»Wo warst du denn so lange?« Das war die erste Frage meines Sonnenkindes an mich, als ich anfing, mich um es zu kümmern. Tatsächlich war die kleine Julia über Jahre nicht mehr so richtig in Erscheinung getreten. Als berufstätige Mutter hatte ich mir angewöhnt, meinen Alltag durchzuplanen und zack, zack eins nach dem anderen abzuarbeiten. Ich bin effektiv und vernünftig geworden, führe To-do-Listen, pflege meinen Kalender und stelle rechtzeitig den Müll raus. Keine Zeit für Sperenzchen. Keine Zeit für die kleine Julia, die am liebsten staunend-verträumt die Straße hinunterblickt und dabei wahrnimmt, wie ein sanfter Wind die welken, pergamentartigen Blätter vor sich hertreibt.
Solltest du beschlossen haben, dich mehr mit deinem Sonnenkind zu beschäftigen und auch die Sonnenkind-Übungen im dritten Kapitel des Buches auszuprobieren, musst du mit Widerständen rechnen, inneren und äußeren. Wahrscheinlich wird dich dein inneres Erwachsenenselbst mit Vorbehalten und Einwänden bombardieren: »So was macht man doch nicht.«– »Das ist ja kindisch.« – »Wozu soll das gut sein?« – »Was, wenn die anderen das sehen?« Wenn du anfängst, dein inneres Sonnenkind in dein Leben zu holen, sind genau diese inneren Hürden zu überwinden. Falls du pubertierende Kinder hast, wirst du höchstwahrscheinlich auch wenig ermutigendes Feedback von außen bekommen. »Mann, Mama, du bist so was von peinlich!« Nichts ist für Jugendliche furchtbarer, als wenn die Mutter mit lauter Sonnenkind-Stimme eine Schnulze im Radio mitsingt oder der Vater anfängt, über die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu hüpfen, weil ihm das als Kind schon so viel Spaß gemacht hat. Kleinere Kinder hingegen werden dich dafür lieben, wenn du mal aus der Rolle fällst. Sie gucken dich dann begeistert von der Seite an. »Echt jetzt?«, steht hoffnungsvoll auf ihre Stirn geschrieben. Dein inneres Sonnenkind kann dir dabei helfen, trotz innerer und äußerer Widerstände das eine oder andere auszuprobieren und Hemmungen zu überwinden. Dein Sonnenkind ist ja auch das charmante Kind mit den großen Augen und dem unwiderstehlichen Lächeln. Es kann zum Erwachsenen sprechen und etwas sagen wie etwa: »Ja, ich verstehe, dass dir das peinlich ist, aber bitte, bitte lass es uns mal versuchen. Nur ein Mal.«
Das ist für dich natürlich nur wahrnehmbar, wenn du einen guten Kontakt zu deinem Sonnenkind aufgebaut hast. Wie kann man das machen mit dem Kontakt? Zunächst einmal musst du den Kleinen/die Kleine angemessen ansprechen. Insbesondere dann, wenn dein Sonnenkind viel Schelte abbekommen hat, kann es sein, dass es sich abgekapselt hat, scheu ist und ein bisschen zurückgezogen lebt. Es lässt sich dann gerne von dir hervorlocken, wenn du mit ihm die richtige Sprache sprichst: albern, phantasievoll, übermütig und frohgemut. Was es gar nicht leiden kann, ist, wenn du den vernünftigen Erwachsenen hervorholst und beispielsweise sagst: »So, Sonnenkind. Jetzt werde ich mich mal mit dir beschäftigen, schließlich brauche ich dich zur Burnout-Prophylaxe. Dafür habe ich genau 15 Minuten eingeplant, und danach muss ich wieder an meine Buchhaltung.« Eine Bemerkung von der Sorte »Beeil dich – hurry up.« Die Transaktionsanalytiker (von Eric Berne und seinem Ansatz habe ich ja schon weiter oben berichtet) haben noch mehrere solcher »Antreiber«-Muster, die aus dem strengen Eltern-Ich kommen, zusammengetragen. Für dein Sonnenkind sind diese inneren Antreiber eher abschreckend.
- Das »Sei stark«-Muster. Hier würde das strenge Eltern-Ich ungefähr so zum Sonnenkind sprechen: »Sei doch nicht so albern. Gib dir keine Blöße. Mach dich nicht lächerlich.«
- Das »Sei perfekt«-Muster. Hier würde die strenge Botschaft an das Sonnenkind ungefähr so lauten: »Ha, du willst ein Bild malen? Ein Gedicht schreiben? Du kannst es nicht. Schuster, bleib bei deinen Leisten. Mach lieber, was du kannst, und das richtig. Schließlich hast du noch genug Dinge da liegen, die noch nicht zu 100 Prozent fertiggestellt sind.« Oder: »Beweg dich nicht zu viel, dann verknittert die perfekt gebügelte Bluse.«
- Das »Streng dich an«-Muster: »Das kann doch nicht so schwer sein, mal das Sonnenkind hervorzuholen und kreativ zu sein. Du musst dir nur Mühe geben. Jetzt komm schon. Du versuchst es einfach nicht intensiv genug.«
- Das »Mach es allen recht«-Muster: »Was sollen denn die anderen denken, wenn du hier einfach herumhopst? Spinnst du? Erst gestern hat Matthias komisch geguckt, als du viel zu ausladend gestikuliert hast. Also lass es lieber bleiben.«
All diese inneren Antreiber sind nicht geeignet, um mit deinem Sonnenkind in Kontakt zu kommen, im Gegenteil, sie sind das beste Mittel, dein Sonnenkind zu vertreiben. Es wird sich in irgendeine Ecke verkriechen und so schnell nicht mehr rauskommen. Du müsstest also so mit deinem Sonnenkind sprechen, wie du mit Kindern sprichst, die du magst. Liebevoll!
AUSFLUG INS SONNENKINDLAND
Meistens haben wir, so wie meine Patentochter Lily, eine unmittelbare Vorstellung davon, wie unser Sonnenkind ist. Unsere intuitive Vorstellung vom Sonnenkind hat oft viel Autobiografisches, kann aber auch von unseren Lebenserfahrungen abweichen.
Der nun folgende Fragenkatalog soll einen ersten Kontakt zu deinem inneren Sonnenkind ermöglichen. Folge dabei einfach der Intuition, deiner Phantasie, die dir eine Mischung aus Echtem und Erdichtetem zur Verfügung stellen wird. Lass die Antworten so stehen, wie sie kommen – kein Kritisieren, keine »Realitätsüberprüfung«, kein Kommentar.
Stell dir dein Sonnenkind vor.
- Wie sieht es aus? Wie groß ist es? Welche Haare hat es? Was hat es an?
- Wie alt ist es?
- Was isst es gern? Was ist sein Lieblingsgericht? Die köstlichste Süßigkeit? Das Lieblingsgetränk?
- Was spielt es gerne? Wie heißt sein Lieblingsspiel?
- Was ist sein Lieblingsspielzeug? Wie heißt die Lieblingspuppe? Der heiß geliebte Kuschelbär?
- Wer sind die Menschen, die deinem Sonnenkind gutgetan haben? Vater? Mutter? Geschwister? Tanten? Omas? Opas? Freunde? Nachbarn? Weißt du ihre Namen noch?
- Wohin ging dein erster Urlaub?
- Welche Fernsehsendungen haben deinem Sonnenkind gefallen? Welche Fernsehsendungen gefallen ihm heute?
- Wer waren die Helden deiner Kindheit? Winnetou? Heidi? Jim Knopf? Ronja Räubertochter? Connie? Oder Opa?
- Was fühlt dein Sonnenkind, wenn es begeistert ist? Kribbelt es im ganzen Körper? Oder hüpft das Herz vor Freude? Wo im Körper ist es am deutlichsten zu spüren?
Du kannst auch ein Fotoalbum mit deinen Kinderbildern studieren oder, falls es keine Fotoalben gibt, Kinderbilder von dir zusammentragen. Vielleicht kannst du hierfür sogar Kontakt mit deinen Eltern/Großeltern/Bezugspersonen aufnehmen und gleichzeitig ein paar Sonnenkind-Geschichten abstauben. Du kannst deine Eltern/Großeltern/Bezugspersonen nach dir als Kind fragen:
- Was habe ich gerne gemacht als Kind? Wovon konnte ich nicht genug kriegen? Womit habe ich mich am liebsten beschäftigt?
- Was konnte ich gut? Was habe ich gut gemacht?
- Was mochte ich? Wen mochte ich?
- Wann war ich glücklich?
- Was war meine Leibspeise?
Sei deinen Eltern/Großeltern/Bezugspersonen nicht gram, wenn sie nicht mehr allzu viel wissen. Das Gedächtnis vergisst Dinge, die wir nicht unmittelbar brauchen, und dazu gehören leider auch die Erinnerungen an die eigenen Kinder. Freu dich über jedes Fitzelchen, das dennoch zutage tritt.
Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur.
SPRUCH AUS DEM POESIEALBUM
Es ist wichtig, dass du nur die positiven Fotos heraussuchst. Also nicht das Foto, auf dem du Tante Martha ein Küsschen geben musstest, obwohl du am liebsten weggelaufen wärst, weil Tante Martha nach Kölnischwasser roch und du sie sowieso nicht leiden konntest. Suche die Bilder, mit denen du wirklich schöne Erinnerungen verbindest, wie das vom Topfschlagen beim Kindergeburtstag oder das, wo du wild mit deinem älteren Bruder um die Wette geschaukelt hast. Erneut kannst du dich fragen:
- Was hat mich glücklich gemacht?
- Wer hat mich glücklich gemacht?
- In welcher Umgebung habe ich mich wohlgefühlt?
- Wie war eigentlich der Tag, an dem das Foto gemacht wurde, auf dem ich so happy aussehe?
SONNIGE ERINNERUNGEN
Das Suchen und Finden deines Sonnenkindes ist gleichermaßen eine Reise in deine eigene Erinnerung wie auch ein Konstruieren, ein Tasten, ein Verdichten. Vielleicht im Gegensatz zu sonst einmal anders gepolt. Diesmal suchst du nicht nach den Katastrophen, den Verletzungen und Kränkungen, sondern nach den sonnigen Momenten, dem Wohlbefinden. Dich mit dem Sonnenkind zu beschäftigen bedeutet, ressourcenorientierte Biografiearbeit zu betreiben. Und das geht in jedem Alter. Im Gespräch mit der Schweizer Publizistin Felizitas Schönborn erinnert sich die über 80-jährige Astrid Lindgren: »Die Erinnerung an meine Kindheit in ›Bullerbü‹ lebt immer noch in meinem Herzen weiter. Bullerbü heißt eigentlich ›Näs‹ und war ein Pfarrhof, den mein Vater gepachtet hatte. Wenn ich daran denke, dann kehrt diese Zeit zurück, als wäre es heute. Ich hatte auch ein kleines Lämmchen wie Lisa in den Bullerbü-Büchern und bin wie sie herumgetollt und über Zäune geklettert.«49 Selbst wenn deine Erinnerungen nicht mehr so klar sind wie die von Astrid Lindgren, kannst du dir Erinnerungen...