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E-Book

Die Macht der einen Zahl

Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts

AutorPhilipp Lepenies
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl186 Seiten
ISBN9783518733479
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Keine statistische Kennzahl beeinflusst die aktuelle Politik stärker als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Noch in den dreißiger Jahren existierten in England und in den USA unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen abbilden ließen. Nur eine dieser Methoden, der Vorläufer des BIP, bewährte sich im Zweiten Weltkrieg als Planungs- und Informationsinstrument und wurde in der Nachkriegszeit von den USA mit aller politischen Macht im Westen als Standard etabliert. Zusammen mit der Idee des Wachstums gab diese Methode Hoffnung auf eine Zukunft unendlichen materiellen Wohlstands. Obwohl mit seiner Hilfe nur ganz bestimmte Probleme gelöst werden sollten, monopolisiert das BIP seitdem den Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge.

Philipp Lepenies, geboren 1971, ist &Ouml;konom und Professor f&uuml;r Politikwissenschaft an der Freien Universit&auml;t Berlin. Im Suhrkamp Verlag ist von ihm zuletzt erschienen: <em>Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens</em>.

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Leseprobe

1.?Worum es geht: Bruttoinlandsprodukt, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen


Konzeptuell ist das BIP ein Produkt. Rechnerisch ist es eine Summe. Die Idee des BIP basiert auf der Annahme, dass man sämtliche in einem Land bereitgestellten Güter und Dienstleistungen als ein einziges aggregiertes Gut betrachten kann, dessen Geldwert sich berechnen lässt. Das erklärt auch, warum man den Begriff im Singular verwendet und nicht etwa von »Bruttoinlandsprodukten« eines Landes spricht.

In der einfachsten Definition bestimmt sich das BIP als der »Wert der im Inland erwirtschafteten Leistung einer Volkswirtschaft in einer Periode«.[1] Er bezieht sich auf alle »im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden«.[2]

Unter dem Wert ist der Betrag in Geldeinheiten zu verstehen. Nicht Stückzahlen oder die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen sind für das BIP relevant, sondern der aufaddierte Preis aller produzierten Güter. Dabei wird jedoch beispielsweise nicht der Endpreis eines Autos erfasst, sondern nur die Wertschöpfung, die der Autohersteller als letzter in der Produktionskette hinzufügt; der Wert aller Vorleistungen, die der Autobauer am Markt bezogen hat, um das Auto herstellen zu können (Rohstoffe, Dienstleistungen, Vorprodukte), muss vom Preis des Fahr16zeugs abgezogen werden. Auf diese Weise werden Doppelzählungen vermieden, denn der Wert der Vorleistungen wird bereits beim Reifenhersteller oder dem Polsterer, der die Sitze zum Auto beisteuert, erhoben und separat erfasst.[3]

Die Bewertung anhand von Preisen impliziert, dass nur Güter und Dienstleistungen in die Berechnung eingehen, die am Markt gehandelt werden. Was keinen Marktpreis hat, ist für das BIP bedeutungslos. Dazu gehören etwa die unbezahlte Hausarbeit oder die Nutzung von Naturressourcen, die aus der Sicht einer Marktlogik unentgeltlich zur Verfügung stehen.

Aus der Veränderung des BIP gegenüber dem Wert des vorausliegenden Vergleichszeitraums bestimmt sich das Wachstum. Es wird in Prozent ausgewiesen und ist preisbereinigt: Man versucht, die Inflation herauszurechnen. Sonst würde ein bloßer Anstieg des Preisniveaus bereits als BIP-Wachstum erscheinen, auch wenn die Menge der hergestellten Güter und Dienstleistungen gar nicht zugenommen hat.[4]17

Brutto bedeutet, dass die während des Produktionsprozesses auftretende Wertminderung des angelegten Kapitals (insbesondere die Abnutzung der Maschinen) unberücksichtigt bleibt. Berechnet man diesen Verschleiß in Form von Abschreibungen mit ein, wird aus dem Bruttoinlandsprodukt das Nettoinlandsprodukt.

Um das Inlandsprodukt handelt es sich, weil nur wirtschaftliche Aktivitäten von Individuen erfasst werden, die innerhalb eines bestimmten Wirtschaftsgebiets?– häufig in den Grenzen des jeweiligen Nationalstaats?– erbracht werden (Inlands- oder Arbeitsortkonzept). Nationalität und Wohnsitz des oder der Einzelnen spielen dabei keine Rolle. In das BIP der Bundesrepublik findet die Wertschöpfung einer in Deutschland produzierenden chinesischen Firma ebenso Eingang wie die Leistung eines Pendlers, der täglich von Polen aus zu seinem Arbeitsplatz nach Deutschland fährt, nicht jedoch die Wertschöpfung einer deutschen Firma, die in der Volksrepublik produziert, oder das Einkommen eines Angestellten, der im deutschen Kehl lebt und im französischen Straßburg arbeitet.

Das Bruttosozialprodukt ist vom Ansatz der Erfassung her mit dem BIP identisch (auch hier geht es um die Summe der Wertschöpfung). Der wichtige definitorische Unterschied liegt darin, dass das Bruttosozialprodukt nicht auf dem Inlands-, sondern dem Inländerkonzept beruht. Das heißt, das Bruttosozialprodukt erfasst die Wertschöpfung, die alle Menschen mit permanentem Wohnsitz in einem bestimmten Land leisten (die Inländer), egal ob sie 18das in den Grenzen des Landes tun, in dem sie leben, in den Nachbarländern oder in anderen Teilen der Welt.

Mit zunehmender Globalisierung wurde es umso wichtiger festzustellen, welche Wirtschaftsleistung innerhalb des eigenen Staatsgebietes erbracht wird. Diese Angabe?– die das BIP macht?– schien für kurzfristige Analysen der wirtschaftlichen Situation des Landes aussagekräftiger als das Bruttosozialprodukt. Deshalb stellten die USA ihre Berechnungsmethode 1991 entsprechend um. In Deutschland fand der Wechsel vom Bruttosozialprodukt hin zum BIP im Jahre 1997 statt.

 

Die methodische Besonderheit der Berechnung des BIP (analog gilt das auch für das Bruttosozialprodukt) besteht darin, dass es auf drei verschiedene Arten ermittelt werden kann. Laut Definition müssen die jeweiligen Ergebnisse übereinstimmen. So lässt sich der Wert des BIP auf unterschiedliche Arten kontrollieren. Dadurch soll die ermittelte Zahl kohärenter und plausibler werden.

Das BIP berechnet sich entweder nach der Produktion (Entstehung), den Ausgaben (Verwendung) oder der Einkommensverteilung. Beim Produktionsansatz wird das BIP anhand der oben beschriebenen Bruttowertschöpfung bei den Produzenten ermittelt. Der Ausgabenansatz hingegen erfasst, was die Endverbraucher für Waren und Dienstleistungen ausgeben, also wie hoch der Wert der Waren und Dienstleistungen ist, die sie über den Markt beziehen. Bei diesem Ansatz steht die Nachfrageseite im Vordergrund. Private Konsumausgaben, die Staatsausgaben, die Bruttoinvestitionen und die Exporte werden addiert. Der Wert der Importe wird (als der sogenannte Außenbeitrag) abgezogen. Auch diese Berechnungsform ergibt das BIP.

Die dritte Berechnungsform, die Verteilungsrechnung, 19basiert auf der Erfassung der Einkommen, die durch den Produktionsprozess innerhalb der betrachteten Periode entstanden sind. Dabei werden zunächst die Arbeitnehmerentgelte gemäß dem Inländerkonzept erfasst und zu den Unternehmens- und Vermögenseinkommen hinzugerechnet. Dies ergibt das Volkseinkommen, das auch als »Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten« bezeichnet wird. Es ist, vereinfachend gesagt, die Summe der Einkommen, die den in einer Volkswirtschaft lebenden Menschen zur Verfügung stehen.

Wenn man zu diesem Betrag die Abschreibungen sowie die Produktions- und Importabgaben an den Staat addiert und staatliche Subventionen subtrahiert, dann kommt man auf das Bruttonationaleinkommen. Es ist numerisch mit dem Bruttosozialprodukt identisch, nur dass es hier von der Einkommensseite her berechnet wird.[5] Zieht man davon das sogenannte Primäreinkommen ab, das aus der übrigen Welt bezogen beziehungsweise an die übrige Welt gezahlt wird (dazu gehören neben Arbeitseinkommen auch Zinsen), wird aus dem Inländerkonzept das Inlandskonzept, und der ermittelte Betrag entspricht wiederum dem BIP.

In Deutschland wird das BIP lediglich auf der Entstehungs- und Verwendungsseite berechnet. Für eine Erhebung auf der Verteilungsseite fehlen notwendige Daten über die Unternehmens- und Vermögenseinkünfte. Diese werden als Restgröße berechnet.[6]

20Das BIP und seine Berechnung sind Teil der sogenannten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR oder national accounts). Sie sollen ein »möglichst umfassendes und übersichtliches quantitatives Gesamtbild des wirtschaftlichen Geschehens« eines Landes bieten.[7] Es handelt sich dabei um ein Konten- und Tabellensystem, mit dem der Wirtschaftsablauf und die wirtschaftlichen Tätigkeiten von Personen und Institutionen in Zahlen ausgedrückt werden. Mithilfe dieser Konten und Tabellen lässt sich das BIP überhaupt erst berechnen.

Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen beruhen auf dem System der doppelten Buchführung. Den Einnahmen, die in einer Tabelle erfasst werden, müssen Ausgaben in einer anderen Tabelle entsprechen. Die Daten werden unter Rückgriff auf aktuelle wirtschaftsstatistische Erhebungen (Finanz- und Steuerstatistiken, Daten der Bundesagentur für Arbeit), die Geschäftsstatistiken und Jahresabschlüsse großer Unternehmen, Haushaltsbefragungen und Informationen von Verbänden ermittelt.[8] Die BIP-Berechnung ist der prominenteste Teil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Andere Teile sind die Input-Output-Rechnung, die Vermögensrechnung und die Erwerbstätigenrechnung.

Die Methodik der BIP-Erfassung anhand der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ist international harmonisiert. Für die Europäische Union gilt das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) von 1995, das weitgehend mit dem weltweit angewandten System of National Accounts (SNA) der Vereinten Nationen von 2008 übereinstimmt. Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sind Teil der amtlichen Statistik, de21ren Erstellung zu den hoheitlichen Aufgaben eines Staates gehört und daher von staatlichen Organen durchgeführt wird. In Deutschland ist dafür das Statistische Bundesamt zuständig.

Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ermöglichen ein Abbild der Kreislaufbeziehung aller wirtschaftlich tätigen Menschen einer Gesellschaft. Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften beginnen oft mit einer...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
[Cover]1
[Informationen zum Buch oder Autor]2
[Titel]3
[Impressum]4
Inhalt5
Einleitung9
1. Worum es geht: Bruttoinlandsprodukt, Brutto- sozialprodukt und Volkseinkommen15
2. Vorgeschichte: William Petty und die Ökonomie23
William Petty und die Political Arithmetick23
Petty und die Folgen: Nationalprodukt bei Adam Smith37
Malthus und Marshall42
Pigou und die Wohlfahrt45
3. Die Frustrationen des Colin Clark: England49
Volkseinkommen und Verhütung49
Clarks Schriften zum Volkseinkommen56
Die Conditions of Economic Progress62
Der Einfluss der Volkseinkommensberechnung auf die britische Politik67
4. Simon Kuznets und die Politik des Bruttosozial-produkts: die Vereinigten Staaten78
Empirie und Vorsicht78
Volkseinkommen und Große Depression85
Volkseinkommen in der Encyclopedia of the Social Studies (1933)88
Die offizielle Schätzung von 193493
Erste politische Erfolge96
Keynes und der Siegeszug des Bruttosozialprodukts98
Das Bruttosozialprodukt bewährt sich102
Berechnungen in Krieg und Frieden111
Der Konflikt um die Konten117
5. Krieg, Kidnapping und Datenraub: Deutschland123
Kaiserreich und Weimarer Republik123
Wirtschaftsstatistik und Nationalsozialismus135
Wie das Bruttosozialprodukt nach Deutschland kam140
Die deutsche Bruttosozialproduktberechnung145
6. Der endgültige Triumph des Bruttosozialprodukts152
Transformation, Beschäftigung und Produktivität152
Internationale Harmonisierung157
Die ökonomische Theorie des Wachstums161
Wachstum im Wettstreit der Systeme166
Der Beginn einer neuen Zeit170
Fazit179

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