Die Eltern als sichere Basis und sicherer Hafen
Je nachdem, ob das Bindungs- oder das Explorationssystem eines Kindes gerade aktiviert ist, richtet es seine Aufmerksamkeit also entweder auf die Bindungsperson oder auf die Umwelt. Dies lässt sich gerade bei kleinen Kindern im Verhalten deutlich beobachten. Aufgabe der Eltern ist es dabei, den kindlichen Bedürfnissen soweit wie möglich zu folgen, bei Bedarf aber auch die Führung zu übernehmen – insbesondere dann, wenn Gefahr oder Überforderung droht.
Sicherheit entsteht in den kleinen Momenten
Häufig gelingt diese Balance zwischen Bindung und Erkundung im Alltag automatisch, ohne dass wir es überhaupt bewusst wahrnehmen oder viel darüber nachdenken müssen. So zum Beispiel dann, wenn ein Kind ganz ins Spiel vertieft ist, jedoch plötzlich aufspringt, zu seiner Mutter krabbelt oder läuft, sich kurz ankuschelt und dann wieder weiterspielt. Oder dann, wenn ein Kind bei einem unbekannten Geräusch erschrickt und den Blickkontakt der Eltern sucht, bevor es sich weiter der Erkundung seiner Umwelt widmet. Ebenso, wenn ein Kind hinfällt, weint, vom Vater auf den Arm genommen und getröstet wird, um sich kurze Zeit später wieder aus seinen Armen zu lösen und weiterrennt, als wäre nichts geschehen. Oder wenn es kurz zögert, zu den Eltern schaut, bevor es sich traut, die große Rutsche hinunterzurutschen. Wir können es auch beobachten, wenn sich ein Kind beim Bringen in den Kindergarten nochmal kurz umschaut, bevor es mit anderen Kindern zu spielen beginnt.
Es sind diese kleinen, unscheinbaren Alltagssituationen, in denen sich die Bindungssicherheit langsam und fast unbemerkt entwickelt und vertieft, und aus denen sich durch die ständige Wiederholung im Alltag Sicherheit und Vertrauen entwickelt.
Auf Kommunikationsprobleme aufmerksam werden
Die immense Bedeutung dieser kleinen, sich ständig wiederholenden Erfahrungen wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, was passiert, wenn die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern in diesen Situationen nicht funktioniert. Wenn also Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder in solchen Situationen dauerhaft nicht beachten, falsch einschätzen oder unangemessen darauf reagieren. Zum Beispiel: Wenn ein Kind hinfällt – und nicht getröstet, sondern geschimpft wird. Wenn ein Kind erschrickt und verunsichert ist – und die Eltern ihm zu verstehen geben, es soll sich nicht so anstellen. Wenn sich das Kind beim Abschied nochmal kurz nach der Mutter umschaut – und nicht beachtet wird. Wenn das Schokoladeneis auf dem Fußweg landet – und das Kind zu hören bekommt, es sei selbst schuld. Wenn das Kind kurz auf den Schoß möchte – und vom Vater zurückgewiesen wird, weil es doch kein Baby mehr ist. Wenn das Kind weint, weil ein anderes Kind ihm sein neues Spielzeug weggenommen hat, – und gesagt bekommt, es solle nicht selbstsüchtig sein und gefälligst sein Spielzeug mit anderen teilen.
Für sich genommen führt keine dieser Situationen zu einer unsicheren Bindung beim Kind. Alle Eltern kennen vielmehr solche Situationen, in denen sie die Bedürfnisse der Kinder verpassen oder sogar dagegen arbeiten. Das passiert ausnahmslos allen Eltern – auch Eltern von sicher gebundenen Kindern. Und solange solche Missverständnisse nicht zum dauerhaften Muster in der Beziehung werden, sind sie auch nicht schlimm oder schädlich.
Konflikte und Missverständnisse haben eine Signalfunktion.
Viel wichtiger, als solche Situationen um jeden Preis zu vermeiden, ist es deshalb, sich bewusst zu machen, dass sie eine wichtige Signal- oder Alarmfunktion haben. Sie zeigen uns, dass gerade etwas in der Beziehung zum Kind schiefläuft. Erst wenn wir bereit sind zu erkennen, dass gerade ein Missverständnis entsteht oder dass wichtige Bedürfnisse nicht gesehen oder falsch interpretiert werden, ist es möglich, das eigene Verhalten bewusst zu verändern, um das Gleichgewicht in der Beziehung und damit die Sicherheit beim Kind, wiederherzustellen.
Wenn Eltern bemerken, dass sie mit ihrem Verhalten beim Kind (immer wieder) auf massive Widerstände stoßen, sollten sie dies als Chance nutzen. Dann ist es an der Zeit zu überlegen, welche Bedürfnisse sie in dieser Situation möglicherweise übersehen, anstatt ihre Bemühungen zu verstärken, mit dem immer gleichen Verhalten eine Veränderung beim Kind zu erreichen (zum Beispiel dem Kind seine Unachtsamkeit immer wieder vorzuwerfen und damit seine Gefühle in dieser Situation nicht ernst zu nehmen). Denn die Fähigkeit, solche Situationen zu erkennen, den negativen Kreislauf zu stoppen, und zurück zur Sicherheit zu finden, ist ein genau so wichtiger Bestandteil einer sicheren Bindung, wie die Situationen, in denen sich die Sicherheit automatisch einstellt.
Der Kreis der Sicherheit
Im Alltag kommt es aus den verschiedensten Gründen immer wieder dazu, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht sehen, falsch verstehen oder gerade nicht darauf reagieren können. Damit solche kleinen Brüche in der Kommunikation nicht zum vorherrschenden Muster in der Beziehung werden, ist es für alle Eltern hilfreich, eine Art Landkarte zu haben, an der sie sich bei Bedarf orientieren können. Neben der im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Wippe erfüllt diese Aufgabe vor allem der von den Bindungsforschern Cooper, Hoffman, Marvin und Powell entwickelte »Kreis der Sicherheit«, in dem die Beziehungsdynamik einer sicheren Bindung grafisch dargestellt wird (siehe Kapitel 3).15
Der Kreis der Sicherheit
Die Bindungsperson ist die sichere Basis für das Kind, wenn es die Umwelt erkundet (obere Kreishälfte) und der sichere Hafen, wenn es überfordert ist und Hilfe braucht (untere Kreishälfte).
Abb. nach G. Cooper, K. Hoffmann, R. Marvin, B. Powell (2000)16
Um eine sichere Bindung zu entwickeln, brauchen Kinder drei Dinge:
- Die Freiheit und die Sicherheit, sich von der Bindungsperson wegzubewegen, um die Welt zu entdecken. Die Bindungsperson wird für das Kind zur sicheren Basis, die es zur Entdeckung der Welt ermutigt und dabei aufmerksam und verfügbar ist. Sie bietet wenn nötig Hilfe und Unterstützung an und freut sich mit dem Kind über seine Entdeckungen und Abenteuer.
- Die Sicherheit, dass es bei Bedarf jederzeit zur Bindungsperson zurückkommen kann, um Schutz und Geborgenheit und Trost zu erfahren. Die Bindungsperson wird für das Kind zum sicheren Hafen, in den es jederzeit einlaufen und emotional auftanken kann. Das Kind sollte sich jederzeit willkommen fühlen und das Gefühl haben, dass es beschützt, getröstet und verstanden wird.
- Eine Bindungsperson, die vom Kind als größer, stärker, erfahrener und liebenswürdig erlebt wird. Aufgabe der Bindungsperson ist es immer, den kindlichen Bedürfnissen so weit wie möglich zu folgen, aber bei Bedarf die Leitung zu übernehmen, um dem Kind Schutz und Orientierung zu geben.
Für Eltern ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen, was gerade im Moment das Bedürfnis des Kindes ist. Ist sein Bindungssystem aktiviert, dann braucht es Nähe, Trost, Schutz und Unterstützung bei der Bewältigung seiner Gefühle. Solange das Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, wird das Kind sich aktiv gegen (gut gemeinte) Angebote wehren, deren Ziel es ist, das Kind zur Selbstständigkeit und Erkundung zu ermutigen.
Ist dagegen das Explorationsverhaltenssystem des Kindes aktiviert, möchte das Kind »alleine« die Welt entdecken. Das Kind möchte nun Aufgaben und Herausforderung auf seine eigene Art und Weise bewältigen – auch wenn dies manchmal nicht sofort zum Erfolg führt. Ein aktives (wenn auch gut gemeintes) Eingreifen der Eltern in seine Aktivitäten wird es als Einschränkung seiner Autonomie erleben und sich dagegen wehren.
Die unterstützende Präsenz der Eltern und bei Bedarf den emotionalen Austausch mit ihnen brauchen Kinder jedoch nicht nur, wenn ihr Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, sondern auch beim Erkunden und Erforschen der Umwelt.17
In den folgenden Kapiteln werden wir darstellen, wie sich das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen nach Schutz und Nähe sowie nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in jedem Alter anders darstellt – auch in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und der Situation. Der grundlegende Mechanismus bleibt jedoch immer der gleiche: Jedes Mal, wenn Eltern und Kind diesen Kreis der Sicherheit durchlaufen, entsteht beim Kind ein Stück Sicherheit und Vertrauen in sich selbst und in die Beziehung.
Die Unabhängigkeit eines Kindes sollte nie vorrangiges Entwicklungsziel sein. Es geht immer um die richtige Balance zwischen Selbstständigkeit und Verbundenheit.
Auch Eltern brauchen Sicherheit
Der Kreis der Sicherheit gilt auch für Erwachsene. Menschen jeden Alters geht es besser, wenn sie jemanden an ihrer Seite haben, den sie als sichere Basis und sicheren Hafen empfinden. Gerade für Eltern ist dies jedoch besonders wichtig: Kinder brauchen über Jahre hinweg sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. In vielen Situationen müssen Eltern vorübergehend ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen und zunächst für das Kind sorgen. Die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu befriedigen konfrontiert uns dabei gleichzeitig auch mit unseren Bedürfnissen und damit, wie wir gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Und natürlich sind wir in vielen Situationen unsicher,...