Elisabeth Young-Bruehl Vorwort zur zweiten Auflage
Im Herbst 2003 erzählte ich an einem College in New England vor Studenten und Mitarbeitern eine meiner liebsten Arendt-Geschichten. 1969, kurz nachdem Arendt begonnen hatte, an der New School for Social Research in New York zu unterrichten, wurde sie von einer Studentengruppe (zu der auch ich gehörte), die gegen den Vietnam-Krieg protestierte, um Rat gefragt, ob sie sich der örtlichen Gewerkschaft anschließen sollte, um mit ihr gemeinsam eine Antikriegsdemonstration zu organisieren. Arendt hörte sich all unsere Argumente für und wider aufmerksam an und antwortete dann lakonisch mit ihrem starken deutschen Akzent: »Nun [Vell], das hieße, dass Sie deren Mimeographen benutzen könnten.« Als ich mit der Geschichte am Ende war, lachten die älteren Kollegen im Publikum – meine Altersgenossen – über dieses Beispiel für die praktische Veranlagung der großen politischen Denkerin, während die Studenten gespannt, aber etwas ratlos dreinschauten. Einer der »Neuankömmlinge«, wie Arendt die Studenten immer zu nennen pflegte, kam anschließend zu mir, um sich für den anregenden Vortrag zu bedanken. »Hannah Arendt zu lesen war für mich, also äh … überwältigend«, sagte sie. Und dann fragte sie mich ganz im Ernst, was ein Mimeograph sei.
Seit diese Hannah Arendt-Biographie 1982, sieben Jahre nach Arendts Tod, erstmals erschien, ist eine neue Generation von Lesern herangewachsen. Diese neue Generation organisiert Antikriegsdemonstrationen heute per Handy und E-Mail. Sie lernt in einer Welt politisch zu denken und zu handeln, die sich grundlegend von der Welt unterscheidet, in der Arendt lebte – auch wenn sie aus ihr hervorgegangen ist. Würde ich die Biographie heute verfassen, dann wäre diese neue Welt mein Arbeitskontext, und ich würde versuchen, die »Neuankömmlinge« miteinzubeziehen – jene Leser, aus deren Wahrnehmung die Ereignisse um die letzte Jahrhundertmitte, die für Arendts Politikverständnis so entscheidend waren, zu einer fernen Vergangenheit gehören und denen die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die einzige Welt zu sein scheint, die es zu ergründen gilt.
Ich habe gelegentlich daran gedacht, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit zu überarbeiten, um es auf die Gegenwart und auf jüngere Leser zuzuschneiden.[1] Doch immer wieder entschied ich mich dafür, die ursprüngliche Form zu belassen, denn sie stellt Hannah Arendts Leben in jener Welt dar, die sie selbst erlebte, und sie stellt es auf eine Art und Weise dar, wie Arendt und die Welt am Ende ihres Lebens gesehen und beurteilt werden konnten. In meinem ursprünglichen Vorwort schrieb ich: »Die Nachwelt mag auch das Leben beurteilen – der Biograph hat nur darüber zu befinden, ob die Geschichte erzählenswert ist.« Dieser postume Prozess der Beurteilung ihres Lebens hat nun begonnen, und einige dieser Beurteilungen möchte ich hier gerne in Augenschein nehmen. Ich möchte auch jenen Lesern etwas an die Hand geben, die Arendts Sorge um die Welt, ihre »Liebe für die Welt« vielleicht teilen, die aber zu jung sind, um sie persönlich kennengelernt zu haben – Lesern, die so alt sind, wie ich es war, als ich an der New School das Glück hatte, mein philosophisches Promotionsstudium zu beginnen, das ich schließlich unter ihrer Betreuung mit einer Dissertation über ihren Lehrer Karl Jaspers beendete.
Wie andere, die bei ihr studiert haben, und wie Tausende von Lesern in Amerika und Europa war ich auf ihre wohlüberlegten Kommentare zu den sich überschlagenden Ereignissen des Vietnamkrieges, den weltweiten Reaktionen darauf und den hiervon ins Leben gerufenen oder zu neuem Leben erweckten politischen Bewegungen angewiesen. Ich stelle mir diese Biographie gerne als eine Arendt-Einführung für Leser vor, die sie nur als historische Gestalt kennengelernt haben, nicht mehr als lebende Denkerin; dieses Vorwort soll zeigen, wie sie in den vier Jahrzehnten seit ihrem Tod zu dieser historischen Gestalt geworden ist.[2]
Lassen Sie mich mit den postum erschienenen Werken Arendts beginnen, die mir größtenteils als literarischer Nachlass zur Verfügung standen, als ich diese Biographie schrieb. Seit der Veröffentlichung von The Life of the Mind im Jahr 1978 [deutsch: Vom Leben des Geistes, München 1979], das Hannah Arendt zu Lebzeiten nicht mehr vollenden konnte, sind umfangreiche Anthologien ihrer Schriften erschienen. Diese Schriften unterteilen sich in drei Kategorien: Briefwechsel, Sammlungen unveröffentlichter oder noch nicht in Buchform erschienener Aufsätze (sowohl in englischer wie in deutscher Sprache) und ihr Denktagebuch, das 2002 in Deutschland herauskam und, ungeachtet seines Umfangs von rund 1500 Seiten und seines Preises von knapp 120 €, schon nach einem Jahr in die zweite Auflage ging. Als ich Arendts Biographie schrieb, hatte ich zwar nicht das Denktagebuch zur Verfügung, wohl aber einen Großteil der Aufsätze.
Am Ende werden es fünf Bände mit Aufsätzen sein, die unter der umsichtigen und gelehrten Herausgeberschaft meines Freundes Jerome Kohn, des letzten Assistenten und nun literarischen Nachlassverwalters Hannah Arendts, erscheinen sollen. 1994 wurden die Essays in Understanding publiziert.[3] Responsibility and Judgement[4] erschien 2003 bei Schocken Books, wo Arendt als Herausgeberin gearbeitet und dem amerikanischen Publikum Franz Kafka zugänglich gemacht hatte. Es enthält einen langen Text über Moralphilosophie, den Kohn auf bewundernswerte Weise aus der Rohfassung von Vorlesungsmanuskripten erstellt hat. In The Promise of Politics findet sich ein buchlanges Manuskript über Marx und andere wichtige Vorlesungen.[5] Mittlerweile ist unter dem Titel The Jewish Writings auch eine Sammlung von Arendts Schriften zum Judentum erschienen.[6] Ein Band mit kurzen Essays aus dem Denktagebuch ist geplant.
In den nächsten Jahren wird auch eine Sammlung von Briefen erscheinen, und man wird schließlich Arendts gesamten Briefwechsel überblicken können (der in der New School bereits in der digitalisierten Version der Library of Congress Arendt Papers einsehbar ist). Unter den bereits veröffentlichten Briefwechseln sind die 1985 auf Deutsch, 1992 auf Englisch erschienenen Briefe, die Arendt mit Karl Jaspers wechselte – der zugleich Mentor, Vaterfigur und Freund war –, schon in den Rang eines Klassikers des 20. Jahrhunderts für dieses Genre avanciert. Alle künftigen Historiker der europäisch-amerikanischen Welt werden von ihren detaillierten, fundierten – und erstaunlich weitsichtigen – Reflexionen über die Krisen der Republik im Nachkriegsamerika und über Deutschlands politischen Wiederaufbau und sein Ringen um eine »Vergangenheitsbewältigung« nach dem Ende des Nationalsozialismus profitieren.[7]
Die Briefe, die sich Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher, ein gebürtiger Berliner aus der Arbeiterklasse, ein Autodidakt und charismatischer Intellektueller, im Laufe der 35 Jahre ihrer Partnerschaft schrieben, sind der Inbegriff eines Gesprächs zwischen Liebenden, das in all seinen Facetten – der Intimität, der Emigration, der kulturellen Anpassung, des Ringens um Erfolg, der Krankheit, des Verlusts und des Staunens über die neue Welt – ein Leben lang aufrechterhalten wurde.[8] Durch den Briefwechsel gewinnt man eine gewisse Vorstellung von Blüchers philosophischen Projekten – denn er war ein Lehrender, aber kein Autor –, insbesondere von seiner anhaltenden Verehrung für Sokrates (der ja wie er selbst Lehrender und nicht Autor war) und von seiner Hochachtung für Jaspers' Vision einer kosmopolitischen Philosophie, eines Gesprächs mit Philosophen aus der ganzen Welt, deren kulturelles Erbe bis in die »Achsenzeit« (800 – 500 v. Chr.) zurückreicht. Was der Briefwechsel aber am eindrücklichsten zeigt, ist, wie Arendt und Blücher einander in der Kommunikation jene sicheren »vier Wände« eines Zuhauses gaben, einen Ort, an dem sich beide auf die Loyalität und die rückhaltlose Aufrichtigkeit im Hinblick auf die Stärken und Schwächen und die geteilten Hoffnungen des anderen verlassen konnten.
Arendts Freundschaft mit Mary McCarthy findet sich in einem geistreichen, oft bissigen, herrlich schwatzhaften Meinungsaustausch zu politischen und kulturellen Themen dokumentiert. Im Vertrauen ist der amerikanischste Briefwechsel Arendts, ein Buch, das für alle, denen das literarische Leben Amerikas im zwanzigsten Jahrhundert am Herzen liegt, eine wichtige Lektüre darstellt. Ihre Korrespondenzen mit dem bedeutenden, aber immer noch wenig bekannten Hermann Broch und mit dem Zionistenführer Kurt Blumenfeld wird vermutlich nicht so schnell ins Englische übersetzt werden und somit außerhalb der deutschen Universitäten kein größeres Publikum finden.[9]
Der Briefwechsel zwischen Arendt und Jaspers, die meisten der zwischen Arendt und Blücher ausgetauschten Briefe (bis auf einige Briefe aus der Zeit vor dem Krieg, die erst später auftauchten) und Arendts Seite der Korrespondenz mit Mary McCarthy standen mir bei der Arbeit an dieser Biographie zur Verfügung. Die Korrespondenzen mit Broch und Blumenfeld gab es noch nicht in Buchform, doch ich hatte alle Briefe gelesen, die in...