Das Wetter-Experiment
Wettervorhersagen sind heutzutage allgegenwärtig. Ein durchschnittlicher Brite begegnet an einem durchschnittlichen Tag fünf bis sechs von ihnen, gesendet, gedruckt, getwittert oder vom Hörensagen weitergegeben. Sie können sich am Morgen von der guten Laune des Frühstücks-Wettermoderators wecken und nachts auf BBC Radio 4 von den mantrahaften Rhythmen des Seewetterberichts und seiner Erkennungsmelodie Sailing By in den Schlaf wiegen lassen.
Wie sie auch vermittelt wird, die Wettervorhersage ist ein fester Bestandteil des modernen Lebens. In der Regel sind Meteorologen adrett gekleidete, stets aufgeweckte Menschen voller Einfühlungsvermögen und von sorgenvoller Miene, wann immer sich etwas zusammenbraut. Der freundliche Ton ihrer Moderation, ihre schicken Anzüge und guten Manieren, schließlich die stets seriös vorgetragenen meteorologischen Warnungen lassen sie uns als Inbegriff des Konservativen erscheinen. In Wirklichkeit verhält es sich ganz anders. Diese Meteorologen sind das Produkt eines der berüchtigtsten und gewagtesten wissenschaftlichen Experimente des 19. Jahrhunderts.
Ein merkwürdiger Gedanke. So allgegenwärtig sind die Wettervorhersagen heute, dass man sich eine Zeit, in der es sie noch nicht gab, kaum vorstellen kann. Den heiteren, etwas windigen Nachmittag des 24. November 1703 zum Beispiel, als der »Große Sturm« – der stärkste Sturm, der je über England hinwegfegte – auf die Westküste zuraste. Kaum jemand hätte damals vorhersehen können, was sich kurz darauf ereignen sollte. Böen rissen Bleiverkleidungen von Kirchendächern, Windmühlen drehten sich mit solcher Geschwindigkeit, dass sie Feuer fingen und wie riesige Flammenräder rotierten. Rinder und Schafe wurden über Hecken geschleudert und Schiffe von Harwich quer über die Nordsee bis nach Schweden getrieben. Andere liefen auf den Goodwin-Sandbänken am Eingang zum Ärmelkanal auf Grund, wo schätzungsweise zweitausend Schiffe in den Fluten untergingen. Eine abschließende Zählung gab es zwar nicht, aber man nimmt an, dass zehntausend Menschen innerhalb weniger Stunden ihr Leben ließen. Für Daniel Defoe war es eine Katastrophe von schlimmerem Ausmaß als der Große Brand Londons im Jahr 1666.
Denn soviel Defoe wusste, konnte es jederzeit einen neuen Sturm geben. Es dauerte noch weitere anderthalb Jahrhunderte, ehe um 1860 die ersten Sturmwarnungen und Wettervorhersagen veröffentlicht wurden. Die Tatsache, dass es damit so lange dauerte, spiegelt die Komplexität des Problems wider: die gewaltige Aufgabe, die Atmosphäre zu entschlüsseln und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dass dieses Ziel überhaupt erreicht wurde, zeugt vom Fleiß und Intellekt einer bemerkenswerten Gruppe von Menschen, die zwischen den Jahren 1800 und 1870 lebten. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Milieus: Seeleute und Künstler waren darunter, Chemiker, Erfinder, Astronomen, Hydrografen, Geschäftsleute, Mathematiker und Abenteurer. Sie stellten radikale Theorien auf, erfanden Messgeräte, knüpften Netzwerke und überzeugten Regierungen, dass es ihre moralische Pflicht sei, ihre Staatsbürger zu schützen. Über sieben Jahrzehnte hinweg erzählt dieses Buch ihre Geschichte. Es handelt davon, wie sie die Grundlagen für die meteorologische Wissenschaft von heute legten und uns zugleich in die Lage versetzt haben, einen Blick in die Zukunft zu werfen.
Im Jahr 1800 war das Wetter ein Rätsel. Als Horatio Nelson vor Trafalgar auf dem Achterdeck der Victory stand, verfügte er über keine wissenschaftliche Methode, um die Windstärke zu messen. Und wenn der tollkühne Luftfahrer Vincenzo Lunardi in seinem Wasserstoffballon in die Lüfte stieg, hätte er nicht zu erklären vermocht, weshalb der Himmel blau erschien. Der junge J. M. W. Turner, der sich damals einen Namen als Landschaftsmaler zu machen begann, hatte keine Worte, um die Wolken zu beschreiben, die er malte, noch hätte er erklären können, weshalb sie in der Luft schweben konnten. Wenn Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und später ihr Präsident, eifrig Tagebuch über das Wetter führte, hatte er keine Ahnung, wie weit die Atmosphäre über seinem Landsitz Monticello in den Hügeln von Virginia in die Höhe reichte. Und obgleich Mary Shelley den Sturm in der Hochzeitsnacht von Viktor Frankenstein aufs Eindrücklichste beschrieb, wusste sie nicht, was ein Sturm wissenschaftlich betrachtet eigentlich war, wie er funktionierte oder wie er entstand.
Die verschiedensten Theorien versuchten, diese Wissenslücken zu füllen. Manche glaubten, das Wetter sei zyklisch, sodass sich die Temperaturen eines Jahres irgendwann im Lauf der Zeit in einem anderen Jahr wiederholten. Andere meinten, das Wetter werde durch die Umlaufbahn des Mondes oder die der Planeten bestimmt, durch das Pulsieren der Sonne, durch den Erdboden oder durch die Elektrizität des Himmels. »Die Urteilskraft wird in dem undurchdringlichen Labyrinth der Ursachen und Wirkungen in die Irre geführt«, stellte ein Theoretiker 1823 frustriert fest.[1] Für die meisten war das Wetter eine göttliche Gewalt, von Gott dirigierte Stimmungsmusik, mit der er einen Umschwung des Schicksals ankündigte oder Sünden bestrafte. Wie es in Psalm 19 heißt: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament.«[2] Den Naturgewalten ohnmächtig ausgeliefert, läuteten gläubige Christen die Kirchenglocken, wenn ein Sturm aufzog, in der Hoffnung, das Unwetter damit vertreiben zu können. Auf den Glocken lag der Segen der Geistlichen. François Arago, der Leiter des Pariser Observatoriums, hielt den Wortlaut einer typischen Segnung fest: »Möge sie, wann immer sie erklinge, vertreiben den üblen Einfluss der bösen Geister, Wirbelwinde, Donnerschläge und all der Verwüstungen, die sie bewirken, das Elend der Orkane und Stürme.«[3]
Das war nur zu berechtigt. Der Himmel war Gottes Wildnis, ein Ort für sich, eine undurchdringliche Schranke zwischen dem himmlischen Reich Gottes und der schlechten Welt hienieden. Viele nannten diese Sphäre damals noch »die Himmel«, ein allumfassender Ausdruck für Wolken, Regenbögen, Meteoriten und Sterne. Der Begriff war vage und ehrerbietig genug für einen derart ungewissen, unberechenbaren Raum: einen Ort, der zugleich unglaublich nah und doch unfassbar fern war.
Wetterbeobachter verfügten über kein Vokabular, um wissenschaftlich zu erklären, was sie sahen. »Unsere Sprache ist überaus dürftig & bar brauchbarer Worte, um die mannigfaltigen Vorstellungen auszudrücken, die ich vom Wetter habe, & ich mühe mich ab, passende Begriffe & Bilder zutage zu fördern, um meine Gedanken zu veranschaulichen«, hielt 1703 ein Tagebuchautor aus Worcestershire fest. Bestrebt zu beschreiben, was dort oben geschah, notierte er über die Himmel:
aufgebläht & zum Bersten volle, träge schwellende Basreliefwolken, die aufgedunsen herabhängen. Ich nenne sie ubera cœli fecundi: Himmelszitzen oder Wolkeneuter; sie umschlossen & erfüllten die ganze sichtbare Hemisphäre mit einer Farbe von Bleidämpfen oder wie bei einem hohen Fresco-Gewölbe oder einer geäderten Grotte.[4]
In seinem Versuch, Ordnung in die Natur zu bringen, deutete sich bereits an, was folgen sollte. Das auslösende Moment war die Veröffentlichung von Systema Naturae durch Carl von Linné im Jahr 1735. Dieses Buch gab den »beobachtenden Gentlemen«, wie Gilbert White sie später nannte, eine einfache Methode an die Hand, die ganze Vielfalt der Natur säuberlich nach Gruppen zu ordnen. Es dauerte nicht lange, und Linnés Ehrgeiz wurde zum Ideal der Aufklärung. Alles – Pflanzen, Tiere, Steine, Krankheiten – sollte studiert, sortiert, mit logischen lateinischen Namen versehen und damit verständlich gemacht werden.
Der Himmel jedoch entzog sich dem. Hundert Jahre nachdem der Tagebuchschreiber aus Worcestershire sich von der dürftigen meteorologischen Sprache im Stich gelassen gefühlt hatte, gab es noch immer kein verbindliches Vokabular, um die Vorgänge in der Atmosphäre zu beschreiben. Der Himmel war der letzte Teil der Natur, der zu klassifizieren übrig blieb: ein Relikt jener obskuren, chaotischen Welt, wie sie vor Newton und der wissenschaftlichen Revolution bestanden hatte. Und den wenigen Einzelkämpfern, die wie Jefferson in Monticello oder Gilbert White in Selborne tatsächlich über Temperatur und Luftdruck Buch führten, fehlte es nicht nur an einer verbindlichen Sprache, sondern sie verfügten auch über keine Wege und Foren, um ihre Forschungsergebnisse anderen mitzuteilen. An ihren Wohnort gebunden, von wo aus sie vielleicht zwanzig oder dreißig Kilometer bis zum Horizont zu sehen vermochten, war ihnen wohl das eigene Wetter vertraut, aber sie hatten keinen Begriff davon, was jenseits der Grenzen ihrer eigenen wissenschaftlichen Domäne vorging. Und von Fronten, Zyklonen, Cumuluswolken, Temperaturgefälle oder Strahlungsströmen wussten sie nichts.
Es dauerte bis 1800, ehe sich das änderte. Unter Intellektuellen kam zunehmend das Wort »Atmosphäre« in Gebrauch, ein zusammengesetzter Begriff aus dem Griechischen mit der Bedeutung »Lufthülle«. Der Wandel im Sprachgebrauch spiegelte eine veränderte intellektuelle Einstellung zum Gegenstand wider. Anders als die Himmel war die Atmosphäre...