der Widerstandsbewegung gemacht haben. Vorausgegangen waren bei ihm lange Zeit andere Formen des politischen Kampfes. Nicht zuletzt darum haben ihn sein Schwager Hans von Dohnanyi und General Oster zum Mitverschwörer gemacht.
Bonhoeffers Verhältnis zum Rassismus und Kolonialismus wurde in seiner Zeit kaum geteilt, war aber gerade deshalb zukunftsweisend. Vor 1933 hat er Erfahrungen mit einer Gemeinde von schwarzen Christen in den USA gemacht, die ihn in einer vom Rassismus bestimmten Umwelt als ihresgleichen akzeptierten. Er hoffte damals, nach Indien reisen zu können, um in diesem vom Kolonialismus geprägten Land von den dortigen Religionen zu lernen. Als er von Gandhi hörte, wurde dieser für ihn zum Inbegriff eines Lehrers, der gegen die Gefahren der Zeit aufgestanden ist. Nicht zuletzt weil Bonhoeffer den Rassismus und den Kolonialismus bereits im Blick hatte, hat er 1933 kurz nach der «Machtergreifung» den auf die Spitze getriebenen Antisemitismus als die kirchliche und politische Frage erkannt, an der sich Deutschlands Zukunft entscheiden würde.
Es ist diese zugleich nüchterne und engagierte Sicht, die Bonhoeffer für jeden interessant macht, der unabhängig von Tagesströmungen und -interessen den eigenen Blick für langfristige Entwicklungen schärfen möchte. Im September 1941 schrieb Bonhoeffer aus der Schweiz einen gerade aus heutiger Sicht erstaunlich hellsichtigen Brief an seinen amerikanischen Freund Paul Lehmann: «Die Entwicklung, von der wir glauben, daß sie in naher Zukunft unausweichlich eintreten wird, bedeutet – wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen – Weltherrschaft durch Amerika. … Auf...