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E-Book

Erste Hilfe für die Seele

Einsatz im Kriseninterventionsteam

AutorAngélique Mundt
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641195939
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wer hilft, wenn das Leben plötzlich auseinanderbricht? Wenn man gerade den liebsten Menschen verloren hat? Oder bei einem Unfall Schreckliches mitansehen musste? Angélique Mundt ist Psychologin und arbeitet für das Kriseninterventionsteam Hamburg. Sie steht Menschen unmittelbar nach einer Katastrophe zur Seite, spendet Ruhe, Kraft und Orientierung. Sie leistet erste Hilfe für die Seele. In diesem Buch erzählt sie von tragischen Unglücken und Schicksalsschlägen, von erschütternden Erfahrungen und Menschen, die größtes Leid erfahren haben. Und vor allem macht sie vor, wie Hilfe in den schlimmsten Momenten unseres Lebens möglich ist. Sie plädiert für ein aufmerksames und kraftvolles Leben. Sie zeigt, wie man sich Trauer und den eigenen Ängsten stellen und wie man schöne und besondere Momente intensiv erleben kann.

Angélique Mundt wurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich 2005 als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbstständig machte. Sie arbeitete 12 Jahre ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes, das Menschen bei potentiell traumatisierenden Ereignissen »Erste Hilfe für die Seele« leistet. Nach »Nacht ohne Angst«, »Denn es wird kein Morgen geben« und »Stille Wasser« ist »TRAUMA« ihr vierter Roman, der im btb Verlag erscheint. Angélique Mundt lebt in Hamburg.

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Leseprobe

Wie erstarrt

Es war ein Wochenende im November vor ein paar Jahren. Eigentlich ein Wochenende ohne besondere Ereignisse – Hamburg versank im Nebel, und ich entfloh dem tristen Grau, indem ich es mir auf dem Sofa gemütlich machte.

Bis Sonntagabend.

Um sieben Uhr war ich mit einem Mann verabredet, dem ich zuvor erst einmal begegnet war, als ich einen Vortrag bei der Wasserschutzpolizei gehalten hatte. Er hatte mich unbedingt wiedersehen wollen, und seine Einladung hatte sehr charmant geklungen. Wir wollten uns auf ein Glas Wein in einem kleinen Bistro treffen. Ich hatte mich schon das ganze Wochenende darauf gefreut, hatte eine Marlene-Hose und meinen Lieblingspullover angezogen und wollte gerade losgehen, als mein Handy klingelte.

Ich wusste sofort, dass aus meiner Verabredung nichts werden würde. Es war der besondere Klingelton. Dieser Ton, den ich nur den Anrufen von zwei Institutionen zugeordnet habe: der Polizei und der Rettungsleitstelle des Deutschen Roten Kreuzes.

Mit dieser Melodie beginnen alle meine KIT-Einsätze.

Der Disponent der Leitstelle rattert wie Dieter Thomas Heck: »Guten Abend, Frau Mundt, hier ist die Leitstelle, ich habe einen Einsatz für Sie. Ein Tötungsdelikt. Fahren Sie unverzüglich zum Polizeikommissariat 16. Die Telefonnummer lautet …« Er holt nicht einmal Luft dabei.

Verdutzt antworte ich genauso schnell: »Verstanden. Ich bin unterwegs.« Dabei habe ich keinen Bereitschaftsdienst, doch das fällt mir erst ein paar Schrecksekunden später auf.

Ich überlege, was ich mit meiner Verabredung machen soll. Schnell im Restaurant vorbeifahren und Bescheid sagen? Keine Zeit. Umziehen muss ich mich auch noch. Mit der Hose kann ich keinen KIT-Einsatz fahren. Während meine Gedanken rasen und ich überlege, wen ich zuerst anrufen soll, schlüpfe ich in eine Jeans, ein weißes T-Shirt und die dunkelblaue Fleece-Jacke mit dem DRK-KIT-Logo. Dabei fällt mir ein, dass ich gar keine Handynummer meiner Verabredung habe. Mist.

Ich greife nach der Einsatzjacke und werfe einen Blick in den Spiegel. Stimmt, der Lippenstift muss runter.

Ich schnappe mir den KIT-Ausweis, Einsatzmappe, Handy und Autoschlüssel von der Kommode im Flur und überlege, in welcher der nahen Anwohnerstraßen ich mein Auto geparkt habe. Ich muss wenigstens in dem Restaurant anrufen. Was soll ich sagen? Dass da gleich ein netter Mann kommt und ich leider auf dem Weg zum Schauplatz eines Tötungsdelikts bin und dass es deshalb heute Abend nichts wird mit einem Glas Rotwein? Klingt nicht gerade vertrauenserweckend … Aber was kann ich dafür? Und tatsächlich, ich wähle, warte ungeduldig, und die Bedienung ist einigermaßen skeptisch, als ich ihr mein Problem in kurzen Sätzen zu erklären versuche, sie schreibt aber meine Handynummer auf. Ob sie ihm wirklich Bescheid geben wird?

Ich erinnere mich, dass mein Auto in der Nebenstraße schräg gegenüber steht, und mache mich auf den Weg. Das Polizeikommissariat 16 ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Während ich ins Auto steige, überlege ich, welches Team der Mordkommission wohl Dienst hat. Im Laufe der Jahre habe ich einige Kriminalbeamte kennengelernt, und es ist immer gut, im Einsatz ein bekanntes Gesicht wiederzusehen. Auf den Straßen komme ich zügig voran, denn um diese abendliche Uhrzeit ist kaum Verkehr. Ich kann deshalb in Ruhe einen KIT-Kollegen anrufen, der sich ebenfalls sofort auf den Weg macht.

Als ich einen Parkplatz vor dem Polizeikommissariat suche, sind genau sechzehn Minuten seit dem Anruf aus der Leitstelle vergangen. Keine schlechte Zeit. Es sieht jedoch so aus, als bräuchte ich noch einmal so lange, um einen Parkplatz zu finden. Ich stelle mich ins Parkverbot. Zur Not darf ich das. Ich lege mein KIT-Schild gut sichtbar hinter die Windschutzscheibe.

Drinnen schlägt mir das typische Klima entgegen, das in allen Polizeiwachen herrscht: Überheizte Räume, Alkoholausdünstungen, Angstschweiß und während der kalten Jahreszeiten der Mief von regennassen Wollmänteln.

Am Tresen verhandelt der Wachhabende mit einem alten Mann, der schweren Seegang hat, ob er mit seinem Auto nun weiterfahren dürfe und warum der Autoschlüssel in der Hosentasche des Polizisten verschwunden sei.

Ich lächele dem Beamten aufmunternd zu, und er drückt mir kommentarlos die Tür zum Allerheiligsten auf: dem Wachraum, der Schaltzentrale jedes Polizeireviers. Meine gelbe Einsatzjacke ist jedem Polizisten bekannt und wirkt wie ein »Sesam öffne dich«. Sofort kommt mir der Dienstgruppenleiter der heutigen Nachtschicht entgegen. Gut erkennbar an seinen drei silbernen Sternen auf dem Schulterstück.

»Bei euch ist ja was los …«, duze ich ihn, wie alle Rettungskräfte im Einsatz.

Er winkt ab. Alltag. Nicht der Rede wert. Dann schaut er ernst. »Es gibt ein Tötungsdelikt«, sagt er. »Der Täter wird unten in der Zelle erkennungsdienstlich behandelt. Dich brauche ich für den mutmaßlichen Zeugen. Er sitzt im sicheren Raum.« Er wedelt mit den Papieren, die er in der Hand hält, und lässt mich einen Blick hineinwerfen. »Der Junge ist zwar erst Anfang zwanzig, aber kein unbeschriebenes Blatt. Drogenkonsum. Beschaffungskriminalität. Aber nichts gegen das, was er heute Nacht erlebt hat. Wir glauben, dass er mitansehen musste, wie sein Bruder den Vater getötet hat. Kannst du dich um ihn kümmern?«

»Natürlich«, murmele ich und starre wie gebannt auf die Monitore, über die die Bilder der Überwachungskameras aus den einzelnen Räumen des Kellers flimmern. Ein junger Mann in verwaschenem T-Shirt und Unterhose sitzt auf einer Pritsche in der Zelle und lässt die nackten Beine baumeln. Offenbar musste er der Polizei seine Kleidung für die Spurensicherung aushändigen.

Das muss also der Tatverdächtige sein.

Ruhig, nahezu apathisch hockt er da. Keine Regung in seinem Gesicht. Die Hände im Schoß gefaltet. Jetzt hält er auch die Beine still.

In den anderen Räumen, die von den Videokameras erfasst werden, huschen Beamte geschäftig hin und her. Ich erkenne den Mordbereitschaftsleiter und zeige mit dem Finger auf den Monitor. »Ich muss erst mit Peter sprechen, bevor ich zu dem Zeugen gehe, okay?« Peter und ich kennen uns von anderen Einsätzen.

»Na logisch. Bis später.«

Im Keller angekommen begrüßen Peter und ich uns herzlich. »Ich brauche dich zur Betreuung eines Zeugen. Ein junger Mann namens Marcel«, sagt er.

»Hab’ schon gehört. Was ist denn genau passiert?«

»Nach dem bisherigem Ermittlungsstand ist Alexander«, er nickt in Richtung des Fensters, durch das man in die Zelle sehen kann, »dringend tatverdächtig seinen Vater in dessen Wohnung erstochen zu haben. Sein Bruder Marcel kam nach eigenen Aussagen zufällig dazu. Der Vater verblutete, und Alexander stand mit dem Messer in der Hand im Flur. Er bat seinen Bruder die Polizei zu rufen, und das hat der auch getan. Beide warteten in der Wohnung auf uns. Die Festnahme verlief unproblematisch. Beide Brüder sind seltsam apathisch.«

»Vielleicht der Schock?«, sage ich, denn ich weiß, dass Menschen unter Extremstress sehr unterschiedlich reagieren. Mehr Stress, als bei einem Tötungsdelikt gegen den eigenen Vater anwesend zu sein, kann ich mir nicht vorstellen. Ein Schock dämpft den Schlag auf die Psyche ab, den manche Erlebnisse bedeuten können. »Er schützt sich«, flüstere ich zu mir selbst, um dann laut zu fragen: »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Da es sich um eine Mordermittlung handelt, möchte ich nichts falsch machen und vergewissere mich bei dem Einsatzleiter. Bei einem Tötungsdelikt sind die Anweisungen des Mordbereitschaftsleiters Gesetz.

»Wir behandeln Marcel erst mal als Zeugen und nicht als Mittäter. Ganz sicher sind wir aber noch nicht. Sobald die Kollegen vom Tatort zurückkommen, wird er vernommen. Bis dahin wäre es schön, wenn er nicht alleine ist.«

Gut. Ich werde also nicht mit Marcel über die Tat sprechen, um nicht in die Ermittlungen einzugreifen. Vermutlich will er das auch gar nicht. »Gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden sollen?«, frage ich weiter. »Was ist mit der Ehefrau und Mutter?«

Peter schüttelt den Kopf. »An Krebs verstorben. Es gibt nur den Vater und die beiden Jungs.«

Ich bekomme ein mulmiges Gefühl. So allmählich wird mir die Dimension der Geschichte klar. Der Junge hat gerade seine ganze Familie verloren. »Okay, dann gehe ich zu Marcel …«

Ich laufe die Treppe hoch, nehme zwei Stufen auf einmal und sehe, wie mein KIT-Kollege gerade zur Tür hereinkommt. Ich gehe zu ihm und erzähle schnell, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe. Er gibt dem Wachhabenden Bescheid, dass wir nun zu dem Zeugen in den sicheren Raum gehen und er doch bitte ein Auge auf uns haben solle. Die Tür des sicheren Raums kann nämlich nur von außen geöffnet werden. Der Raum ist absolut kahl und ohne jede Möglichkeit, sich oder andere zu verletzen. Damit ist der Ort zwar sicher, aber schafft eine scheußliche Atmosphäre für eine Betreuung. Hoffentlich kommen die Ermittler bald vom Tatort zurück, damit sie mit dem Jungen sprechen können und er dann nach Hause gehen kann.

Mich durchzuckt ein Gedanke: Zu Hause? Wo ist das jetzt für ihn? In die Wohnung, in der er mit seinem Vater lebt, kann er vorerst nicht zurück. Die Zimmer werden als Tatort versiegelt.

Wir treten in den Raum. »Hallo«, sage ich und schaue dem jungen Mann mit den kurzgeschorenen Haaren in die Augen. Sie sind braun. »Mein Name ist Angélique Mundt, und das ist mein Kollege Dietmar...

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