Das schöne Gegengewicht der Welt
Mit Rilke durch Venedig
»Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wußte im voraus, wohin er sich wenden würde. (…) So ergab es sich immer nur durch Zufall, wenn man ihm begegnete. Man stand in einer italienischen Galerie und spürte, ohne recht gewahr zu werden, von wem es kam, ein leises, freundliches Lächeln einem entgegen.«1
Kreuz und quer reiste Rilke durch Europa, er besuchte Russland und fuhr auf dem Nil, er lebte ebenso selbstverständlich in der Worpsweder Provinz wie in der Weltstadt Paris oder auf einem abgelegenen Adelssitz im Böhmischen. Und immer wieder in Venedig: Markusplatz und Lido, Dogenpalast und Canal Grande waren ihm bestens vertraut. Zehnmal besuchte er die Stadt, zuerst an einem Wochenende im März 1897, zum letzten Mal am 13. Juli 1920. Venedig zog der Dichter allen anderen Orten in Italien vor. Florenz ließ er nach seiner Jugend links liegen, auch dichterisch, Capri inspirierte ihn immerhin zu einigen seiner schönsten Naturgedichte. Rom lehnte er gänzlich ab. Überall nur »unlebendige und trübe Museumsstimmung«,2 klagte er und las in Rom lieber Kierkegaard auf Dänisch. Venedig dagegen blieb ihm Sehnsuchtsort und immerwährende Herausforderung: »Ich kann keine Zeitung, kein Buch im Vorübergehen mit dem Blicke streifen seit einer Zeit, ohne das Wort Venise zu lesen; es bildet sich im letzten Augenblick unter meinen Augen, wohin ich auch sehe.«3
Reisen war für Rilke nicht einfach Erholung, Hobby oder Ablenkung vom Alltag. Reisen war seine Passion, seine Lebenshaltung – und war Arbeit, Teil seiner Profession als Dichter. Rilkes Reisen dienten nur dem einen Ziel: Immer suchte er Impulse, Anregungen, Ideen für sein Schreiben. Dabei machte er es sich nie leicht. Auf dem Markusplatz sitzen, die Stimmung spüren und aufschreiben – so entstanden Rilkes Gedichte nicht. »Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge (…). Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, (…) an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten …«4 Unter den vielen Reisezielen Rilkes stellte Venedig eine besondere Herausforderung dar, denn keine andere europäische Stadt besitzt eine solch reiche künstlerische Tradition, so viele Kunstwerke auf engstem Raum – die ganze Stadt ist ein europäisches Gesamtkunstwerk, »beladen von Literatur«, besungen, bemalt, bedichtet, beschrieben. Eine eigene Haltung zu Venedig zu finden war für den Dichter eine lebenslange Aufgabe. Mit keiner Stadt – außer Paris – hat Rilke sich so intensiv auseinandergesetzt: »Denn wir werden nicht fertig miteinander von einem zum anderen Mal, und es wär gut zu wissen, was wir uns wollen, eines vom andern.«5 Eine Herausforderung war Venedig umso mehr, als Rilke sich weder auf Traditionen berufen wollte noch konnte. Rilke ging eigene Wege, in der Stadt und literarisch. »Umzulernen ist es von Anfang an.« Seine Texte liefern keine bekannten Stimmungsbilder der Serenissima als einer dekadenten Stadt. Zuerst näherte auch er sich ihr zwar ganz konventionell. Er las Goethes »Italienische Reise«. Die legte er aber gleich zur Seite, zu nüchtern, wie er fand. Auch den »Baedeker«, seit Mitte des 19. Jahrhunderts beliebtester Reiseführer der Bildungsbürger, kritisierte er wegen seiner »rechthaberischen Sternchen«. Das hielt den jungen Dichter damals allerdings nicht davon ab, das Handbuch literarisch zu verwerten: Seine ersten Gedichte klingen wie Baedeker in Versen. Und obwohl er sich stets über seine Mittouristen und den Massentourismus beklagte, dessen erste Auswüchse er in Venedig mitbekam, profitierte er doch, wenn es nötig war, von touristischen Einrichtungen. Fahrkarten und Zugverbindungen bestellte er in Cooks Reisebüro – das war bequem und am billigsten. Auf seine erste längere Venedigreise 1907 nahm er einen ganzen Stapel sehr wertvoller alter Bücher mit, die ihm der Wiener Richard Beer-Hofmann geliehen hatte. Rilke revanchierte sich später, indem er dem Freund das Gedicht »Venezianischer Morgen« widmete. Auf Schloss Duino, nicht weit von Venedig an der gegenüberliegenden Adria-Küste gelegen, las er monatelang in der Schlossbibliothek alles, was er über Venedig finden konnte, auf Italienisch, Französisch, Deutsch. In Venedig besuchte er Archive und Bibliotheken. Selbstverständlich las Rilke auch Literarisches. Die Sonette von Gaspara Stampa, Venedigs bedeutendster Dichterin, wollte er sogar übersetzen. Dazu kam es zwar nicht, sie ging aber auf andere Weise in seine Dichtung ein. In der ersten »Duineser Elegie« erinnert er an ihren Namen.
Auch das Allerneueste las Rilke. Thomas Manns Novelle »Tod in Venedig« besorgte er sich 1912, gleich nach Erscheinen. »Von meisterhafter Fraktur« der erste Teil, »nur peinlich« der zweite Teil, lautete sein Urteil (Der genaue Wortlaut findet sich beim Spaziergang 9).
Rilke war erstaunlich belesen für jemanden, der von sich selbst sagte, er sei »fast ohne Kultur«. Er las viel, aber unsystematisch. »Rilkes Bildung war (…) die eines Liebhabers, wählerisch, sprunghaft, den Gegenstand aber sehr rein in sich aufnehmend und wiedergebend.«6 Und wie ein Liebhaber vermittelt uns Rainer Maria Rilke sein Wissen auch. Das Gedicht »Ein Doge« (1907) z. B. beschreibt venezianische Regierungskunst in nuce – aber nicht in dürren akademischen Worten, nicht gleich auf den ersten Blick zu erobern und zu verstehen, sondern poetisch verdichtet.
Mehr noch als das Lesen liebte Rilke das Spazierengehen. Rilke war ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Stefan Zweig, der ihn in Paris dabei oft begleitete, meinte sogar, eine Stadt »bis in ihre letzten Winkel und Tiefen zu kennen, war für ihn Leidenschaft, fast die einzige, die ich je an ihm wahrgenommen«.7 Das galt auch für Venedig. Rilke durchstreifte tagelang die Stadt, manchmal mit der Gondel, meist aber zu Fuß. »Meine Lektüren kamen bei diesem letzten Aufenthalt gar nicht zur Verwendung <–> höchstens, daß ich unter dem Einfluß der neuen topographischen Ausbildung die Stadt nun erst recht mir aneignete von S. Alvise bis S. Pietro di Castello in ihrer ganzen Ausbreitung.«8 In diesem untouristischen nordöstlichen Gebiet Venedigs fand der Dichter 1920 nach langen Jahren der Abwesenheit noch immer jede Straße, die er suchte. Ohne sich zu verirren, wie er stolz vermeldete. Stolz war er auch darauf, »ein so inkommensurables Wesen wie Venedig« so gut zu kennen, dass ihn Fremde »in der Vielwendigkeit der ›Calli‹ mit Erfolg nach jedem Ziele fragen konnten, das ihnen erwünscht war«.9
Häufig spazierte er allein. Oft begleitete ihn Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, seine Gastgeberin in Venedig. Sie hatten sich 1909 in Paris kennengelernt, vermittelt hatte ein gemeinsamer Freund, der Philosoph und Essayist Rudolf Kassner (übrigens einer der wenigen männlichen Freunde Rilkes). Die Fürstin mochte Rilke sofort, auch wenn sie ihn sich anders vorgestellt hatte, »nicht diesen ganz jungen Menschen, der fast wie ein Kind aussah; er erschien mir im ersten Augenblick sehr häßlich, zugleich aber sehr sympathisch«.10 Sie erfand einen neuen Namen für ihn: »Dottore Serafico«, er nannte sie stets respektvoll »liebe Fürstin«. Mehr als zehn Jahre lang war sie der wichtigste Mensch in seinem Leben, mütterliche Freundin, großzügige Mäzenin und herzliche Gastgeberin in Duino und in Venedig. Dort wohnte er die meiste Zeit in ihrem »echtvenezianischen Mezzanin« am Canal Grande. Sie war gebürtige Venezianerin, aus ältestem Adel und eine der reichsten Frauen Österreichs. Außerdem immens interessiert an Musik, Malerei, Literatur, sie übersetzte sogar Dante mit Rilke zusammen. Die Fürstin liebte es, Künstler und Gelehrte in geselligen Runden zu versammeln. Ihr Schloss Duino war Zentrum der kulturellen Elite Europas. Vom italienischen Weltstar Eleonora Duse bis zum Berliner Museumsdirektor Bode konnte man dort vor dem Ersten Weltkrieg alle treffen, auch den gesamten europäischen Hochadel, einschließlich den Ehemann der Fürstin. Marie von Thurn und Taxis war eine wirkliche Dame, gebildet, großzügig und lebensklug. Sie half dem Dichter, wo sie konnte. Wenn der Dichter zum Beispiel Probleme mit Frauen hatte (was ziemlich oft vorkam), fand sie die passenden, meist deutlichen Worte.
Gemeinsam besuchten Fürstin und Dichter Kirchen, Kunstausstellungen und Cafés. Ein solcher Venedig-Tag verlief so: Nach einem »kleinen Frühstück in echtvenezianischem Milieu, im ›Fenice‹«, ging es in die Frari-Kirche, in die Gemäldesammlung Querini-Stampalia oder zum verwunschenen Giardino Eden auf der Giudecca. Von dort dann ein Abstecher »zu einem Antiquar, der uns Stoffe zeigte; ebenso unwahrscheinlich prachtvoll wie die Blumen; Rilke hatte für schöne Stoffe eine große Vorliebe«.11
3. Ballsaal der Ca' Rezzonico. Mit Ehefrau Clara besuchte Rilke 1903 den Palast.
Wenn er irgendwo hineingelangen wollte, in die damals private Ca'...