Sich mit der Polarität auseinandersetzen
In der Konfrontation mit dem Schatten offenbart unser Atem das Problem, aber auch schon die Lösung. Wir werten den Aus- und den Einatem nicht, das heißt, beide Pole sind uns gleich lieb und wichtig. Es wird kein Pol bevorzugt, und der Rhythmus des Atems trägt uns gleichmäßig und sicher durch unser Leben – solange wir bei dieser ausgewogenen Einschätzung bleiben.
Rhythmus entsteht durch den Wechsel zwischen zwei Polen und ist lebenswichtig. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, ging davon aus, alles Leben sei überhaupt Rhythmus. Tatsächlich entfaltet sich das Leben in der Welt der Gegensätze durch das rhythmische Wechselspiel zwischen den Polen, wie nicht nur der Atem zeigt. Bringen wir dabei aber Wertung ins Spiel (des Lebens), entstehen sofort Probleme. Ist uns etwa das Nehmen beim Einatmen lieber als das Geben beim Ausatmen, entsteht sofort ein lebensbedrohliches Problem. Durch die Bevorzugung des Einatmens sinkt das Ausatmen gleichsam in den Schatten – die Situation des Asthma bronchiale. Zur Bevorzugung des Einatmens gehört automatisch die Benachteiligung des Ausatmens. Betroffene ringen krampfhaft nach Luft und vergessen darüber das Ausatmen. An diesem Irrtum sterben sogar manche Asthmatiker.
Das Beispiel verdeutlicht einen wichtigen Mechanismus der Schattenbildung. Wann immer wir etwas – hier das Ausatmen und Geben – ablehnen, verschwindet es damit nicht, sondern sinkt in den Schatten. Von dort kann es sich, wie wir schon wissen, auf vielfältige Weise wieder melden. Wer die Bedeutung eines Krankheitsbildes jedoch durchschaut und akzeptiert, kann dadurch den »verkörperten« und aus dem Bewusstsein verdrängten, in das Unbewusste abgeschobenen Schatten wieder in das Bewusstsein zurückholen. Diese neuerliche Integration des vormals ausgeblendeten Teils macht heiler und vollkommener. Es ist ein Akt der Schattenintegration. Immer wenn wir einen verdrängten oder abgelehnten Pol wieder in unser Bewusstsein zurückholen, bringt uns diese Gegensatzvereinigung der Einheit näher. Lernt also der Asthmatiker, im Ausatmen loszulassen und herzugeben, ist sein Asthma geheilt. Allerdings zeigt sich hier auch, wie schwer es fällt, einen einmal ausgeschlossenen Pol der Wirklichkeit wieder zurück in das Bewusstsein zu bringen.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Sobald wir etwas aus unserem Bewusstsein verbannen, weil es uns Angst macht, wird es unbewusst und sinkt in den Schatten. Wo immer wir das Licht der Bewusstheit entziehen, schaffen wir Schatten. Doch das Verbannte fügt sich nicht kampflos. Die amerikanische Psychologin und Schattenspezialistin Debbie Ford erklärt dazu: »Die Gefühle, die wir unterdrückt haben, drängen darauf, anerkannt und integriert zu werden. Sie sind nur dann schädlich, wenn sie verdrängt werden, denn sie drohen hervorzubrechen, wenn es völlig unangemessen ist. Ihre hinterhältigen Attacken werden Sie gerade in den Bereichen Ihres Lebens behindern, die für Sie am wichtigsten sind.« 6
Demgegenüber brauchen wir all jene Eigenschaften und Energien, die wir uns bewusst machen, künftig weder aufwändig zu verdrängen noch zu fürchten. Wir können sie im Gegenteil nutzen, statt uns von ihnen missbrauchen und quälen zu lassen. Wo wir uns nicht freiwillig mit dem Schatten beschäftigen, wird er sich mit uns auf seine Art beschäftigen. Dies ist keine Drohung, sondern Gewissheit und Hoffnung zugleich.
Zu allen Zeiten wussten oder ahnten Menschen zumindest das Muster des menschlichen Entwicklungsweges; es ist dem Lauf der Sonne, unserem Zentralgestirn, nachempfunden. Die Sonne scheint von der Erde aus gesehen das Schattenreich ebenfalls zu durchwandern. Dies ist das Urmuster der Polarität.
Wie dem babylonischen Sonnenhelden Gilgamesch, der mit seinem dunklen Zwillingsbruder Enkidu ringen muss, um seinen Lebensweg zu bewältigen und seinen Schatten als wichtigsten Verbündeten zu gewinnen, geht es grundsätzlich allen Menschen in unserer Welt der Gegensätze. Wir müssen mit der Polarität, der von Gegensätzen beherrschten Welt, fertig werden, um uns Gott beziehungsweise der Einheit zu nähern. Abel muss mit Kain aneinandergeraten. Adam findet seinen Gegenpol in Eva, der hinduistische Shiva in seiner Gemahlin Parvati.
Vom Direktflug ins Licht träumen lediglich einige Anhänger positiven Denkens mit ihrer Affirmationsakrobatik oder auf Doping setzende Sportler. Wer auf diese im Sport als betrügerisch eingestufte Weise Erfolg hat, wird seinen Sieg nicht einmal richtig genießen können. Wer dagegen die vor dem Aufstieg liegende Schlucht durchstiegen und die Tiefe vor der Höhe gemeistert hat, wird seinen späteren Erfolg ganz anders, nämlich in seiner Ganzheit feiern. Er hat vom (Lebens-)Weg beide Seiten kennengelernt. Im Märchen muss der Held ausdrücklich ausziehen, um das Fürchten zu lernen. Erst danach kann er sein königliches Erbe antreten und der Prinzessin die Hand reichen. Der Weg in das Dunkel seiner Seele macht ihn dazu stark genug.
Sportler wissen, dass jede Trainingseinheit sie erst schwächt, dass sie also wieder absteigen, bevor sie sich erholen und ein höheres Niveau erreichen. So arbeiten sie sich in einem langsam ansteigenden Wellenmuster nach oben, das den typischen Entwicklungsverlauf im archetypischen Sinn darstellt.
Die Erfahrung des Schattens ist ein integraler Bestandteil des menschlichen Entwicklungsweges. Wir müssen unsere Feinde lieben lernen, bevor wir mit allem eins werden können. Wer sich mit Entwicklung beschäftigt, wird immer wieder auf diese Tatsache und damit auf den Schatten stoßen. Nur die Worte variieren. Der Buddha lehrt, dass vor der endgültigen Befreiung alle früheren Inkarnationen, also die als Opfer und als Täter, bewusst werden müssen. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross empfahl dringend, die unerledigten Geschäfte rechtzeitig zu regeln, um das Leben stimmig abschließen zu können. Der Therapeut Bert Hellinger spricht davon, dass jedes System Vollständigkeit erstrebt. Sehr einfach gesagt, müssen wir unsere Vergangenheit aufräumen, bevor wir heil und vollständig in der Gegenwart ankommen können. Das ist auch das wesentliche Ziel der Reinkarnations- beziehungsweise Schattentherapie, die frühere Inkarnationen nutzt, um von alten Lasten und Bürden loszulassen und für das Hier und Jetzt frei zu werden.
Das Licht des Erwachens, die Erleuchtung, braucht den Schatten so dringend wie der Einatem den Ausatem. Anders ausgedrückt, der menschliche Entwicklungsweg führt durch die Polarität, die Welt der Gegensätze. Beide Pole der Wirklichkeit sind in unserer Welt gleich wichtig und bedürfen einander. Das Ziel des Weges aber liegt in der Überwindung der Polarität, in der Einheit. Darin sind sich alle Religionen einig.
Nun wirkt das Polaritätsgesetz auf den ersten Blick so einfach, so selbstverständlich, dass die Auseinandersetzung mit ihm kaum der Mühe wert zu sein scheint. Auf den zweiten Blick hat es die Polarität jedoch in sich. Der Schatten ist ihr Kind – ihr wichtigstes und doch oft vernachlässigtes. Wir werden uns diesem Thema so einfach wie möglich nähern, um es für Entwicklung und Befreiung zu nutzen.
In der polaren Welt lebt natürlich alles von der Gegensätzlichkeit: Niemand kann sich groß fühlen, wären nicht andere klein(er). Frieden ist ohne Krieg nicht denkbar, reich nicht ohne arm und selbst gut nicht ohne böse. Aus der Welt der Gegensätze betrachtet können wir uns die Einheit nicht einmal vorstellen. Die Polarität lässt alles gegensätzlich erscheinen. Aus der Perspektive der Einheit ist natürlich alles eins. Demnach gehören die Gegensätze unbedingt zusammen und sind erst zusammen vollständig. Es ist unser Hauptfehler in der polaren Welt, diese Tatsache immer wieder zu übersehen.
Übung: Versuchen Sie, gedanklich irgendetwas in dieser Welt zu finden, zu dem es keinen Gegenpol gibt.
Wenn Sie die Vergeblichkeit dieser Erfahrung erlebt haben, genießen Sie einen Moment lang die Gewissheit, folglich auch selbst eine dunkle Seite haben zu dürfen. Halten Sie Ihre Gedanken dazu wieder im Schattentagebuch fest.