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E-Book

Karl Marx in Paris

Die Entdeckung des Kommunismus

AutorJan Gerber
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492990554
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Seitdem sich die Elendszonen des Weltmarkts erneut ausweiten und die westlichen Metropolen erreichen, wird auch dort wieder verstärkt von Arbeit und Kapital, der Klasse und ihrem Kampf gesprochen: Im 200. Jahr nach seiner Geburt hat Marx erneut Konjunktur. Jan Gerber legt eine Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Werk von Karl Marx vor, die neuste Forschungen berücksichtigt. Einen besonderen Schwerpunkt bildet der erste Paris-Aufenthalt von 1843 bis 1845. Denn in dieser Zeit entwickelte Marx die zentralen Begriffe seines Denkens: Er traf als Radikaldemokrat in Paris ein und verließ die Stadt als überzeugter Klassenkämpfer und Kommunist.

Jan Gerber ist promovierter Politikwissenschaftler und habilitierter Historiker. Er lehrt an der Universität Leipzig und ist Leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow. Zuletzt erschien von ihm 'Ein Prozess in Prag - Das Volk gegen Rudolf Slánský und Genossen'.

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Leseprobe

Ankunft in Paris

Als Karl Marx Mitte Oktober 1843, im Alter von nur 25 Jahren, in Paris eintraf, war er weder Klassenkämpfer noch Kommunist. Der Begriff der Klasse hatte bis dahin an keiner Stelle seines Werks Erwähnung gefunden. Gegen die Rede vom Kommunismus, die durch Étienne Cabets 1840 erstmals erschienenes Buch Voyage en Icarie (Reise nach Ikarien) populär geworden war,[1] hatte er sogar eingehend polemisiert. In einer Auseinandersetzung mit der Augsburger Allgemeinen, die seinerzeit als eines der besten Blätter Europas galt, hatte Marx 1842 erklärt, die Idee des Kommunismus einer »gründlichen Kritik« unterziehen zu wollen. Auf Versuche, diese Ideen in die Tat umzusetzen, so ergänzte der Mann, dessen Name bald wie kein anderer mit dem Kommunismus gleichgesetzt wurde, sollte mit Kanonen geantwortet werden.[2]

Dennoch war Marx auch in dieser Zeit kein Freund der Friedhofsruhe, die seit dem Wiener Kongress 1815 in seinem Heimatland Preußen herrschte. Schon während seiner Studienzeit in Berlin, wo er sich vom raufenden und saufenden Korpsstudenten in einen philosophierenden Workaholic verwandelte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass die Welt falsch eingerichtet sei. Vom Kantianismus kommend, hatte er sich zunächst Hegel zugewandt, der 1818 den Lehrstuhl Fichtes an der Berliner Universität übernommen hatte. Der preußische Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein protegierte den Philosophen und seine Anhänger: Eduard Gans wurde 1826 zum ordentlichen Professor der Rechte in Berlin ernannt, Georg Andreas Gabler folgte 1835 auf den Lehrstuhl für Philosophie. Der Grund dieser Unterstützung war nicht allein Hegels Verklärung des Staats zum »Irdisch-Göttlichen«, mit der auch die stetig anwachsende preußische Bürokratie weltanschaulich aufgehübscht werden konnte.[3] Seine philosophische Schule stand zugleich für den zaghaften Reformkurs, den der Minister gegen die konservativen Kreise um den Sohn des Königs, den späteren Friedrich Wilhelm IV., durchzusetzen versuchte.

Als Marx 1836, nach einem einjährigen Intermezzo an der Universität Bonn, in Berlin zu studieren begann, war Hegel bereits seit fünf Jahren tot. Er war während der großen Berliner Choleraepidemie gestorben – wenn auch wohl nicht, wie vom Arzt diagnostiziert, an der Seuche, sondern an einem Krebsleiden. Vermittelt durch seine Schüler waren die Ideen des Philosophen an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wie die Hochschule bis 1945 hieß, jedoch überaus lebendig. Ein Brief, den Marx aus Berlin an seinen Vater schrieb, verdeutlicht die Euphorie, die das Studium Hegels bei ihm auslöste: Er sei »wie toll« an der Spree herumgelaufen und schließlich voller Erregung von Stralau, einem kleinen Dorf, in dem er sich zur Erholung aufhielt, nach Berlin gerannt. Dort habe er »jeden Eckensteher umarmen« wollen. Immer enger habe er sich an die »jetzige Weltphilosophie« gekettet. »Ein Vorhang war gefallen«, so resümierte Marx, »mein Allerheiligstes zerrissen und es mussten neue Götter hineingesetzt werden«.[4] Philosophie konnte seinerzeit eine ähnliche Begeisterung hervorrufen wie bald nur noch Popmusik.

Der Hegel, den Marx in den Vorlesungen von Eduard Gans kennenlernte, unterschied sich jedoch deutlich von dem Hegel, den Friedrich Engels später mit einer gewissen Übertreibung als Schöpfer der »königlich preußischen Staatsphilosophie« bezeichnete.[5] Schon bei einem Essen am Königshof im Wintersemester 1827/28 hatte sich der Thronfolger darüber empört, dass Gans seine Studenten zu Republikanern erziehe.[6] Hegel, an den die Beschwerde gerichtet war, übernahm die Vorlesung in Rechtsphilosophie daraufhin wieder selbst. Er hatte sie seinem Kollegen erst kurz zuvor überlassen.

In der Tat gab Gans dem Hegelianismus eine republikanische Färbung, die nur bedingt im Sinn seines Erfinders war. So hatte sich Hegel in Berlin mehrfach für das Ständewesen ausgesprochen; er war in seinen späten Jahren allenfalls ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Seine Philosophie bot jedoch Raum für liberalere Interpretationen: Immerhin gehörte er 1801, als er in Jena mit der Entwicklung seines Systems begann, selbst noch zu den Freunden der Französischen Revolution. Auch wenn er aufgrund des Großen Terrors auf Abstand zu den Jakobinern gegangen war, erhob er bis an sein Lebensende alljährlich am 14. Juli sein Glas auf die Erstürmung der Bastille.[7]

Die Junghegelianer schöpften das subversive Potenzial der Philosophie ihres Meisters weiter aus. Der Name dieses losen Zusammenschlusses von Theologen und Philosophen, dem sich Marx im Sommer 1837 anschloss, bezog sich nicht zuletzt auf den Altersdurchschnitt dieser neuen Generation von Hegel-Anhängern: Sie hatten ihre politische Prägung ausnahmslos in der Restaurationsära erhalten. Spätestens seit der französischen Julirevolution 1830 war der Verweis auf die Jugend jedoch auch eine Kampfansage ans Alte: Giuseppe Mazzini, dem Marx lange Zeit große Anerkennung entgegenbrachte, hatte 1831 im französischen Exil die radikaldemokratische Sammlungsbewegung Junges Italien gegründet. Kurz darauf entstanden die jungdeutsche Bewegung, die insbesondere durch Heinrich Heine Bekanntheit erlangte, und das Młoda Polska – das Junge Polen.

Ohne sich direkt auf diese teilweise nur kurzlebigen Gruppierungen zu beziehen, teilten die Junghegelianer deren Unzufriedenheit mit dem Zeitalter der Heiligen Allianz. Ausgehend von einer Historisierung der biblischen Schriften, gelangten David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Arnold Ruge und andere junge Anhänger Hegels innerhalb kürzester Zeit zur Kritik der Religion. Insbesondere Strauß, dessen 1835/36 erschienener Zweiteiler Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet zum Manifest der »linken« Hegel-Lektüre wurde, hatte noch versucht, Religion und Philosophie miteinander zu versöhnen. Durch eine historisch-kritische Bibelexegese, Quellenkritik und Mythenforschung sollte, wie er formulierte, die »Wahrheit der kirchlichen Vorstellung von Christus« herausgestellt werden.[8] Bald hielten die Junghegelianer dieses Unterfangen jedoch für unmöglich. Strauß hatte die Heilige Schrift so gründlich erledigt, dass sein komplizierter Versuch, den Glauben auf einer höheren Stufe wiederherzustellen, kaum noch einen seiner Freunde überzeugen konnte.

Die Kritik der Religion führte die Junghegelianer schließlich zur Kritik der Gesellschaft; die religionsphilosophische Debatte verwandelte sich in eine politische. Hierfür gab es gute Gründe: Denn in dem Maß, in dem die Fundamente des Glaubens zertrümmert wurden, wurden auch die Grundlagen des Staats demontiert.[9] Das betraf nicht zuletzt die Vorstellung vom Gottesgnadentum des Königs. Wenn die Autorität des Monarchen nicht auf Gott zurückgeht, so lautete eine der bald alles entscheidenden Fragen, wie ist sie dann zu legitimieren? Die enge Verknüpfung von Religion, Kirche, Staat und Herrscherhaus in Preußen tat ein Übriges. Der Landesherr war zugleich oberster Bischof; die evangelische Kirche fungierte als Staatskirche. Durch die Kritik der Religion wurde insofern der gesamte »christliche Staat«, wie die konservativen Kräfte um Friedrich Wilhelm IV. das von ihnen ersehnte Ungetüm bald nannten, infrage gestellt.

Im Zuge dieser Wendung vom Theologischen aufs Politische entfernten sich viele Junghegelianer immer weiter von Hegel. Am Ende wandten sie sich schließlich gegen ihn selbst. Das Zauberwort, das sie gegen ihren einstigen Lehrer richteten, hatte durch diesen selbst erst eine neue Bedeutung erlangt. Es hieß »Dialektik« und durfte bald in keiner Kampfschrift der marxistischen Arbeiterbewegung fehlen. Durch Negation und die berühmte Bewegung in Widersprüchen, die schnell auf den Dreiklang von These, Antithese und Synthese reduziert wurde, wollten Feuerbach, Marx und andere ihr einstiges Vorbild vom Kopf »auf die Füße« stellen, wie es in der bekannten Formulierung von Friedrich Engels heißt.[10] Die Junghegelianer, so schrieb der Philosoph Karl Löwith später, wollten »die philosophische Theorie in den Dienst der geschichtlichen Praxis stellen«; die Philosophie sollte zur verändernden Kraft werden.[11] Anders als von Hegel angenommen, so konstatierte Marx kurz vor der Übersiedlung nach Paris ganz exemplarisch, sei das Wirkliche nicht vernünftig, sondern das Vernünftige müsse erst wirklich werden.[12] In der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, seinem letzten ausschließlich in Deutschland entstandenen Manuskript, erklärte er, dass die Entzweiung des Menschen in einen dem Allgemeinwohl verpflichteten Citoyen und einen am Eigennutz orientierten Bourgeois in einer »wahren Demokratie« aufgehoben werden könne: »Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen.«[13]

Im Unterschied zu seinen philosophischen Überlegungen waren die politischen und sozialen Forderungen, die Marx formulierte, bis zu seiner Übersiedlung nach Frankreich jedoch ebenso spärlich wie unpräzise. Der Gedanke des Freihandels sollte mit...

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