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Das rote Jahrzehnt

Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977

AutorGerd Koenen
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783462306057
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Das 'rote Jahrzehnt' begann in der Bundesrepublik mit den Schüssen in Westberlin am 2. Juni 1967 und endete mit den Schüssen in Stammheim und der Ermordung Schleyers im 'deutschen Herbst' 1977. Das sind aber nur die Eckdaten einer bisher nicht zusammenhängend beschriebenen Generationsgeschichte. Ein erhebliches Segment der ersten Nachkriegs-Generation hat über Jahre hinweg in einer geschlossenen Sphäre von 'revolutionärer Politik' gelebt. Wer zählt die Völker, nenn die Namen all der maoistischen, syndikalistischen Gruppen, die die Szene dieses 'roten Jahrzehnts' bevölkerten! Aber worum ging es denn eigentlich? Welche psychischen, materiellen, ideologischen Motivationen standen dahinter? Woher diese verbreitete Halluzination einer vor unseren Augen sich abspielenden Weltrevolution? Es kommt längst nicht mehr darauf an, diese Geschichte zu verteidigen oder zu denunzieren - sondern darauf, sie endlich einmal zusammenhängend zu erzählen. Das Bündel von Motiven noch einmal aufzuschnüren, die die Aktivisten getrieben hat. Und sich über psychischen und intellektuellen Folgen dieser Erfahrungen Rechenschaft zu geben. Jetzt, wo 'die 68er an der Macht sind', für Jüngere wie für Ältere eine spannungsvolle Lektüre.

Gerd Koenen wurde 1944 in Marburg geboren. Er hat Geschichte und Politik in Tübingen und Frankfurt/Main studiert und dabei vom SDS 1967 bis zu den maoistischen Zirkeln und Parteiinitiativen der 70er Jahre das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert. Später hat er als Verlagslektor, Zeitschriftenredakteur, Journalist, wissenschaftlicher Mitarbeiter Lew Kopelews sowie als freier Schriftsteller gearbeitet. 2007 wurde er ausgezeichnet mit dem »Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung«. Seit April 2008 ist Gerd Koenen Fellow am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies - School of History). Sein Buch Traumpfade der Weltrevolution wurde vom Geschichtsmagazin DAMALS zum besten historischen Buch des Jahres 2009 gekürt. Seine bekanntesten Bücher sind: Die großen Gesänge - Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen, 1991. Deutschland und die russische Revolution (mit Lew Kopelew), 1998. Utopie der Säuberung - Was war der Kommunismus?, 1998_. Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945,_ 2005.

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Leseprobe

Wahn und Zeit


Rudi Dutschke am Kairós der Weltrevolution 1967/68

Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen; sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt, gar nicht erst – obwohl dies auch – als Reperkussion.

Theodor W. Adorno[d]

Die ersten Sätze, die Rudi Dutschke stockend aussprach, als er am 10. Mai 1968, fünf Wochen nach dem Attentat, seine Sprachfähigkeit wiedergewann, lauteten: »Ich habe Fehler gemacht. Ich bin einfach noch zu jung, um Politiker zu werden. Ich bin 28 Jahre alt. Ich muß mich noch mal zurückziehen und an mir selbst arbeiten.«[43]

Das enthielt offenkundig einen Erinnerungsrest an die Absicht, die er am Morgen des Attentats in einem Fernsehinterview verkündet hatte: für einige Zeit aus der BRD wegzugehen, »um im Ausland politisch zu arbeiten«. Aber was vorher nur eine Komponente dieses Entschlusses gewesen war: das Gefühl nämlich, diese ganze, von ihm selbst mitausgelöste und zunehmend verkörperte Bewegung drohe ihm über den Kopf zu wachsen – das hatte sich jetzt in der traumatischen Erfahrung der Schüsse materialisiert. Der jugendliche Attentäter hatte ihm nur die eine Frage gestellt: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Dann hatte er geschossen.

In seinem letzten Interview hatte Dutschke die Ankündigung wegzugehen in die seltsam feierliche Form einer Ansprache gekleidet: »Revolutionäre Genossinnen und Genossen, Antiautoritäre! Das bürgerlich-kapitalistische Denken zeichnet sich dadurch aus, daß es gesellschaftliche Konflikte … nur begreifen kann in der Gestalt von Personen … So wurde die antiautoritäre Bewegung identisch gesetzt mit Dutschke … (Aus) diesem Grunde … habe ich Rechenschaft abzulegen, warum ich jetzt für einige Zeit aus der BRD weggehe, um im Ausland politisch zu arbeiten. Ich meine, durch diese totale Personalisierung ist ein autoritäres Moment in unsere Bewegung hineingekommen … Wenn jetzt hier von den Herrschenden gesagt wird, ohne Dutschke ist die Bewegung tot, so habt ihr zu beweisen, daß die Bewegung … getragen wird von Menschen, die sich im Prozeß der Auseinandersetzung zu neuen Menschen herausbilden.«[44]

Frei nach Brechts Lenin-Gedicht, war es, als sagte der Baum zu den Blättern: Ich gehe. Jedenfalls dementierte sich die Aussage, zumal in der autoritären Form einer Ansprache über das Fernsehen, eigentlich selbst. Aber der Konflikt war – auch als innerer Konflikt – sicherlich real. Dutschke kämpfte mit der ihm zugewachsenen Führerrolle, die narzißtische Macht- und Größenphantasien und zugleich Selbstentfremdung bedeutete. Er war längst ein Getriebener, dem selbst nicht mehr klar war, wohin es ihn trieb – so wenig wie den Tausenden, die sich dieser neuen, »revolutionären« Bewegung angeschlossen hatten, ohne zu wissen, was das bedeutete. In einer Umfrage des Spiegel hatten 27 Prozent aller Studenten erklärt, daß sie »mit Dutschke übereinstimmen«. Das war ein gewaltiger Erwartungsdruck.

 

Was Dutschke als »totale Personalisierung« durch die bürgerlichen Massenmedien anprangerte, beschrieb eine unauflösliche Verstrickung der Bewegung insgesamt. Sie war in ihrer ganzen öffentlichen Wirkung selbst längst ein Medien-Phänomen geworden. Und das war keine Frage von Manipulation oder Vereinnahmung, sondern entsprach ihrem ureigenen Charakter.

Die erfolgreich praktizierte Strategie der »Aufklärung durch Provokation« setzte die heftigen Reaktionen des bürgerlichen Publikums wie der Massenmedien geradezu voraus. Ohne Provozierte keine gelungene Provokation. Im übrigen boten die Aktions und Demonstrationsformen einer radikalen Jugendbewegung genau das, wonach die modernen Bildmedien hungerten. Die da in Springprozessionen demonstrierten, Happenings veranstalteten, sich Mao-Buttons ansteckten und auf Barrikaden küßten, wußten das natürlich nur zu gut.

Dieses unauflösbare double-bind von narzißtischer Selbstinszenierung und medialer Vermittlung hatte sich in der »Enteignet Springer!«-Kampagne als dem vermeintlichen Schlüsselglied einer revolutionären Massenstrategie einen halb bewußten, halb unbewußten Ausdruck verschafft. Bewußt handelte es sich um den Versuch, der in Berlin marktbeherrschenden, im Bereich der Boulevard-Presse fast konkurrenzlosen und in ihrer Hetze gegen die jugendlichen Demonstranten maßlosen Springer-Presse eine »Gegenöffentlichkeit« entgegenzusetzen. Das hatte anfangs noch etwas vom Ethos einer zivilen Notwehr. Für diese Projekte (ein Springer-Tribunal, eine populär gemachte APO-Wochenzeitung usw.) wurden denn auch ohne Scheu erhebliche Subsidien der Konkurrenten Springers in Anspruch genommen, wie überhaupt die Herausgeber des SPIEGEL, des STERN und der ZEIT, Augstein, Nannen und Bucerius, dem SDS und besonders Dutschke gegenüber fast als sugar daddies auftraten, bevor ihnen der Knabe ein wenig unheimlich wurde.[e] Dazu kam, daß die liberale Presse (trotz kritischer Distanz) den »Rebellen von Berlin« eine Tribüne bot, die mit denen der Springer-Organe ohne weiteres konkurrieren konnte, allerdings auf einem gehobeneren Niveau.

Unbewußt ging es darum, daß erst die hysterischen Schlagzeilen, Berichte und Karikaturen von B.Z., MORGENPOST, WELT und BILD den jugendlichen Protestlern die umstürzlerische Bedeutung zurückspiegelten, die sie sich selbst unbedingt zuschreiben wollten. »Die BILD-Zeitung insbesondere legte uns auf die Revolution fest, als diese für uns noch ein historischer Begriff war.«[45] So befehdet zu werden, in dieser Weise täglich Schlagzeilen zu machen, verlieh ein Gefühl von Macht.

Um so krasser wurden die gegenseitigen Überzeichnungen. Axel »Cäsar« Springer erschien als dämonische Überfigur und geheimer Herrscher der Republik, ein reueloser Nazityp, der sich den Alliierten angedient hatte und schmierig auf Versöhnung mit Israel machte – nur um unbehindert zu faschistischen Pogromen gegen die rebellischen Studenten aufhetzen zu können, den »Juden von heute«. Dafür zeichneten die attackierten Springer-Organe die »sogenannten Studenten« mit nicht erlahmender Frenesie wahlweise als »gelbgesichtige Mao-Jünger«, »rote SA-Kohorten«, »fünfte Kolonne Pankows« oder »schmuddelige Anarchistenhaufen«.

 

Möglich waren solche Erhitzungsgrade anfangs nur im Westberliner Frontstadt-Kessel. Nur hier gab es eine derart radikale Teilung der gesellschaftlichen Milieus. Auf der einen Seite standen Zehntausende junger Zugezogener aus Westdeutschland, darunter viele, die sich auf diese Weise dem Wehrdienst entzogen hatten; sowie (vor 1961) viele junge Leute aus dem Osten, für die im Grunde ganz Ähnliches galt, wie Rudi Dutschke oder Bernd Rabehl. Lange bevor man von »Kommunen« oder (später) von »Wohngemeinschaften« redete, gab es das in den großen, leeren, subventionierten Wohnungen und Dachgeschossen in Westberlin bereits. In diesem provinziellen Riesenkaff »kam langsam eine brodelnde Masse von jungen Leuten an, die versuchten, sich in dieser Stadt zu orientieren«. So der Maler Markus Lüpertz, der 1957 aus der DDR übersiedelt war. »Die Stadt selbst aber gab gar nichts. Sie war eine Legende, ein Museum …« – das erst zu neuem Leben erwachte »durch Leute wie mich, die in diese Stadt kamen wie in eine Wüste, die bevölkert werden wollte«.[46]

Auf dem Gegenpol gab es die eingesessenen Berliner, für die »Frontstadt« kein Schimpfwort, sondern ein Ehrentitel war. Sie hatten Trümmerzeiten, Blockaden, Luftbrücken, Aufstände, Fluchtwellen, Mauerbau, Kriegsängste, nächtliche Schüsse, Schreie, Scheinwerfer, Hundegebell, dramatische Szenen aller Art erlebt, dazu Schikanen der VoPos, wann immer sie die Stadt einmal verlassen wollten. Und nach »drüben« zu gehen war damals für sie schwieriger als für die meisten Studenten und Besucher aus Westdeutschland. Kurzum, es handelte sich um Menschen, die über zwei Jahrzehnte hinweg in einer völlig verspannten, unhaltbaren Lage lebten und denen es trotz aller Subventionen ökonomisch ziemlich bescheiden ging. Sie waren die proletarischen »Hierbleiber« des Westens und mindestens so überaltert wie die DDR.Wenn die Freiheitsglocke bimmelte, scharten sie sich um ihre SPD-Bürgermeister, die alle von der Linken kamen (Reuter, Brandt, Albertz) und ihre Erfahrungen mit den Kommunisten hatten und eben deshalb auch versuchten, entschiedenes Durchhaltevermögen mit pragmatischer Dialogbereitschaft zu verbinden.

Daß die neuzugeströmten Studenten sich über einen Moise Tschombé aus dem Kongo oder einen Schah von Persien, die im Reigen der Staatsbesucher an die Mauer und in die Oper geführt wurden, mehr erregen konnten als über die Lage der Stadt selbst, wollte diesen Frontstadt-Berlinern nicht in den Kopf. Und noch weniger, daß ausgerechnet diese Bürgerkinder, die privilegierten Berufen zustrebten, plötzlich die rote Fahne wieder aufzogen und sich mit der Polizei prügelten, Arm in Arm mit der von drüben gesteuerten SEW und FDJ. Am allerwenigsten schien ihnen erträglich, daß diese neue ultralinke Volksfront ihre Angriffe immer zunehmend gegen die USA richteten, die die Schutzmacht der belagerten Stadt waren. Für das Gros der Frontstadtbewohner war klar, daß in Vietnam (wie zuvor in Korea) Berlin mitverteidigt wurde. Für die Studenten...

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