»DA UND DORT EIN JUNGES DEUTSCH LAND GRÜNDEN«
Berlin, 15. November 1884. An einem trüben Herbsttag hatte sich im großen Festsaal des Reichskanzlerpalais in der Berliner Wilhelmstraße eine ganze Heerschar von Diplomaten im Frack versammelt. Was Rang und Namen unter den Weltmächten hatte, war anwesend: die Vertreter Großbritanniens, Frankreichs, Russlands und vieler weiterer europäischer Staaten sowie die Abgesandten der USA und des Osmanischen Reiches. Sie alle erwarteten gespannt den Auftritt des deutschen Kanzlers. Denn Otto von Bismarck eröffnete an diesem Tag eine denkwürdige Konferenz, die am grünen Tisch über die Zukunft eines ganzen Kontinents entscheiden sollte.
Im Hintergrund des Raumes war eine fünf Meter hohe Wandkarte angebracht, die den afrikanischen Erdteil zeigte. Sie sollte das wichtigste Utensil in den nächsten Wochen werden. Denn obwohl es auf dem Kongress offiziell nur um die Errichtung einer Freihandelszone im Kongo ging, steckten die imperialen Mächte bei der Gelegenheit gleich auch ihre territorialen Ansprüche in Afrika ab – mit Bleistift und Lineal. Die schnurgeraden Grenzlinien vieler afrikanischer Staaten erinnern noch heute an den historisch einmaligen Vorgang: »Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit haben sich die Staaten eines Kontinents zur Aufteilung eines anderen zusammengefunden, eines Erdteils, dessen rechtmäßige Herrscher von dieser Aufteilung nicht einmal Kenntnis hatten«, betont der amerikanische Historiker Godfrey Uzoigwe. Denn Afrikaner waren auf dem Kongress, der später als sogenannte »Kongokonferenz« in die Geschichte einging, nicht anwesend.
Die Europäer waren in Berlin zusammengekommen, um ihre eigenen Interessen zu vertreten, nicht die der Einheimischen, die vollständig entrechtet wurden. Die Hegemonialmächte gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Eingeborenen sich ohnehin nicht selbst regieren könnten. Quasi als gesamteuropäischer »Entwicklungsauftrag« gegenüber Afrika wurde daher ein »Aufruf« verfasst, in dem sich die anwesenden Großmächte dazu verpflichteten, »die Eingeborenen zu unterrichten und ihnen die Vorteile der Civilisation verständlich und werth zu machen«.
Nicht umsonst besitzt Afrika diese geraden, wie mit dem Lineal gezogenen Grenzen. Vieles davon geht auf die Berliner Kongokonferenz und auf die nachfolgenden Verträge zwischen den einzelnen Kolonialmächten zurück.
HORST GRÜNDER, HISTORIKER
Für Bismarck war die Ausrichtung der internationalen Kongokonferenz ein gewaltiger außenpolitischer Erfolg: Sie besiegelte die Aufnahme des Reiches in den illustren Kreis der Kolonialmächte, in den es wenige Monate zuvor überhaupt erst eingetreten war. Am 24. April 1884 hatte der deutsche Kanzler erstmals einen kaiserlichen »Schutzbrief« für ein Gebiet in Übersee aufsetzen lassen.
Der europäische Hochimperialismus hatte zu dieser Zeit beträchtlich an Fahrt aufgenommen, die »alten« Kolonialmächte – Großbritannien und Frankreich zuallererst – waren eifrig damit beschäftigt, sich weltweit ihre Pfründe zu sichern. In Afrika hatten Briten, Franzosen, Belgier, Spanier und Portugiesen ihre Gebiete längst abgesteckt. Auf der Berliner Kongokonferenz ging es nur noch darum, die Grenzen zu bestätigen und Kriterien für die weitere Aufteilung Afrikas zu bestimmen.
Es schien also fünf vor zwölf zu sein, als auch das Deutsche Reich versuchte, noch einen Teil vom Kuchen abzubekommen. Bei dem Afrika-Monopoly in Berlin schnitt die »verspätete Nation« dann aber gar nicht so schlecht ab: Dem Deutschen Reich wurden Togo, Kamerun, Deutsch-Südwest, Deutsch-Ostafrika sowie Ruanda und Urundi an den großen Seen zugeschlagen.
Mit der Kongokonferenz wurde der Grundstein gelegt für den Aufstieg des kaiserlichen Deutschlands zu einem kolonialen Weltreich. Nur zwanzig Jahre nach dem denkwürdigen Treffen wehte die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs nicht nur über den auf der Konferenz verhandelten Kolonien Afrikas, sondern unter anderem auch über der Bucht von Kiautschou in China, auf Samoa und in Neuguinea. Ein gewaltiges Gebiet, beinahe sechs Mal so groß wie das Mutterland. Gemessen an seinem neuen überseeischen Landbesitz war das Deutsche Reich damit nun die viertgrößte Kolonialmacht der Welt geworden und herrschte über gut 14 Millionen Eingeborene.
Doch warum strebte das Deutsche Reich überhaupt nach Kolonialbesitz? Welche Wünsche, Hoffnungen und Ziele, aber auch welche Ängste und Sorgen steckten hinter dem kolonialen Projekt? Welche Motive bewegten das Kaiserreich dazu, in allen Winkeln der Welt seine Herrschaft etablieren zu wollen?
Kolonien sind das beste Mittel, um Industrien, Export und Import und schließlich eine geachtete Seemacht zu entwickeln.
FRIEDRICH LIST, NATIONALÖKONOM, 1840
Die deutsche Kolonialgeschichte ist eingebettet in die Geschichte der europäischen Expansionsbestrebungen, die Mitte des 15. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen – in einer Epoche der Entdeckungen und Eroberungen, der »Zivilisierung« und christlichen Missionierung, die auch die Ausbeutung und Unterdrückung fremder Völker nach sich zog. Von Anfang an waren auch Deutsche an kolonialen Projekten beteiligt: So betrieben etwa deutsche Bankhäuser bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihre »kolonialen Geschäfte« in der »Neuen Welt«, in Afrika und Indien. Die Nürnberger Weiser etwa gründeten in Venezuela unter spanischer Oberherrschaft ihre eigene Kolonie, die sie indes schon nach dreißig Jahren wieder verloren. Ebenso kurzlebig waren die Versuche des Kurfürsten von Brandenburg im 17. Jahrhundert, in Afrika Fuß zu fassen; eine preußische Festung in Ghana kündet bis heute von der Anwesenheit der Deutschen. Vornehmlich der lukrative Sklavenhandel lockte, doch ohne eine schlagkräftige Flotte mussten all diese Übersee-Unternehmen nach nur wenigen Jahrzehnten wieder aufgegeben werden. Diese frühen kolonialen Experimente hinterließen kaum nennenswerte Spuren in der deutschen Geschichte. Für lange Zeit blieb es danach einigen Kaufleuten, Missionaren und Forschern überlassen, den Kontakt zwischen Deutschland und dem Rest der Welt zu pflegen. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts rückte dabei mehr und mehr ein neues Gebiet in das Zentrum der Aufmerksamkeit – Afrika, ein für die Europäer zu dieser Zeit wirklich noch »dunkler Kontinent«. Denn wegen seines unzuträglichen Klimas und der vielen Tropenkrankheiten galt Afrika lange als »Grab des weißen Mannes«. Die Präsenz der europäischen Kolonialmächte blieb daher für Jahrhunderte auf die Küstengebiete beschränkt, in denen ein etwas angenehmeres Klima herrschte. Erst mit der Entwicklung der Chininprophylaxe in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts sollte sich dies ändern. Nun wurde auch das Landesinnere zum wichtigen Betätigungsfeld für Missionare, welche die Seelen der »armen Schwarzen« retten wollten, für Kaufleute, deren Profitstreben keine Grenzen kannte, und für Forscher, denen für jede große Entdeckung internationaler Ruhm und nationale Ehre winkten.
Als 1848 die Bürger für einen demokratisch verfassten und einheitlichen deutschen Nationalstaat auf die Barrikaden gingen, erschien es vielen nur als folgerichtig, die nationalen Ambitionen auch mit der Idee einer deutschen »Weltpolitik« zu verbinden. Der Wunsch nach Kolonien diente als Projektionsfläche für die Verwirklichung nationaler Einheit und Größe. Erste Kolonialvereine wurden gegründet, die zahlreiche Projekte zur Errichtung eines »Neudeutschlands« in Übersee initiierten – von Plänen zu einer deutschen Besiedlung Palästinas bis zur wirklichen Gründung der Kolonie »Dona Francisca« in Brasilien durch eine in Hamburg ansässige Aktiengesellschaft. Immerhin 8000 Kolonisten brachen zu diesem Experiment nach Südamerika auf. Hoch im Kurs stand ebenso der Ruf nach Kolonialerwerb in Südostasien, im Pazifik, aber auch in Afrika.
Das Flottenprogramm, das man nun aus der Taufe hob, ist aus der bürgerlichen Aufbruchsstimmung heraus zu verstehen, die »allüberall für die Entfaltung der Machtherrlichkeit« des deutschen Volkes sorgen sollte. Die Flotte galt sozusagen als Verkörperung der Prinzipien nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit. »Die See ist die Hochstraße des Erdballs«, schrieb der Vater des Deutschen Zollvereins, Friedrich List, »der Paradeplatz der Nationen; die See ist der Tummelplatz der Kraft und des Unternehmergeistes für alle Völker der Erde.« Mancher Abgeordnete hoffte durch den »Verkehr mit anderen Völkern« auf einen »geistigen Fortschritt« auch in der Heimat: »Die Geschichte zeigt uns, dass handeltreibende Völker der alten und der neuen Zeit es waren, wo sich neben der Civilisation das freieste politische Leben entwickelte.« Doch mit dem Scheitern der Revolution war es auch mit allen Schwärmereien von einem deutschen Kolonialreich vorerst wieder vorbei. Dafür begannen seit dem Ende der 1850er-Jahre private Handelshäuser an der afrikanischen Westküste und im Pazifik damit, ausgedehnte Handelsnetze aufzubauen. Auch die Deutschen mischten mit. Das Hamburger Handelshaus Godeffroy etwa habe sich ein wahres »Handelsimperium in der Südsee« errichtet, so Horst Gründer. Gegen Elfenbein und Gold aus Afrika sowie Kokosöl, Perlmutt und Baumwolle von den fernen Südseeinseln tauschten die Europäer meist Gewehre, allerlei Tand und Schnaps.
Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen. Wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein...