VORWORT
Das zwanzigste Jahrhundert, das so faszinierend war wie furchtbar, hat den Deutschen mehr vom Guten wie vom Bösen auferlegt als jedes andere zuvor: mehr Leid und Tod, mehr Wohlstand und mehr Fortschritt. Es war das Jahrhundert der großen Kontraste – das Jahrhundert von Einstein und Hitler, von Auschwitz und der Mondlandung, von Kriegen und Verbrechen, aber auch von ungeheurer Friedenssehnsucht. Es begann mit einer Zeit der Katastrophen, 1914 bis 1945: Zwei mörderische Kriege, zahllose Wirtschaftskrisen und Finanzcrashs, der Aufstieg unmenschlicher Ideologien, die die Welt beglücken wollten und sie nur ins Unglück stürzten. Je mehr Abstand wir von dieser Epoche haben, umso mehr wird deutlich, dass es ein Weltbürgerkrieg gewesen ist – 31 Jahre lang. Der Zweite Weltkrieg speist sich aus dem Ersten, dazwischen gab es keinen echten Frieden. Der »Dreißigjährige Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts« prägte Generationen, bis in unsere Zeit.
Es begann mit einem Krieg, den keiner wirklich wollte – mit dem alle aber rechneten. Wer war schuld an ihm? Das Säbelrasseln hatte im Konzert der Großmächte Tradition. Der Krieg galt noch immer als ultimatives Mittel der Politik. Seit der Jahrhundertwende drehte sich die Rüstungsspirale immer schneller. Die europäischen Mächte rechneten mit einem Konflikt und verhinderten ihn dennoch nicht. Das Deutsche Kaiserreich fühlte sich von seinen Nachbarn eingekreist – tatsächlich grenzte es sich in der Ära Wilhelms II. selbst aus.
Die Gefahr eines Zweifrontenkrieges vor Augen, hatten deutsche Militärs sich längst in die Idee verrannt, Frankreich bei einem drohenden Krieg präventiv zu schlagen – um dann im Osten, gegen Russland, mit ganzer Kraft den Sieg herbeizuführen. Im Sommer 1914 brachte das Attentat von Sarajevo das Pulverfass Europa zur Explosion. Alle fühlten sich als Angegriffene, keiner als Angreifer. Wie in Berlin begrüßten auch die Menschen in Wien, Paris und London euphorisch jubelnd den Ausbruch eines Krieges, von dem noch niemand ahnte, wie mörderisch er wirklich werden würde – und dass er schließlich das Ende des alten Europa bedeutete.
Der »Weltenbrand« begann mit dem Angriff der deutschen Heere im Westen. Doch der Plan, Frankreichs Armeen über einen Marsch durch Belgien von allen Seiten zu umfassen, scheiterte. Bei Langemarck stürmten Tausende unerfahrener Rekruten ins gegnerische Maschinengewehrfeuer. Die grausamen Verluste wurden zu moralischen Siegen umgedeutet.
»Soldat-Werden, sein Jahr abdienen müssen, war für mich während der Gymnasialzeit immer eine peinliche, bedrohliche Vorstellung gewesen. Jetzt war es genau das Gegenteil: Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei [...] und von alledem, was wir als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung unserer Welt empfunden.«
Carl Zuckmayer, Schriftsteller
und Kriegsfreiwilliger, in seiner Autobiografie
»Als wär’s ein Stück von mir«
Feldpostbriefe und Tagebucheinträge legen Zeugnis ab, mit welchem Pathos das große Sterben begann: Als im August anno 1914 die Glocken den Krieg in Europa einläuteten, verstanden dies viele junge Menschen als Chance, aus der gefühlten Enge ihrer Epoche auszubrechen. »Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus der ärgerlichen Empfindung der Jugend vor«, schrieb ein 24-jähriger Augenzeuge: der junge Adolf Hitler, ein Mann ohne Beruf und Perspektive. Wie er meldeten sich in den ersten Tagen des Krieges rund eine Viertelmillion Männer in Deutschland freiwillig zum Militärdienst. Auch auf der anderen Seite der Front zogen junge Soldaten begeistert in die Schlacht. Der 26-jährige britische Berufsoffizier Bernard Montgomery wollte sich seine »ersten Sporen« verdienen. Beide lernten sie im Oktober 1914 den Schrecken des Krieges kennen – in der Nähe des belgischen Ortes Ypern. Hitlers Regiment wurde nahezu aufgerieben. Von 3000 Mann überlebten nur 750 den ersten Einsatz unverletzt. Nur wenige Kilometer entfernt traf Montgomery die Kugel eines Scharfschützen in die Brust. Stundenlang lag er im feindlichen Feuer, bis er von Kameraden geborgen wurde.
Nur selten gab es Gesten der Menschlichkeit: An Weihnachten 1914 winkten britische Soldaten aus den Schützengräben nahe Hitlers Regiment mit ihren Taschentüchern. Einige Deutsche erwiderten den Gruß. Manche stiegen aus den Gräben, hüben wie drüben, sangen in ihren Sprachen die gleichen Lieder zum Christfest. Ein kleiner Moment des Friedens im großen Krieg. Hitler indes hatte für solche Verbrüderung kein Verständnis. So etwas dürfe in Kriegszeiten »nicht zur Debatte stehen«. Für ihn war der »Kampf der Völker« schon damals eine Frage von siegen oder untergehen.
Manche Gegner in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs sollten sich später wieder begegnen. Der Brite Bernard Montgomery etwa sollte Jahrzehnte später als Befehlshaber alles daransetzen, Hitler-Deutschland militärisch zu bezwingen: Er zählte zu den Siegern, die im Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Deutschen entgegennehmen sollten.
Fegefeuer
Die europäischen Mächte hatten 1914 keine Vorstellung von dem totalen Krieg, der auf sie zukam. Der Sturmlauf der Deutschen im Westen führte binnen weniger Wochen in einen mörderischen Grabenkampf. Er wurde mit allen Mitteln geführt: Maschinengewehre mähten ganze Regimenter nieder. Feuerwalzen der Artillerie durchpflügten ganze Landstriche, hochgiftiges Gas kam erstmals zum Einsatz – mit fürchterlicher Wirkung. Der Name der französischen Festungsstadt Verdun wurde 1916 zum Menetekel für das Massensterben auf den Schlachtfeldern des zwanzigsten Jahrhunderts. Als der Vormarsch im Westen stockte, entschied sich der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn für eine verheerende Strategie: Entweder sollten seine Truppen die Bastionen um Verdun im Sturm nehmen oder den Gegner in einer »Abnutzungsschlacht« ausbluten.
Am 21. Februar 1916 begann die Offensive mit schwerstem Trommelfeuer. Ende Februar fiel Fort Douaumont, die stärkste Festung östlich der Maas, doch bald blieb die Offensive in einem zermürbenden Stellungskrieg stecken. Hohe Militärs sprachen von einer »Blutpumpe«, Frontsoldaten nannten es die »Hölle von Verdun«. Das Schicksal des Einzelnen galt nichts – auf beiden Seiten. Ein junger französischer Offizier hatte Glück im Unglück. Zwei Wochen nach Beginn der Schlacht wurde seine Einheit aufgerieben, doch er selbst war nur verwundet und geriet in deutsche Gefangenschaft. Charles de Gaulle wurde nach Deutschland gebracht, war im Lager besonders renitent, wollte ausbrechen. Sein Deutschlandbild erfuhr in jener Zeit seine erste Prägung.
Weit über 700 000 Soldaten starben in der Schlacht um Verdun, wurden verwundet oder blieben vermisst, ohne dass sich der Frontverlauf wesentlich änderte. Gemeinsam sahen sich immer mehr deutsche und französische Soldaten als Opfer einer selbstmörderischen Kriegführung, deren Befehlshaber aus der Ferne die blutige Tötungsmaschinerie des modernen Materialkriegs dirigierten. Der verlustreiche Kampf in den Stellungen setzte neue Maßstäbe – in Sachen menschlicher Verrohung. Doch soll es Ausnahmen gegeben haben: In den neu entstehenden Luftstreitkräften wuchs die Legende vom »ritterlichen Krieg«, hier ließen sich Kampfflieger wie Hermann Göring als Helden feiern. Doch später entpuppte sich die Heroisierung als trügerischer Schein. Ihre Popularität sollte sie später zu willfährigen Helfern Hitlers machen, wie so viele, die den Ersten Weltkrieg als junge Menschen erlebten und sich auch danach von nationalen Hassparolen hinreißen ließen.
Völkerschlacht
Dieser Krieg war einer der zerstörerischen Superlative. Bei Amiens in Frankreich durchbrachen erstmals Panzer die menschlichen Barrieren, am Skagerrak schlugen Großkampfschiffe die bis dahin größte Schlacht ihrer Geschichte, U-Boote verbreiteten auf den Meeren Angst und Schrecken und zum ersten Mal fielen Bomben aus Flugzeugen auf Truppen, vereinzelt auch auf Städte. 1917 eskalierte die europäische Völkerschlacht schließlich zum »Weltenbrand«. Die USA traten in den Krieg ein.
An der deutschen Heimatfront folgte auf die Kriegsbegeisterung tiefe Ernüchterung. Mangelwirtschaft und Hunger bestimmten den Alltag: Millionen von Männern kämpften auf den Schlachtfeldern, die Seeblockade führte zu Engpässen, letzte Reserven wurden mobilisiert. Bewusst sprach man nun nicht mehr vom Kampf der Mächtigen, sondern dem der Völker – aufgepeitscht von einer Propaganda, die Nationen zu »Erbfeinden« erklärte. Es waren Hassparolen mit nachhaltiger Wirkung.
In Berlin herrschte dennoch wieder Zuversicht. Denn in Russland beendete die »Rote Revolution« die Zarenherrschaft – dank Unterstützung Lenins durch deutsche Geheimdiplomatie. Nach einem vom Deutschen Reich diktierten Frieden im Osten wurden 1918 Kräfte frei, die im Westen dringend benötigt wurden. Doch war die materielle Überlegenheit der Gegner dort erdrückend: Von Frühsommer 1918 an trafen eine Million amerikanische Soldaten auf dem Kriegsschauplatz ein. Einer von ihnen war der 33-jährige George Patton, der vor Ort die ersten 500 US-Panzerfahrer ausbildete und in die Schlacht führte; am Ende des Zweiten Weltkriegs sollten seine »Tanks« beim Vormarsch der US-Truppen in Deutschland die entscheidende Speerspitze bilden. Die Deutschen waren nicht in der Lage, der materiellen Überlegenheit standzuhalten.
Im Sommer 1918 zog Ludendorff, General und mächtigster Mann in der Obersten Heeresleitung, die Notbremse und forderte die deutsche Regierung auf, einen Waffenstillstand zu erbitten. Einige...