1 Musik
1.1 Musik verstanden als Kunst
Wenn ich als Referentin an einer Altenpflegeschule oder zu einer Weiterbildung zur Gerontopsychiatrischen Fachkraft eingeladen bin und auf dem Stundenplan „Musikgeragogik“ steht, treffe ich, wenn ich den Unterrichtsraum betrete, oft Teilnehmer, die sich gesenkten Hauptes mit abwehrender Körperhaltung mit den Beinen auf ihren Stühlen verknoten. Die Ablehnung steht ihnen auf die Stirn geschrieben, skeptische Blicke sind noch die positivste Reaktion und es dauert ein Weilchen, bis ich die Mauer, die sie umgibt, durchbrechen kann.
Das Wort Musik löst offenbar heftige Vorbehalte aus. Und die Angst, vielleicht singen zu müssen, lässt die Teilnehmer sich in sich selbst verkriechen und ihr Unbehagen wird fast körperlich spürbar.
Schade, denke ich, dass eine so schöne Kunst so negative Gefühle auslöst. Und da sind wir beim Kern der Sache: als „Kunst“ wird Musik verstanden - und leider auch oft in den Schulen gelehrt. Als eine Kunst, deren komplizierte Regeln gelernt werden müssen und deren Ausübung den Künstlern, also den Fachleuten überlassen bleibt. Der Fachmann in der Schule ist der Musiklehrer und oft ist sein Votum „kann singen“ oder „kann nicht singen“ lebensbegleitend. Nicht selten treffe ich noch im Altenheim Menschen, die sagen: „Schon mein Grundschullehrer hat gesagt, dass ich nicht singen kann“- und dieses Urteil kann über einem langen Leben wie ein Fatum stehen.
1.2. Musik und Singen
In der zweiten Grundschulklasse musste ich, wie alle Kinder meines Jahrgangs, vorsingen. In enormer Höhe stimmte ich ein Lied an und scheiterte bald, weil die Stimme die Tonhöhe nicht mehr hergab, die das Lied verlangt hätte. Als die Klasse in schallendes Gelächter ausbrach, wäre ich am liebsten im Boden versunken. Sehr viel später im Gymnasium hatte ich das Glück, einem engagierten und begeisterten Musiklehrer zu begegnen, der es verstand, mich zu ermutigen und zu motivieren. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem er mir nach einem Vorsingen die Hand reichte, sie lange schüttelte und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, jetzt hast du deine Stimme gefunden“. Von dem Tag an stellte sich bei mir eine unbändige Freude am Singen ein, die zu einer Gesangsausbildung führte und mich seither begleitet. Wäre es bei meiner ersten Singerfahrung geblieben, wäre mein Leben möglicherweise ganz anders verlaufen.
So kann es wohl dazu kommen, dass mit dem Begriff Musik nur eine negative Singerfahrung assoziiert wird. Musik wird daher oft nur noch konsumierend erlebt und zur Hintergrundunterhaltung degradiert. Wenn in jedem Kaufhaus Musik läuft (es gibt dafür den Begriff der „Tapetenmusik“, der gut beschreibt, welche Funktion solche Musik hat), sich jedes Handy mit einer Musik bemerkbar macht (Musik so zum „Klingelton“ wird), verwundert es nicht, dass das Bewusstsein für den Eigenwert von Musik verloren geht.
Wenn ich von Musik spreche, dann meine ich nicht nur die Musik großer Meister, virtuose Instrumentalmusik oder Kunstgesang, ich meine Urwahrnehmungen der Welt mit allen Sinnen (Heiko – Uwe Beuerle).
„In jedem Gespräch ist Musik – unerklärliche Harmonien und Dissonanzen, die im Körper vibrieren wie eine Stimmgabel“ Aus: Die Leiden eines Amerikaners von Siri Hustvedt, Rowohlt Verlag 2009 S. 395
1.3 Musik als Urwahrnehmung
1.3.1 Musik im Mutterleib
Wie ist das zu verstehen?
Klänge umgeben uns von der Zeugung an: Blut rauscht durch die großen Gefäße, Atem- oder Darmfunktionen sind nicht lautlos, Bewegungen des Knochenapparates verursachen Geräusche, die Stimme der Mutter begleitet durch die gesamte Schwangerschaft und der Herzschlag der Mutter liegt wie ein Kontrapunkt unter allen anderen Tönen und Geräuschen. Durch die Bewegung des Zwerchfells beim Atmen der Mutter sind die Geräusche – oder die „Musik“ immer mit Druckveränderungen verbunden, so dass Musik viel mehr als lediglich ein Hörerlebnis ist. Es ist ein Ganzkörpererlebnis, das von Beginn an den Menschen als Gesamtheit erfasst und im wahrsten Sinn des Wortes bewegt. Sehr früh in der Schwangerschaft, ab der zwanzigsten Woche, reagiert der Fötus auf akustische Reize, deutliche Reaktionen sind ab der 25. Schwangerschaftswoche zu beobachten und drei bis vier Monate vor der Geburt antworten Föten motorisch auf akustische Reize.
1.3.2 Musik als Metrum, Takt, Rhythmus, Perkussion, Obertöne und Melodie
Das musikalische Umfeld im Mutterleib ist bestimmt durch Metrum (Pulsschlag), Takt (Atem), Rhythmus (Körperbewegungen), Percussion (Geräusche) sowie Obertöne, Klang und Melodie (Stimme der Mutter). Der Fötus vernimmt zunächst die Obertöne, die vom Kehlkopf über das Rückenmark und den Uterus übertragen werden. Die Obertöne der menschlichen Stimme teilen mit, was der Mensch fühlt, wenn er spricht oder singt. Ohne ihr Wissen gestaltet die Mutter für ihr Kind eine Musik, die es neugierig auf das Leben macht, die ihm Lust zum Leben vermittelt.
1.4 Musik als wichtiger Teil aller Kulturen
So verwundert es nicht, dass Musik eine zentrale Stellung in allen Kulturen einnimmt. Kein religiöser Kult ist ohne Musik denkbar, mit Musik werden Seelenbewegungen und religiöse Rituale begleitet und zu Gehör gebracht.
Freude und Trauer werden musikalisch ausgedrückt: wir kennen Klagelieder beim Tod eines Menschen, über schwere Schicksale oder Unterdrückung. Freudentänze und - gesänge bei Hochzeit, Geburt, Initiationsriten oder bei guter Ernte. Darüber hinaus kann Musik orientierende Wirkung haben, nicht nur für gelingendes Leben, sondern ganz praktisch: Bei den Aborigines zum Beispiel bilden „Songlines“ eine Art akustischer Landkarte: dort werden die „GPS Daten“ sozusagen singend hörbar gemacht und dienen für alle wahrnehmbar der räumlichen Orientierung. Zur See fahrende Indianerstämme wie die Maoris verwendeten für verschiedene Schiffsrouten je eigene Lieder, die bei der Rückfahrt rückwärts gesungen wurden.
1.4.1 Verweltlichung der Musik
Auch in unserem Kulturkreis war Musik zunächst religiöse Musik. Singen liturgischer Gesänge war nur dem Klerus gestattet und der Gesang war einstimmig. Erst später bildete sich Mehrstimmigkeit aus. Mit den Minnesängern des Mittelalters eroberte die Musik langsam den profanen Bereich und wurde zur „Kunst“.
1.4.2 Entstehen der Kunstmusik
Das Kunstlied ist eine späte und perfektionierte Form dieser Entwicklung und es bedarf großer „Kunstfertigkeit“, es trotz technischer und musikalischer Vollendung natürlich und schlicht klingen zu lassen.
Sehr verkürzt und vereinfacht habe ich die Musikgeschichte dargestellt, um zu verdeutlichen, dass sich aus einem elementaren Bedürfnis des Menschen ein hohes Kulturgut entwickelt hat. So unterschiedlich die Ausformungen und Entwicklungen in verschiedenen Kulturen, Ländern und Kontinenten auch verlaufen sein mögen, überall ist die Musik ein zentraler und unverzichtbarer Teil des jeweiligen Soziallebens.
1.5 Musik als Urbedürfnis aller Menschen
In diesem kleinen Büchlein möchte ich mein Augenmerk auf die Musik als ein allen Menschen innewohnendes und berührendes Grundbedürfnis richten. Im Folgenden zeige ich, dass es keiner akademischen Ausbildung oder eines langen Studiums bedarf, um Freude, Glücksmomente und Sinnerfüllung in und mit Musik zu erleben, vielmehr wohnen jedem Menschen die Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Ausübung von Musik inne. Ich möchte einen „niederschwelligen“ Zugang aufzeigen und beschreiben, wie selbst Menschen, die zuvor nie ein Instrument gespielt (es heißt sehr treffend „ein Instrument spielen“ und nicht „ein Instrument bearbeiten“ [ein „Instrument bearbeiten“ hat eine negative Bedeutung] und wird mit rein mechanischem Spiel assoziiert]) haben, ohne große Mühe zu Musikanten werden können.
1.6 Musik als wichtiger Bestandteil jeder Biografie
Musik spielt in der Biografie eines jeden Menschen eine wichtige Rolle. Bei vielen Menschen meiner Generation war die Musik der Beatles ein Wendepunkt im Leben.
Sie bedeutete Auflehnung gegen den Musikgeschmack der vorherigen Generation. Die von den Eltern sogenannte „Negermusik“ war viel mehr als nur Musik: sie war ein neues Lebensgefühl. Haare wurden länger, was zu erbitterten Kämpfen um jeden Zentimeter führte: Wenigstens Ohren und Nacken sollten frei sein. Meine Mutter lief mit gezückter Schere durch den Garten hinter meinem Bruder her, dem ich die Haare geschnitten hatte und sie ihm in schwesterlicher Solidarität so lang wie möglich gelassen hatte.
Eine neue...