37Die Demokratie gibt dem Volk nicht die gewandteste Regierung, aber sie bringt das zustande, was die geschickteste Regierung nicht beizubringen vermag, sie verbreitet in dem ganzen sozialen Körper eine unruhige Geschäftigkeit, einen Überschuß an Kraft, einen Tatwillen, die ohne jene unmöglich sind und die, wenn die Bedingungen nur einigermaßen günstig sind, Wunder vollbringen können. Da liegen ihre wahren Vorzüge.
Alexis de Tocqueville
Über die Demokratie in Amerika
Band 1, 1835, S.?366
Ich bin durch die Le Moyne Street gegangen und habe nach dem Haus gesucht, in dem die Familie Bellow vor einem halben Jahrhundert gewohnt hat, aber ich fand nur ein leeres Grundstück [...]. Ringsum nichts als Leere, keine Spur vom alten Leben. Nichts. Doch vielleicht ist es gut so, daß es nichts Greifbares gibt, an das man sich klammern kann. Das zwingt einen, nach innen zu schauen, nach dem zu suchen, was überdauert. Gibt man Chicago nur eine kleine Chance, macht es einen noch zum Philosophen.
Saul Bellow
»Chicago: Die Stadt, wie sie war, die Stadt, wie sie ist«
1995, S.?236
Diesseits und jenseits des Atlantiks gebrauchen wir dieselben Wörter: Demokratie, Republik, Individualismus, Freiheit, Gleichheit, Autonomie, öffentlich, privat usw. Hier und dort haben sie aber nicht genau dieselbe Bedeutung. Wir verwenden auch unterschiedliche Wörter: So beziehen sich die Amerikaner beispielsweise ständig auf den Begriff der Gelegenheit oder 38Chance, der in unserer Tradition nicht existiert. Wenn wir diesen Begriff hören, weisen wir ihm einen negativen Wert zu und sind der Meinung, daß die Amerikaner Utilitaristen und Materialisten seien. Diesen Begriff assoziieren wir mit einem anderen, der ebenfalls negativ besetzt ist, weil er mit der Schwäche staatlicher Regulierung und sozialer Absicherung identifiziert wird: dem Liberalismus. Liberalismus und Utilitarismus verbinden sich für uns schließlich auch noch mit Materialismus und Konformismus, das heißt mit einer ganzen Reihe von Begriffen, die die Franzosen negativ auffassen usw. Wir verwenden also einerseits dieselben Wörter, anhand derer wir zu verstehen meinen, während sie doch andere Bedeutungen haben, und andererseits auch verschiedene Wörter, von denen wir glauben, daß sie vielleicht für die Amerikaner angemessen sein mögen, aber nicht für uns. Dasselbe gilt für jene: Unsere Brüderlichkeit, ohne die Freiheit und Gleichheit für uns keinen Sinn haben, ist für sie gleichbedeutend mit einem Gouvernantenstaat (nanny state). Sie betonen das Verdienst, wir die Absicherung. Hier haben wir es mit zwei Logiken der Reziprozität zu tun.1
Zwischen den beiden Gesellschaften herrschen zwar viele Mißverständnisse, aber das folgenreichste beruht darauf, daß die Grundlage des amerikanischen Individualismus liberal ist, während die des französischen Individualismus antiliberal oder illiberal ist.2 Für die Franzosen bedeutet er in erster Linie Antietatismus. Aber der Begriff ist eigentlich weiter und geschmeidiger. Über die politische Doktrin einer Partei hinaus ist der Liberalismus eine bestimmte Weise, die Gesellschaft zusammenzuhalten, der gemeinsame Fundus der politischen Philosophie der Amerikaner und ihrer demokratischen Kultur. Selbst die politische Spaltung zwischen Konservativen und Liberalen muß innerhalb des Liberalismus verstanden werden. Sein Wesen bildet übrigens den Gegenstand wiederkehrender Debatten bei Historikern und Politologen jenseits des Atlantiks. Diese geistige Situation fußt darauf, daß ihr Spektrum vom Wirtschaftsliberalismus bis zum Fortschrittsglauben reicht, für den der Kampf gegen Ungleichheiten 39ein politisches Hauptziel darstellt. Roosevelts New Deal, Trumans Fair Deal und Johnsons Krieg gegen die Armut, drei Arten von Politik, die ein massives Eingreifen seitens des Bundesstaates beinhalteten, sind dennoch Teil des Liberalismus. Dieser besitzt einen vielgestaltigen Charakter und hat die Rolle eines »Sozialismusersatzes«3 gespielt. Aber der entscheidende Punkt ist, daß die individuelle Autonomie durch ihn ihren konsensuellen Wert erhalten hat.
Die amerikanische Konstellation des Individualismus zeichnet sich durch die Verbindung des Privaten und des Öffentlichen auf derselben Ebene aus: Persönlicher Erfolg und der Aufbau der Gemeinschaft sind hier unzertrennlich. Die amerikanische Eigenart erscheint gegenüber der französischen in einer Kategorie, die den amerikanischen Stil ausmacht, den american way: das Selbst. Noch vor seiner Rolle als philosophischer oder psychologischer Begriff, stellt das Selbst eine spezifisch amerikanische, anthropologische Kategorie dar, eine Kategorie, deren Ursprünge gesellschaftlicher Natur sind. Es handelt sich um eine kollektive Vorstellung, eine Idee, die der amerikanischen Gesellschaft gemein ist, und nicht um eine Frage der persönlichen Wahl oder um einen Geisteszustand. Das Selbst ist Ausdruck eines gemeinsamen Lebensstils, der sich in Sprach- und Handlungsweisen, Vorstellungen von der Wirklichkeit und Verhaltensnormen offenbart. Die amerikanische Verbindung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen vollzieht sich unter der Schirmherrschaft der persönlichen Behauptung, der self-reliance,4 die sowohl Selbstvertrauen als auch Unabhängigkeit bedeutet.
Die persönliche Behauptung ist ein System von Überzeugungen, von Normen und Werten, das aus wechselseitig voneinander abhängigen Elementen besteht, die im Verlauf des ersten Kapitels schrittweise in Erscheinung treten werden. Sie zeigt sich zunächst im self-government, das das eng miteinander verbundene Paar der Autonomie des Individuums und der Gemeinschaft 40als Fähigkeit der Selbstverwaltung bezeichnet. Dann verweist sie aber auch auf ein anderes Paar von Schlüsselwerten: die persönliche Leistung, das achievement, das seine Quelle im Puritanismus hat, und die Gleichheit, die sich vom demokratischen Charakter der Gesellschaft ableitet. Die Gleichheit ist wesentlich an die Leistung gebunden und wird als Chancengleichheit definiert: Es geht darum, den Schwächsten die Fähigkeit zu geben, Chancen zu ergreifen, um dann in Konkurrenz miteinander zu treten und Selbsterfüllung im Erfolg zu finden. Gelegenheit und Konkurrenz begleiten die Leistung und die Gleichheit, wobei das Ganze die eigenartige Gestalt des amerikanischen Individualismus ausmacht.5 Ein anderer Begriff, der in Amerika entscheidend ist, muß noch hinzugefügt werden. Selbstvertrauen ist in einer Gesellschaft unverzichtbar, die die Konkurrenz so sehr wertschätzt, es ist aber ebenso unverzichtbar wegen jenes anderen Werts, nämlich der Kooperation. Die Autonomie ist nicht nur eine Unabhängigkeit, die es zu erwerben gilt, sie ist auch eine Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln mit den anderen, mit seinen fellow men in der gemeinsamen Welt zu bestehen. Die Autonomie gliedert sich also in die drei wechselseitig voneinander abhängigen Aspekte der Konkurrenz, der Kooperation und der Unabhängigkeit.
Das Selbst ist keine isolierte Entität im Inneren der Person, sondern die Naht zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen, dem jeweils einzelnen und dem Gemeinsamen. Es ist der Motor jener unruhigen Aktivität, die schon Tocqueville bemerkt hatte. Denn die Unruhe ist allgegenwärtig: Die Krise des Selbst ist eine Konstante der amerikanischen Geschichte, die den Fall und die Erlösung in einer Pendelbewegung zwischen »Individualismus« und »Gemeinschaft« einerseits und in einer Spannung zwischen »Leistung« und »Gleichheit« andererseits dekliniert. Das Pendel und die Spannung sind die Koordinaten, anhand deren sich die amerikanische Erzählung von den Beziehungen zwischen dem persönlichen Unglück und der gestörten Sozialbeziehung gestaltet. Sie ist durch drei Hauptzüge charakterisiert: 41durch eine Verbindung zwischen Psychologie und Demokratie, durch die Auffassung der Psychotherapie als Lebensform und eine Weise, sich die Welt vorzustellen, und in jüngerer Vergangenheit durch die Schöpfung des narzißtischen Individuums.
Seit den 1970er Jahren ist die Psychotherapie zweifellos der bevorzugte Bereich der Analysen und Vorstellungen des Individualismus: Sie versammelt die Themen des psychologischen Menschen, der Psychologisierung der sozialen Beziehungen, der Personalisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, des Narzißmus, des Aufgehens in sich selbst und im Privatleben zu Lasten des Engagements für das Gemeinschaftsleben. Die Psychotherapie ist zwar eine Gesamtheit von Techniken, aber sie ist mehr als das geworden: eine Weltanschauung.6 Das ist die These von Philip Rieff in The Triumph of the Therapeutic, einem Buch, das 1966 erschien. Dieses Werk stellt den Wendepunkt dar, von dem an der Individualismus und die Psychotherapie sich nicht mehr trennen lassen. Darauf folgen die beiden Bücher von Richard Sennett (The Fall of Public Man, 1974; Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 1983) und Christopher Lasch (The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, 1978; Das Zeitalter des Narzißmus, 1979), die den Narzißmus zum Wahrzeichen eines neuen Individualismus machen. 1985 veröffentlichen Robert Bellah und seine Arbeitsgruppe eine große qualitative Untersuchung zum Individualismus und Engagement in den Vereinigten Staaten, Habits of the Heart. »Heute«, verkünden sie, »nehmen wir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur die Ehe, sondern auch die Familie, die Arbeit, die...