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E-Book

Das übertherapierte Geschlecht

Ein kritischer Leitfaden für die Frauenmedizin

AutorChristine Wolfrum, Luitgard Marschall
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641205287
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dieses Buch macht immun gegen die falschen Verheißungen der Gesundheitsindustrie.
Frauen sind gesundheits- und körperbewusst, sie wollen sich wohl fühlen und gut aussehen. Das macht sie attraktiv - vor allem als Kundinnen für Ärzte, Therapeuten und Pharmaindustrie. Aber nicht gesünder. 'Das übertherapierte Geschlecht' zeigt wie Frauen durch irreführende Informationen, selbst von angesehenen Institutionen, verunsichert und zur Kasse gebeten werden. Kritisch recherchiert und mit aktuellem Hintergrundwissen macht dieses Buch immun gegen unnütze und schädliche Verheißungen der Gesundheitsindustrie.

Christine Wolfrum arbeitet seit vielen Jahren als Journalistin und Sachbuchautorin. Sie war leitende Redakteurin einer Frauenzeitschrift und hat sich auf die Bereiche Gesundheit, Psychologie und Frauen spezialisiert.

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Leseprobe

1.

Frausein gefährdet Ihre Gesundheit!

Wir alle wünschen uns, gesund zu sein. Um Körper, Seele und Geist vital zu erhalten, unternehmen wir gewaltige Anstrengungen. Dabei werden wir allerseits tatkräftig unterstützt. Nicht immer in bester Absicht. Unter der Tarnung des Wohlmeinens wird versucht, alles Gesunde in unseren Lebenswelten in Krankes und damit Behandlungsbedürftiges zu verwandeln, schreibt der Psychiater Klaus Dörner in seinem Buch Die Gesundheitsfalle.[3] Vor allem bei Frauen hat dies eine lange Tradition: Normale Zustände oder Befindlichkeitsstörungen bekommen den Stempel von Krankheiten, das nennt sich Pathologisierung. Wenn für diese Zustände Arzneimittel verordnet werden, wird medikalisiert. Gegen die willkürliche Krankheitszuschreibung an Frauen und den abschätzigen männlichen Blick in der Gynäkologie kämpfte die feministische Frauengesundheitsbewegung bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren vehement an. Viele ihrer Errungenschaften sind inzwischen in die Schulmedizin eingegangen. Die damaligen Schlagwörter und Parolen Weiblichkeit als Krankheit oder Pathologisierung und Medikalisierung des Frauenkörpers – klingen mittlerweile zwar ein wenig gestrig und angestaubt. Doch unsere Recherchen zeigen: Die damit gemeinten Entwicklungen sind gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens heute aktueller denn je.

Im April 2016 stellte Ulrike Hauffe, Leiterin der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau, fest: »In der allgemeinen Wahrnehmung ist der weibliche Körper – nach wie vor – vor allem ein potenzieller Krankheitswirt.«[4] Diese pessimistische Einschätzung machte die Psychologin am Beispiel der ersten Regelblutung fest: »Der erste von ab da fortlaufend auftretenden Gründen zur Sorge, weil der Körper ab dem Moment, wo aus dem Kind eine Frau wird, zum permanenten Risikofaktor wird.« Mütter schicken ihre Töchter in die Frauenarztpraxis, damit geklärt wird, ob alles in Ordnung ist. Gynäkologen übernehmen diese Aufgabe gerne. Sie stellen so den ersten Kontakt zu ihren künftigen Patientinnen her: Bei der Untersuchung wird dann der Muttermund ertastet, die Gebärmutter vermessen und überprüft, ob die Schleimhaut richtig abblutet. »Niemand käme auf die Idee, einen Jungen nach dem ersten Samenerguss zum Urologen zu schicken, damit er die Länge von Hoden und Penis misst«, gibt die Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip von der Universität Bielefeld zu bedenken.

Frauen erleben kaum noch Lebensabschnitte ohne ärztliche Begleitung. Pubertät, Phase der Fruchtbarkeit und Verhütung, Schwangerschaft, Geburt, Wechseljahre oder frühes Alter – die Medikalisierung weitet sich immer mehr aus. »Sie wird von den meisten Frauen inzwischen gar nicht mehr als solche empfunden, da sie so selbstverständlich Teil ihres Lebens geworden ist«, resümiert Cornelia Burgert, Sozialpädagogin beim Feministischen Frauengesundheitszentrum (FFGZ) in Berlin.[5]

Doch woher rührt dieser Impuls, uns in allen Lebenslagen vertrauensvoll in die Hände von Ärzten zu begeben? Kolips Antwort hierzu: »Wir Frauen sind sehr darauf getrimmt, alles, was mit unserer Fortpflanzung zusammenhängt, als medizinische Probleme zu begreifen, die unbedingt einen Arztbesuch nötig machen.« Vermutlich ist es unsere kulturelle Prägung, die es so schwierig macht, sich dem zu entziehen. Besonders Gynäkologen spielen im Leben vieler Frauen eine große Rolle. »Wenn heutzutage eine Frau in eine andere Stadt umzieht, ist oft das Erste, wonach sie sucht, ein Frauenarzt. Fast so, als wäre sie ohne ihn nicht mehr lebensfähig«, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser, die an der Universität Hamburg lehrt. Die Anzahl der Gynäkologen hat sich seit Ende der 1960er-Jahre vervierfacht.

In Gesprächen mit Ärzten hat Mühlhauser die Erfahrung gemacht: »Auch Gynäkologinnen, die ich durchaus als fortschrittlich und aufgeklärt bezeichnen würde, befürchten, dass man sie eines Tages nicht mehr braucht, und bemühen sich intensiv um Kundschaft.« Etwa durch neue Offerten im Bereich des Anti-Agings und der Hormon-Kosmetik. Oder sie bieten Individuelle Gesundheitsleistungen an, kurz IGeL (Kap. 3). Aus Ärzten werden so Verkäufer und aus den Patientinnen Kundinnen. »Potenzierte Medikalisierung« nennt Kolip das – getarnt als ärztliche Fürsorge.[6] Die Sorge von Frauen, nicht genug für ihre Gesundheit zu tun, wird aus wirtschaftlichen Interessen heraus ausgenutzt. Mühlhauser bestätigt das: »Es ist schon skandalös, was in den Frauenarztpraxen abläuft. Da wird keine Gelegenheit verpasst, um mit Frauen irgendwelche IGeLeien zu machen. Und ihnen etwas aufzuschwatzen!«

Auch in einem anderen Bereich, der Schönheitsmedizin, stehen Frauen bereits seit Jahren unter Druck (Kap. 4). Diäten, Faltenunterspritzungen sowie Schönheitsoperationen sollen das Äußere nach bestehenden Normen und Standards »verbessern«. Das belegen die steigenden Zahlen der Eingriffe. Dabei gehen Frauen enorme Risiken ein oder ignorieren sie sogar.

Wenn es um das Wohlergehen ihrer ungeborenen Kinder geht, nimmt das Sicherheitsbedürfnis der Frauen zu. Sie wollen optimal auf die Geburt vorbereitet sein und alles unter Kontrolle haben. Ein Kind auszutragen, gilt inzwischen schon als riskanter Körperzustand – obwohl zwei Drittel der Schwangerschaften problemlos verlaufen. »Die Gesellschaft impft Frauen das Gefühl ein, dass sie als Schwangere Sorgfaltspflichten einzuhalten hätten, damit sie auf jeden Fall ein gesundes Kind auf die Welt bringen. Schwangere fühlen sich enorm unter sozialem Druck, weil sie spüren, dass alles auf sie zurückfällt, wenn es irgendwelche Komplikationen gibt«, sagt Medizinethiker Giovanni Maio von der Universität Freiburg. Diese Gemengelage aus Angst, Bedrängnis und Verantwortungsbewusstsein vermag auch zu erklären, warum ansonsten selbstbewusste und kritische Frauen leicht in einen Sog unnötiger und oft kostspieliger Diagnosen geraten, der sie in Konflikte stürzen und letztlich schwerwiegende Nachteile für sie und ihr Kind mit sich bringen kann.

Viel hilft nicht viel, sondern schadet

Insbesondere junge Frauen fühlen sich heute gleichberechtigter als alle früheren Frauengenerationen. Sie wollen finanziell unabhängig sein und selbstbestimmt entscheiden. Bei allem Erfolg führte dies auch zu dem verhängnisvollen Nebeneffekt, dass das Erreichte zur Pflicht, das Machbare zum Zwang geworden ist. Die Wissenschaftlerin Barbara Duden konstatiert, dass die Selbstbestimmung sich inzwischen gegen Frauen gewendet hat. Zwar könnten heute viele von ihnen freier über ihre Sexualität, ihren Körper und ihre Lebensplanung bestimmen. Gleichzeitig würden sie aber mit einer verwirrenden Vielzahl an medizinischen Angeboten konfrontiert und müssten sich damit auseinandersetzen. Die Historikerin spricht von einer »Selbstbestimmungsfalle«.[7] Laut Dudens pessimistischer Sicht ist die »selbstbestimmte Entscheidung« zu einer einzigen Aktivität verkümmert, nämlich aus dem vorhandenen Überangebot an Möglichkeiten auszuwählen, was konsumiert werden mag.

Im besten Fall bezahlen die Frauen und tragen keinen Schaden davon. Doch gerade bei den modernen bildgebenden diagnostischen Verfahren kommt es nicht selten zu Verdachtsbefunden, die weiter abgeklärt werden müssen. »Und schon ist man in der diagnostischen Mühle drin mit ihren unnötigen Behandlungen«, sagt Ingrid Mühlhauser. Unnötig bedeutet in vielen Fällen auch gefährlich. So birgt ein Zuviel an Arzt, Untersuchungen und Behandlungen, gepaart mit mangelhafter Aufklärung, massive Risiken für gesundheitliche Schäden.

Wenn Ärzte zu viel oder unnötig diagnostizieren, heißt das im Fachjargon Überdiagnostik. Die Untersuchungen und ihre Folgen schaden dann mehr als die ursprünglichen Beschwerden – falls solche überhaupt vorhanden waren. Bei vielen Screening-Verfahren, das sind Tests zur frühzeitigen und gezielten Suche nach bestimmten Erkrankungen, sind Überdiagnosen üblich. Bei der Brustkrebs-Früherkennung beispielsweise lassen sich sowohl gefährliche Tumore frühzeitig entdecken als auch solche, die nie Beschwerden verursacht hätten (Kap. 8). Ein bislang ungelöstes Problem.

Sobald Mediziner ihre Patientinnen mit zu großem Eifer und über Gebühr behandeln, ist das eine Übertherapie. Der Begriff bezieht sich beispielsweise auf überflüssige Operationen wie die in Deutschland noch immer viel zu oft durchgeführte Gebärmutterentfernung (Kap. 7). Oder auf die Verordnung von unnützen oder unnötig vielen Arzneien, wie bei zahlreichen Patientinnen mit einem prämenstruellen Syndrom (PMS) (Kap. 5), Wechseljahresbeschwerden (Kap. 6) oder Depressionen (Kap. 9). Einen wichtigen Grund dafür hebt Gesundheitswissenschaftlerin Kolip hervor: »Gesundheit und Krankheit hängen nicht nur mit dem Körper zusammen, sondern auch mit den Lebensumständen.«

Im April 2016 zeigte eine Studie, was viele Frauen ohnehin schon aus eigener Erfahrung vermuteten: Ärzte verordnen ihnen öfter...

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