Ist-Zustand
Fehlhaltungen sind festgehaltene Ausdruckshaltungen
Viele Patienten kommen zu mir, weil sie ihre »Fehlhaltung« loswerden möchten. Sie gehen davon aus, an ihrer Haltung sei etwas »falsch«. Im Umgang mit meinen Patienten spreche ich normalerweise nicht von Fehlhaltungen. Dadurch entsteht eine unnötige Abwertung des Körpers. Ich verwende lieber neutrale Begriffe wie z. B. Gewohnheitshaltung, reflektorische Haltung oder auch unbewusst entstandene Haltung. Wir können sie auch als Ausdruckshaltung bezeichnen, weil hinter der Haltung eine Botschaft und auch eine (oft bedrückende) Erfahrung steckt, welche der Körper durch seine Körpersprache zum Ausdruck bringt.
Unter einer Fehlhaltung versteht man in der Orthopädie eine von der gesunden Norm des Menschen abweichende Haltung, die oftmals zu Verspannungen oder Schmerzen führt. Da sich dieser Begriff allgemein eingebürgert hat, verwende ich ihn gelegentlich auch in diesem Buch. Ich möchte ihn aber in dem Sinne verstanden wissen, dass in dieser Haltung dem Körper noch ein tieferes Verstehen fehlt. Sie bedeutet nicht, dass an Ihnen oder Ihrem Körper etwas »falsch« ist.
So wie wir ein Kind ermutigen und für seine bisherigen Leistungen loben, um es zu weiteren Fortschritten zu ermutigen, braucht auch Ihr Körper Anerkennung. Deshalb sollten wir es tunlichst unterlassen, ihn zu verurteilen und abzulehnen. Es ist ein großer Unterschied, ob wir zum Beispiel von einem »bösen Nacken« sprechen oder uns innerlich bei unserem Nacken entschuldigen, dass wir seine Signale so lange übergangen haben, und uns vornehmen, in Zukunft viel besser mit ihm zu kooperieren.
Ich lade Sie ausdrücklich ein, eine tiefe Wertschätzung für die Haltung aufzubringen, welche Ihr Körper gerade ausdrückt, selbst wenn diese vielleicht bisher als »Fehlhaltung« bezeichnet wurde. Aus der Akzeptanz und dem Verständnis für den Ist-Zustand kann der Impuls zur Wandlung erwachsen.
Jede Haltung war zu irgendeinem Zeitpunkt einmal sinnvoll und hilfreich:
- das erhobene Kinn mit dem Knick in der Halswirbelsäule als Ausdruck von vermeintlicher Selbstbehauptung
- der eingezogene Kopf als Folge von Schock, Unfall, früh erlebter Bedrohung oder um seine Körpergröße zu verstecken
- die aus Angst hochgezogenen Schultern
- das eingezogene Brustbein aufgrund von Dingen, die uns wirklich ans Herz gegangen sind und uns unseren Herzbereich haben verstecken lassen
- der Rundrücken mit eingezogenem Brustbein als Ausdruck von mangelndem Selbstwertgefühl, Schüchternheit, um sich nicht wirklich zeigen zu müssen (bei Frauen aus Angst davor, zu ihrer vollen Weiblichkeit zu stehen)
Jede Haltung, die wir in unserem Alltag einnehmen wollen, ist erlaubt, wenn sie bewusst eingenommen wird. Wichtig ist nur, dass danach diese Haltung stets wieder zurück in die Aufrichtung führt.
Dies sind nur einige von vielen Beispielen. Diese Haltungen einnehmen zu können ist ein Zeichen von Flexibilität und gehört damit zu den Ausgleichshaltungen, in die wir vorübergehend auch heute immer wieder mal gehen dürfen und vielleicht auch müssen. Niemand kann und sollte permanent so stehen oder sitzen, als hätte er einen Stock verschluckt. Für den optimalen Gebrauch der Wirbelsäule ist es sogar wichtig, immer wieder einmal kleine Ausgleichsbewegungen oder auch größere Haltungsveränderungen vorzunehmen, sodass der Körper nicht erstarrt (vor allem auch, wenn viel am Computer gearbeitet wird).
Fehlhaltung wird dann zu einem Problem, wenn ihr eine dauerhafte Muskelverspannung und chronische Schon- oder Ausweichhaltungen zugrunde liegen. Im Laufe des Lebens sind viele Menschen in ihren Fehlhaltungen wie eingefroren, sodass diese für den Körper zur Gewohnheit geworden sind. So gewöhnen sich die Muskeln an diese Haltung, sodass einige Muskeln überdehnt und andere dadurch verkürzt sind. Die Bandscheiben nutzen sich unter Umständen ab, Gelenke verschleißen, Bewegungseinschränkungen, sogar Symptome der inneren Organe können die Folge sein. Auch unsere Knochenstruktur verändert sich ständig. Während knochenabbauende Zellen (Osteoklasten) an einer Stelle Knochen abtragen, wird an anderer Stelle durch Osteoblasten Knochen aufgebaut. So kann sich eine Gewohnheitshaltung manifestieren: Die Skelettstruktur passt sich entsprechend an, die Haltung verfestigt sich im Knochen. Dem kann jedoch mit dem gleichen Prinzip begegnet werden: Eine konsequente positive Haltungsänderung wird sich ebenso wieder in der Skelettstruktur manifestieren – die Knochen passen sich der aktuellen Situation an. Hierfür müssen wir jedoch aktiv werden!
Nachfolgend werden wir gemeinsam Verspannungen und Rückenschmerzen als Aufruf zur inneren und äußeren Neuausrichtung begreifen.
Rückenschmerz – Aufforderung zur inneren und äußeren Neuausrichtung
Beschwerden der Wirbelsäule, der Schultern und Gelenke zählen mittlerweile zu den zweithäufigsten Gründen (nach Erkältungen) für krankheitsbedingten Arbeitsausfall. Knie- und Hüftoperationen werden heute oft als Folge von »normalem« Verschleiß betrachtet. Oftmals werden Rückenleiden einfach auf das Alter geschoben. Doch auch junge Menschen leiden heute unter Rückenschmerzen. Es sind nicht die Jahre, welche den Körper beugen, sondern unvorteilhafte Einstellungen, Glaubenssätze, Haltungen und mangelnde Bewegung.
Wer unter Rücken-, Schulter- oder Gelenkschmerzen leidet, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass der Schmerz verschwindet. Jede Verspannung, jeder Schmerz möchte Sie dahin führen, Mitgefühl und Verständnis zu entwickeln – mit sich selbst, Ihrem Körper und Ihrer Umgebung. Dieser mitfühlende Umgang mit sich selbst ist die ideale Einstellung, die Sie auch bei akuten Verspannungen oder Schmerzen immer wieder einnehmen können. Die nachfolgende Übung eignet sich als »Erste-Hilfe-Maßnahme«:
Steuerung der Aufmerksamkeit:
Nehmen Sie sich ein wenig Zeit. Beobachten Sie erst einmal nur Ihren Atem, wie er an den Nasenflügeln ein- und ausströmt. (Falls dies nicht möglich ist, atmen Sie durch den Mund.) Halten Sie Ihre Konzentration einige Zeit lang nur auf Ihren Atem gerichtet. Dann lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit und auch Ihren Atem, wie einen guten Freund, auf einen Bereich des Körpers, in dem Sie Spannungen oder gar Schmerzen haben. Nehmen Sie wertfrei wahr, welche Empfindungen, Gefühle oder auch inneren Bilder dabei in Ihnen aufsteigen. Kämpfen Sie nicht gegen das an, was sich Ihnen zeigt, und verdrängen Sie es nicht. Versuchen Sie an dieser Stelle auch noch nicht, den Körper in eine optimalere Haltung zu zwingen. Sollte sich der Körper von alleine verändern, lassen Sie dies geschehen. Begegnen Sie Ihrem Erleben mit einer Haltung vorurteilsfreier Offenheit, vielleicht so, wie Sie ein Kunstwerk in einem Museum auf sich wirken lassen würden. Sie werden erleben, dass sich ohne Ihr weiteres Zutun etwas löst und Sie Erleichterung empfinden.
Unser Körper verhält sich in dieser Übung wie ein Kind, das der Mutter seinen Kummer erzählen kann. Das aufmerksame Lauschen unseres Bewusstseins gibt dem Körper das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Dadurch entsteht die Erleichterung. Manchmal kann bereits dadurch ein Heilungsprozess einsetzen.
Aufruf zur Veränderung
Rückenschmerzen signalisieren uns, dass der Körper unbewusst in eine Haltung gezwängt wurde, die seinem wahren Wesen und der heutigen Lebenssituation nicht (mehr) entspricht. Solange wir nicht wissen, wie der Knick bzw. die Verspannung ursprünglich entstanden ist, können Rückenübungen nur bedingt helfen. Während ein Teil des Körpers versucht, den Alltag im Jetzt zu bewältigen, befindet sich ein anderer Teil, nämlich der betroffene Teil des Körperausdrucks, unbewusst in einem anderen Zeitabschnitt – dort, wo damals der Knick entstanden ist.
Nachfolgend einige Fragen, die Ihnen helfen können, evtl. tiefer liegenden Ursachen von Rückenproblemen auf die Spur zu kommen:
Selbstklärung:
- Gibt es etwas, das Sie belastet und sinnbildlich wie ein schwerer Sack auf Ihren Schultern lag oder immer noch liegt?
- Haben Sie in Ihrem Leben, wie viele andere, eine Situation erleben müssen, in der Sie sich geknickt gefühlt haben?
- Gab oder gibt es noch heute Angst in Ihrem Leben, die Ihnen im Nacken sitzt?
- Fühlen Sie sich oft müde, erschöpft oder haben Sie resigniert? (Dann lassen Sie bzw. Ihr Körper sicherlich die Schultern kraftlos nach vorne hängen.)
- Gab es in Ihrem Leben etwas, das Sie als Last getragen haben? (Wie einen Stein auf der Brust?)
- Gab es Schocks oder Situationen in Ihrem Leben, in denen Ihr Körper vor Angst erstarrt ist? (Unfall, Schleudertrauma oder ähnliche Erlebnisse)
Wenn der Körper eine spontane »Schutzhaltung« eingenommen hat, weiß er später nicht, dass die Gefahr längst vorüber ist. Um ihn darauf aufmerksam zu machen, braucht es die Unterstützung des Bewusstseins.
Was nützt auf Dauer die beste chiropraktische Behandlung, wenn die eigentliche Ursache der »Fehlhaltung« nicht vom Körper ebenfalls verstanden und mithilfe unserer Erkenntniskraft aktiv wieder ins Lot gebracht wird? Solange wir kein bewusst erspürtes Verständnis für die alte »Fehl-Haltung« entwickeln, die sich ja unbewusst eingestellt...