1.
Die dritte Halbzeit gehört uns
Sonntag, 14:18 Uhr: Der Regen nieselt sanft auf Waschbetonplatten. Von der Bierbude strömt das Murmeln der letzten Ausharrer in Richtung Kabinentrakt. Dreizehntes Heimspiel, zehnte Niederlage, achtes Bier, es wird nicht besser, aber muss ja. Aus dem offenen Oberlicht der Gästekabine quillt die Euphorie. In der Heimkabine sammelt sich der TSV. Fußball trifft Fußpilz, jeder Vereinsmythos landet irgendwann auf dem gekachelten Boden der Tatsachen. Mittendrin: Verteidiger Chris.
Wenn jetzt noch einer diesen einen Satz sagt, drehe ich durch. Mein Blick schweift durch den Raum. Über zusammengeknüllte Stutzen, müde Augen. An Harrys Stirn klebt ein Grashalm. Mitten in die Stille knallt Schnecki eine Wasserflasche in seine Sporttasche. »Scheiße«. Seine Wut verhallt in den Gesichtern der Jungs, denen das Motto unserer Seuchensaison unsichtbar auf die Stirn geschrieben steht: »Es ist nicht so, dass wir nicht wollen – aber …«
Noch zwei Spieltage, noch zwei Heimspiele, Vorletzter der Kreisliga C, sechs Punkte fehlen zum Klassenerhalt. Sechs Punkte bis zum rettenden Ufer.
Das Spiel ist aus, und wieder hocken wir in unserer Kabine und hoffen, dass es für immer still bleibt. Dass keiner den einen Satz sagt, der alles noch unerträglicher macht. Dölli verzweifelt über den Taperesten an seinem Stutzen, reißt sich schließlich die Socken vom Fuß und wirft sie in den Mannschaftskoffer. Alles Ballast, alles weg. Hünemann ist in sein Smartphone abgetaucht. Das blaue Leuchten des Bildschirms macht sein Gesicht nur noch blasser. Unser Trainer Uwe schüttelt seit drei Minuten pausenlos den Kopf. Links, rechts, links, rechts, als hoffte er, dass ihm vielleicht irgendwann eine rettende Idee aus den Ohren fällt. Wird nicht passieren. Die Zeit dehnt sich wie ein Bungee-Seil. Die Stille nach dem Schlusspfiff.
Uwe räuspert sich. Wären wir auf einem Familienfest, würde er nun mit dem Messer gegen seine Bierflasche schlagen, damit auch der letzte Ochse versteht: Jetzt kommt eine staatstragende Rede. »Leute, ganz ruhig. Wir müssen das Positive aus dem Spiel ziehen. Gegen all die Widerstände haben wir es gar nicht schlecht gemacht. Wir standen gut in den Pressingzonen, haben konsequent verschoben, nur das Vertikalspiel war zu überhastet. Aber die wichtigste Lektion für uns heute ist: Wir gewinnen als Mannschaft, und wir verlieren als Mannschaft. Jeder sollte sich an die eigene Nase fassen, bevor er auf andere losgeht.« Ole steckt den Kopf aus der Dusche: »Ähh, kann mir jemand ein Handtuch leihen?« Uwes Rede ist damit bereits vergessen, bevor sie überhaupt auf den Punkt gekommen ist. »10 Euro für die Mannschaftskasse sind notiert«, kontert Hünemann und wirft Flasher ein Handtuch zu. Ordnung muss selbst im größten Chaos sein.
Trotzdem wieder Uwe: »Das Ergebnis liest sich natürlich heftig. Aber eigentlich ist alles gut. Im Endeffekt machen wir hier neunzig Minuten lang das Spiel und kriegen fünf dumme Konter. Ich muss das jetzt erst mal dem Kerl von der Kreiszeitung erklären. Kopf hoch, Jungs.«
»Genau, Trainer.« Martin hat ein Gespür für Geschleime. »Zwei Spiele bleiben uns noch, beide zu Hause. Das sind sechs Punkte. Das reicht, um da unten rauszukommen. Wir sind nicht schlechter als die anderen.« Jeder klopft jetzt irgendwie aufmunternd auf seine Bank. Einige wahrscheinlich sogar aus Überzeugung. Uwe schlurft zur Tür. Es scheppert. Dann ist es ruhig.
»Schaaaaalalala-Schalalalalalala«, jetzt wabern aus der Nachbarkabine auch noch die Siegesgesänge zu uns rüber. Die Derbysieger, wir Loser. Kai knallt die Tür zu und tritt gegen die Bank. Harry scheppert das gekippte Fenster zu. Es ist übertrieben, diese kleine Öffnung in der Ecke überhaupt Fenster zu nennen. Durch jahrelange konsequente Nichtbeachtung bei Renovierung und Reinigung fallen durch dieses Rechteck so viel Licht und Frischluft in den Raum, als hätte man es irgendwann zugemauert. Die Fugen zwischen den Fliesen haben sich schwarz verfärbt. Ich muss an Fußpilz denken. An nässende Eiterwunden zwischen den Zehen. Trotzdem bleibt mein Blick daran kleben. Als stünden dort aufmunternde Worte. »Das wird schon. Kopf hoch.« Doch da steht nichts. Da ist nur Dreck. Es ist zum Kotzen. Habe ich Badelatschen dabei?
Ich hätte ahnen können, dass das Wochenende unter keinem guten Stern steht. Spätestens, als mich mein Chef am Freitag kurz vor Feierabend zu sich rief.
»Was sagst du denn dazu, Chris?«, spuckte er am Ende eines endlos langen Monologs über Motivation, Sorgfalt als Zahntechniker und Firmenphilosophie in den Raum.
Ich antwortete: »Wozu genau?«, weil ich eben nicht wusste, was er von mir wollte. Weil ich eigentlich immer gedanklich aussteige, wenn jemand mehr als sechs Sätze aneinanderreiht, die nichts mit Fußball zu tun haben.
»Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?« Er klang durchaus besorgt. So wie mein Vater, als ich in der siebten Klasse die dritte Fünf in Mathe mit nach Hause gebracht hatte. Seine Angst, dass mein Abitur damit in weite Ferne rücken und ich bei Aldi an der Kasse enden würde, legte sich in Falten auf seine Stirn. Im Subtext schwang schon damals genau das mit, was mir mein Chef insgeheim mitteilen wollte: »Ich bin nicht sauer auf dich, einfach nur wahnsinnig enttäuscht.«
Ich guckte geläutert auf seinen Schreibtisch und verließ das Büro mit einer Abmahnung. Ab ins Auto, Mucke auf volle Lautstärke, runter vom Parkplatz. Kopf aus, Feierabend, Wochenende. Dabei hätte ich meinem Chef am liebsten noch hinterhergerufen: »Wo ich mit meinen Gedanken bin? Natürlich in der Kabine. Sonntag ist Derby.« Doch ich habe geschwiegen, weil er sowieso nicht verstanden hätte, was mir Fußball in der Kreisliga bedeutet. Er spielt Golf.
Jetzt ist Sonntag, das Derby vorbei, ich sitze in der Kabine und bin nicht sauer, sondern einfach nur enttäuscht. Von mir, von uns, vom Fußballgott. Dabei liebe ich diesen Ort, an dem der Maurer Kai seit sechs Jahren neben dem Anwalt Lutz hockt und hitzig über das Vertikalspiel diskutiert, das in der Zeit vor Uwe bei uns noch »Langholz« hieß. An dem es keine Rolle spielt, ob Harry Deutscher oder Riu Vietnamese ist oder ob der A-Jugendliche, dessen Namen sich keiner merken kann, heimlich davon träumt, doch noch von einem Bundesligascout entdeckt zu werden. Jeder weiß, dass Martin mal wieder von seiner Freundin betrogen wird und Hünemann Teile der Mannschaftskasse im Spielautomaten versenkt. Na und? Hier kann jeder sein, wie er will. Hier muss man niemandem Zucker in den Arsch pusten, um weitermachen zu dürfen. Hier darf man sogar manchmal ein Arschloch sein. Zumindest für drei Stunden. Es nimmt einem keiner übel. Bei uns will keiner wissen, wie der Tag so war. Keiner fragt, was in letzter Zeit eigentlich los sei. Hier stellt sowieso niemand Fragen. Außer vielleicht die eine, unvermeidliche: »Hat noch jemand ein zweites Paar Schienbeinschoner?«
Wir haben 1:5 verloren. Das ist nicht egal. Das tut weh. Körperlich irgendwie, aber auch seelisch. Warum eigentlich? Lutz erklärte mir mal, echte Liebe gebe es nur unter Freunden. Das war nach dem neunten Bier auf der letzten Weihnachtsfeier. Und da Lutz schon achtunddreißig ist und sicherlich mehr vom Leben weiß als ich mit einundzwanzig, glaube ich das, bis jemand den Gegenbeweis erbringt.
Jetzt sitze ich mit fünfzehn Freunden in einem Zwanzigquadratmeterraum voller Muff und Hoffnung. Von den Bänken blättert die grüne Farbe ab, in der Lüftungsanlage ist seit Jahren so viel Leben wie in dem Plastik, aus dem sie gemacht ist. Jedes Mal, wenn ich hier reinkomme, schießt mir der gleiche Geruch in die Nase. Dieses Gemisch aus feuchten Trainingsjacken und notdürftig gereinigten Sanitäranlagen. Süßlich und doch beißend. Fünfundzwanzig Jahre Schweißfüße lassen keine Fliese kalt. Fünfundzwanzig Jahre hat hier keiner mehr mit heißem Wasser durchgewischt. Seit fünfundzwanzig Jahren sagt der Vereinsvorstand, dass man die Kabinen renovieren müsse. Ist klar.
Aber es ist das Aroma, das in mir den Schalter umlegt. Es ist das Aroma, das mir sagt: »Fußball.« Es ist das Aroma, das mich heute vor dem Spiel zurückversetzte zum ersten Training nach der Winterpause. Schon da standen wir ganz unten drin und hatten doch noch große Pläne. Uwe hatte überraschend einen Cooper-Test anberaumt. In kurzen Hosen quälte ich mich durch den Schneeregen. Immer um die Hütchen herum. Noch eine Runde und noch eine Runde. Die Zeit im Nacken. Angetrieben von der Scham, mal wieder der Langsamste zu sein. Mit brennenden Oberschenkeln, schreienden Gedärmen und unappetitlichen Schimpfwörtern auf den Lippen schleppte ich mich als Vorletzter ins Ziel. Ich sank auf den nassen Rasen, die Kälte kroch langsam in meinen Körper. Und während der Rest der Mannschaft Richtung Kabine trottete, blieb ich noch ein paar Minuten liegen. Nach und nach gingen die Flutlichter über mir aus. Ich lag im Dunkeln, die Feuchtigkeit hatte auch die letzte Faser meiner Trainingsklamotten erobert. Ich war nass, mir war kalt, ich wollte ins Bett. Und ich lag einfach da und grinste wie ein Breitmaulfrosch. Weil ich glücklich war. Weil ich in diesem Moment nirgendwo lieber sein wollte als auf diesem Stück Rasen. Weil ich daran glaubte, dass sich die Quälerei lohnen wird. Dass wir es schaffen können, wenn wir die Gegner nicht ausspielen, sondern sie einfach überrennen, bis ihre Knie weich werden. Weil wir über neunzig Minuten fitter, galliger, williger auf den Ball und den Sieg sind.
Und plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl. Die Nase lag im Rasen. Das Blut pochte durch meine Adern. Die Feuchtigkeit stieg in die Schuhe. Das Wasser stand uns bis zum Hals. Ich...