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Das Buch des Vergessens

Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern

AutorDouwe Draaisma
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783462306484
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Vergessen ist besser als sein Ruf. Das Standardwerk über den Nutzen und Nachteil des Vergessens für das Leben Warum erinnern wir uns so schlecht an unsere Träume? Was passiert mit verdrängten Erinnerungen - wo bleiben sie? Warum ist die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für uns so verführerisch, ja faszinierend? Warum gibt es Gedächtnistrainings, aber keine Vergessenstechnik? Mit solchen und vielen anderen Fragen nähert sich der holländische Bestsellerautor Douwe Draaisma in Das Buch des Vergessens umfassend, erhellend und unterhaltsam dem interessantesten Aspekt der Gehirnforschung: dem Vergessen. Unser Gedächtnis, so Draaisma, ist wie ein unfolgsames Kind: Woran wir uns erinnern, und woran nicht - darauf haben wir keinen Einfluss. Kein Wunder, dass es so schwer ist, die dahinterstehenden Mechanismen zu erkennen.Douwe Draaisma lädt seine Leser ein zu einem Streifzug durch Psychologie, Philosophie und Gehirnforschung, die sich seit Jahrhunderten mit dem Vergessen befassen. Er erzählt von Schlaflabors und Traumprotokollen, von Gehirnoperationen und Patientenschicksalen, er beschäftigt sich mit den neusten Techniken der Traumatherapie genauso wie er seinen Blick auf die Pioniere der Gedächtnisforschung richtet. Ein spannendes Buch, das vor allem eins klarmacht: Vergessen ist besser als sein Ruf.

Douwe Draaisma, Jahrgang 1953, ist Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. Für seine Leistungen auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung erhielt er 1999 den Heymanspreis. Bei Galiani sind bisher erschienen: Die Heimwehfabrik (2009), Das Buch des Vergessens (2012), Wie wir träumen (2015) und Halbe Wahrheiten (2016). Sein Buch Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird (2004) war ein sensationeller Erfolg. Seine Bücher wurden in alle Weltsprachen übersetzt.

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Leseprobe

Die Sammlung Scheepmaker


Im autobiografischen Gedächtnis befinden sich vor und nach ersten Aufzeichnungen leere Seiten. Obwohl sie den Anfang unserer Existenz als ein Wesen mit Gedächtnis markieren, unterstreichen diese leeren Seiten zugleich, von wie viel Vergessen die ersten Male umgeben sind. Die erste Erinnerung des Schriftstellers J. Bernlef ist, dass er durch Gitterstäbe schaut und laut »Uilie, Uilie!« ruft. Seine Eltern erklärten ihm später, er habe damals im Laufstall gesessen und ihr deutsches Dienstmädchen gerufen, das Uli hieß. Seine nächste Erinnerung bezieht sich auf ein drei Jahre später liegendes Ereignis. Frederick Forsyth war als Anderthalbjähriger von seinen Eltern kurzzeitig im Kinderwagen zurückgelassen worden, bewacht von einem Hund. Aber er hatte selbst Angst vor dem Hund, kletterte heraus, fiel, und der Hund leckte ihm durchs Gesicht. Danach folgt ein Loch von anderthalb Jahren. Das Kindergedächtnis ähnelt einem Motor, der gleich nach dem stotternden Start wieder aussetzt.

Die ersten Erinnerungen von Bernlef und Forsyth finden sich in dem 1988 erschienenen Büchlein Die erste Erinnerung. [9] Der Journalist Nico Scheepmaker hatte sechs Jahre lang die Leute, denen er privat und beruflich begegnete, nach ihrer ersten Erinnerung gefragt. So war eine Sammlung von 350 ersten Erinnerungen entstanden. Scheepmaker stellte an seine Sammlung keinerlei wissenschaftlichen Anspruch. Das hat manchmal Nachteile – er fragte nicht jedes Mal, wie alt der Erzähler bei der ersten Erinnerung war, sodass von ›nur‹ 263 Erinnerungen bei näherer Betrachtung das Alter festgestellt werden kann –, aber auch Vorteile. Er hatte sich nicht im Vorhinein in Theorien über das Gedächtnis in der Kindheit vertieft und notierte die Erinnerungen ohne Kommentar oder Bearbeitung. Psychologen haben im letzten Jahrhundert verschiedentlich Sammlungen erster Erinnerungen für die Forschung angelegt, aber fast immer stützen sich diese Sammlungen auf Fragebogen, die unter Studenten verteilt worden waren. Die Sammlung Scheepmaker umfasst die Erinnerungen von Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Berufen kommen und auch bezüglich Herkunft und Lebensalter sehr verschieden sind. Was aber diese Kollektion anderen Sammlungen vor allem voraushat, ist ihr Umfang. Man frage zehn Menschen nach ihrer ersten Erinnerung, und man erhält zehn Geschichten, man frage 350 Menschen, und man erhält Muster.

Jede erste Erinnerung ist mit Vergessen vermischt. Häufig erweist sich die erste Erinnerung bei näherer Betrachtung nicht als die erste. Scheepmaker selbst dachte, die Erinnerung an das noch warme Weißbrot, das er in den Ferien holen durfte, sei seine erste, bis seine Mutter erzählte, die Familie sei frühzeitig aus diesen Ferien zurückgekehrt, weil der Opa gestorben war, und er sich bewusst wurde, dass er auch noch Erinnerungen an diesen Opa hatte. Verleger Geert van Oorschot schickte Scheepmaker per Brief nachträglich eine erste Erinnerung, die noch älter war als die zuvor angegebene erste Erinnerung. Viele Menschen hatten drei, vier frühe Erinnerungen, die zusammengehörten, zum Beispiel, weil sie noch aus einer Zeit vor einem Umzug stammten oder weil jemand darin vorkam, der kurz danach starb. Die Chronologie hatten sie vergessen.

Manchmal hatten die Leute auch vergessen, woher genau ihre erste Erinnerung stammte. Hatten sie das wirklich selbst erlebt, war es ein Traum oder eine Geschichte, die in der Familie erzählt wurde? Berüchtigt ist das Foto, das zur Erinnerung wird. Ein Schwarz-Weiß-Foto, irgendwann einmal flüchtig gesehen – ein paar Jahre später hat das Gedächtnis den festgehaltenen Moment zum Leben erweckt und eine schillernde Erinnerung daraus gemacht, etwa so, wie manche Filme mit einem Standbild in Sepia beginnen, das plötzlich in Bewegung gerät. Der Journalist Henk Hofland lebte lange in der Überzeugung, seine erste Erinnerung sei ein Traum gewesen: Im Wassergraben hinter seinem Elternhaus in Rotterdam sei das Kreuzfahrtschiff Statendam mit seinen drei Schornsteinen vorbeigefahren. Später erzählte er seinem Vater von diesem Traum und erfuhr, dass es gar kein Traum gewesen war: »Die Statendam ist tatsächlich in diesem Wassergraben gefahren. Unser Nachbar war Modellbauer, er hat die Statendam nachgebaut und sie anschließend im Graben hinter dem Haus zu Wasser gelassen! Das hast du nicht geträumt, das hast du gesehen!«[10] Übrigens kommt es durchaus vor, dass sich Menschen als Erstes an einen Traum erinnern. Bei Piet Hagers, ehemaliger Wörterbuch-Chefredakteur bei Van Dale, war es ein klassischer Wecktraum: Er träumte, dass er von der Schaukel fiel, und wachte neben seinem Bett auf. Auch Zeichner Peter Vos hatte einen Traum als erste Erinnerung: »Ich träumte von so einem Mondrianbaum mit diesen Ästen, die dann durcheinandergerieten, was sehr beängstigend war.«[11]

In der Scheepmaker-Sammlung ist das Kind zum Zeitpunkt seiner ersten Erinnerung im Durchschnitt dreieinhalb Jahre alt. Aber es gibt große Ausreißer in beide Richtungen. Die frühste Erinnerung der Dichterin Neeltje Maria Min ist, dass sie während der Befreiung der Niederlande auf dem Arm ihrer Mutter die feiernden Menschen auf der Straße beobachtet. Sie ist gerade neun Monate alt. Dichter Kees Stip erzählte Scheepmaker, 1913, bei den Hundertjahrfeierlichkeiten zur wiedererlangten Unabhängigkeit der Niederlande, sei er erst drei Monate alt gewesen, als er von seiner Wiege mit lachsfarbenen Vorhängen aus die Ehrenpforte in der Hecke der Nachbarn sah. Das sind Details, die augenblicklich die Frage aufwerfen, wie verlässlich eigentlich solche frühen ersten Erinnerungen sind, doch dazu später. Fünf von Scheepmakers Befragten hatten ihre ersten Erinnerungen an ein Erlebnis, das sie hatten, als sie noch kein Jahr alt waren. Dagegen berichten neun von frühsten Erinnerungen an Ereignisse, die erst nach dem siebten Geburtstag lagen. Björn Borg konnte sich auch nach einer halben Stunde Nachdenken an keine frühere Erinnerung erinnern als die, dass er mit sieben Jahren auf der Treppe seiner Schule in Stockholm steht. Bertrand Flury, Cognac-Händler, ging als Siebenjähriger mit seinem Großvater spazieren, als es plötzlich eins hinter die Ohren setzte: Er hatte ihn aus Versehen mit ›tu‹ angesprochen statt mit ›vous‹. Andere haben als erste Erinnerung, was sie an ihrem siebten oder sogar achten Geburtstag geschenkt bekamen.

Menschen, die berichten, dass ihre frühste Erinnerung erst so spät einsetzt, genieren sich meist ein wenig und sind besorgt, sie fragen sich, ob das wohl normal sei. Sie leiten ihre Erinnerung ein mit »Es klingt vielleicht verrückt, aber …« Das Einzige, was man dazu sagen kann, ist, dass sie statistisch gesehen tatsächlich abweichen, dabei aber nicht allein sind: In jeder Untersuchung tauchen solche späten ersten Erinnerungen auf, und zwar bei Personen, die ansonsten vollkommen gesund sind. Scham über späte erste Erinnerungen ist genauso wenig angebracht wie der seltsame Stolz, der bei Menschen zu beobachten ist, die sicher wissen, dass sie bei ihrer ersten Erinnerung gerade mal sieben, vier oder zwei Monate alt waren. In der Scheepmaker-Sammlung sind sie vertreten durch den Dirigenten Claudio Abbado (»Ich erinnere mich noch an die Chaconne von Bach, die mein Vater spielte, als ich zwei Monate alt war«) und Jan Wolkers, der berichtet, sich an den Blümchenstoff des Kinderwagendachs zu erinnern, in dem er mit sechs Monaten als Baby lag (»Nicht wahr, Karina, das ist doch meine erste Erinnerung?«).[12] Wer in einer etwas größeren Gesellschaft das Thema erste Erinnerungen anschneidet, kann erleben, dass eine Art Wettstreit darüber entsteht, wer die frühste Erinnerung hat. Diejenigen, deren erste Erinnerungen sich zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr bewegen, lauschen mit steigendem Unglauben den Geschichten, an die sich Menschen aus der Zeit vor ihrem zweiten oder ersten Geburtstag erinnern, bis auch diese Kategorie von jemandem übertroffen wird, der sich noch an seine Geburt erinnern kann. Zum Glück erwartet kein vernünftiger Mensch vom Psychologen, dass er in dieser Frage das erlösende Wort sprechen solle, meist endet der Wettstreit übrigens in unterdrückter Heiterkeit, wenn eine schon etwas ältere Frau mit langen grau gescheitelten Haaren zu erzählen beginnt, an was sie sich noch aus ihrem früheren Leben erinnert.

Interessanter ist, dass es zwischen dem Lebensalter und der Art der ersten Erinnerung einen Zusammenhang gibt. In der Einleitung verweist Scheepmaker auf den Journalisten Dieter Zimmer, der bei den gut siebzig Menschen, die er nach ihrer ersten Erinnerung befragt hatte, drei Typen von Erinnerungen unterschieden hatte. Bei einem ›Bild‹ ist die Erinnerung genau das: ein einzelnes Bild, ein Fetzen, manchmal nicht mehr als eine flüchtige sinnliche Wahrnehmung. Bei einer ›Szene‹ ist schon etwas mehr vorhanden: der Ort, die Umgebung, andere Anwesende, es ist die Erinnerung an eine Situation, aber noch immer kurz und fragmentarisch. Bei einer ›Episode‹ ist eine gewisse Entwicklung vorhanden, ein Vorfall, ein Ereignis, manchmal mit dem Kind, das darin selbst handelnd auftritt. Die Grenzen zwischen diesen drei sind natürlich fließend, selbst wenn es leicht ist, typische Beispiele anzuführen, auch in der Scheepmaker-Sammlung. Zur ersten Kategorie gehört das Bild von Kastanien auf einer Zeitung, an das sich Harry Mulisch erinnert. Oder die erste Erinnerung von Simon Vinkenoog: »Ich lag auf dem Rücken und sah, wie die Sonne an der Decke spielte.«[13] Szenenbeispiele sind die plötzliche Ohrfeige wegen des Duzens, auf die...

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