Das Panorama des Lebens
»Dein negativer, positiver und neutraler Geist geben dir eine letzte Lektion.«
»Mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag schien sich in einer Art panoramaartigem, dreidimensionalem Rückblick vor mir auszubreiten. Jedes Ereignis wurde von einem Wissen über Gut und Böse oder der Einsicht in seine Ursachen und Folgen begleitet. Ich betrachtete alles nicht nur ausschließlich aus meiner Warte, sondern kannte auch die Gedanken aller anderen, die an diesem Ereignis beteiligt waren, als wären ihre Gedanken in mir. Ich konnte nicht nur sehen, was ich getan und gedacht hatte, sondern sogar, wie mein Handeln andere beeinflusst hatte.«[5]
Beim Sterben findet noch eine dritte Verwandlung statt, eine radikale Änderung deines Gedächtnisses und damit auch eine Umgestaltung deines Selbstverständnisses und deiner Identität. Es geht dabei um eine Art Kassensturz deiner Erinnerungen, wobei du dein gerade beendetes Leben neu bewertest und es dann erst einmal abhakst – es wird später noch genug Gelegenheit geben, es in allen Einzelheiten zu studieren –, damit du mit einer frischen Perspektive weitergehen kannst. Im Gegensatz zu den beiden anderen Verwandlungsprozessen, die automatisch und bei allen gleich ablaufen, spielst du bei diesem letzten Prozess selbst eine aktive Rolle.
Der Vorgang, um den es hier geht, heißt »Panorama des Lebens«, manchmal auch »die drei Sekunden des Sterbens« genannt, weil er von außen betrachtet nur ein paar Sekunden zu dauern scheint, obwohl er dem Sterbenden in seiner subjektiven Wahrnehmung sehr lange vorkommen kann. Die traditionelle Vorstellung dieses Panoramas entspricht einer Landschaft mit Hügeln, die dich umgeben. Auf die Hügel sind Bilder der wichtigen Ereignisse und Entscheidungen deines Lebens projiziert. Auch dein kleinster Gedanke ist in diesem Panorama wie in einem Hologramm zugänglich.
Dies ist der erste Moment beim Hinübergehen, bei dem du Fehler machen kannst, und zwar so gravierende, dass sie dich in Gefahr bringen können. Wenn du dich selbst nach den schonungslosen Erkenntnissen dieser »drei Sekunden« gnadenlos verurteilst, kann Mutlosigkeit deine weitere Transformation blockieren, weil du es dadurch nicht schaffst, das Magnetfeld der Erde zu verlassen.[6]
Deshalb ist es wichtig, dich schon während des Lebens auf diesen Prozess vorzubereiten. Das kannst du tun, indem du bei allen deinen Entscheidungen abwägst, wie du sie später wohl beurteilen wirst, wenn du mit dem Wissen über ihre Folgen konfrontiert werden wirst.
Erste Sekunde: Meine Vision
»Als Mensch hast du eine Bestimmung. Lebe sie und du bist göttlich.«
»Ich empfing das Geschenk der vollkommenen, holistischen Klarheit des Universums. Ich glaube, das war ein Geschenk von Gott oder Buddha oder so. In diesem Augenblick wusste ich, dass jedes Atom, jede Person, jedes Tier, jeder Stern und jede Pflanze ein Ziel hat. Ich kann das Bild, das in meinem Geist auftauchte, nur beschreiben als ein riesiges Puzzle. Es war zerstückelt, aber warm und tröstend … In dem Moment verstand ich vollkommen, dass alles im Universum ein Ziel hat.«[7]
In der ersten Phase des Panoramas nimmst du den Faden wieder auf, der zerrissen wurde durch das Vergessen, das in dem Moment stattfand, als deine Seele in den Fötus eintrat, der in deiner Mutter heranwuchs.
Als Seele hast du eine lange Vorgeschichte. Du hast schon viele Leben gelebt, Lektionen gelernt und Läuterung erfahren. Mit jedem Leben kommst du einen Schritt näher an den wunderschönen Zustand der Einheit mit »Allem, Was Ist«.
Bei diesem langsamen Entwicklungsprozess spielt jede neue Geburt, jedes neue Leben eine spezifische, genau überlegte Rolle. Auch bei deiner Geburt in dieses Leben kamst du mit selbstgewählten Aufgaben auf die Welt, mit deren Hilfe du der Einheit mit dem Universum näherkommen wolltest. Diese Aufgaben oder Vorhaben werden deine »Geburtsvision« genannt.
In der ersten Sekunde des Panoramas wird dir diese Geburtsvision offengelegt – plötzlich fällt dir das Ziel deines gerade abgeschlossenen Lebens wieder ein.
Schon diese erste Sekunde, die sich für deine subjektive Wahrnehmung möglicherweise endlos in die Länge zieht, kann einen Schock für den Geist darstellen, wenn du meinst, dass du deine Ziele vollkommen verfehlt hast. Deshalb ist es wichtig, noch während deines Lebens, trotz des Gedächtnisverlusts in der Gebärmutter, so gut wie möglich die ursprünglichen Aufgaben zu rekonstruieren, damit du deine Geburtsvision so gut wie möglich erfüllen kannst.
Bei dieser Rekonstruktion kannst du von zwei Voraussetzungen ausgehen:
Erstens bietet dir das Universum – oder wie immer du die Instanz nennen möchtest, die dafür zuständig ist – genau die Entwicklungsmöglichkeiten, die du für die Verwirklichung deiner Vision brauchst. Also, wenn sich dir durch ein besonderes Leiden, eine bestimmte Frustration oder vielleicht auch durch einen glücklichen Zufall bestimmte Lektionen aufdrängen, kannst du davon ausgehen, dass sie Teil deiner Vision sind.
Zweitens ist es das höchste Ziel jedes Lebens, so mit diesen Lektionen umzugehen, dass dabei Gesundheit, Unabhängigkeit, Verantwortlichkeit und Glück gefördert werden. Die Absicht hinter jeder Lektion ist letztendlich, bedingungslos lieben zu lernen.
Rekonstruiere deine Geburtsvision
Setze dich in eine meditative Haltung.
Lasse deinen Geist so leer wie möglich werden.
Versuche folgende Fragen intuitiv, nicht analytisch, zu beantworten:
Gibt es einen Menschen, den ich nicht ausstehen kann?
Spiegelt dieser mir meine eigenen negativen Eigenschaften?
Kann ich mich mit ihm versöhnen?
Was war das Verhängnisvollste, was ich je gemacht habe?
Wie oft habe ich es wiederholt?
Kann ich dieses Verhalten loslassen?
Wenn ich noch ein Jahr zu leben hätte, was würde ich machen?
Was wäre das Mutigste, was ich machen könnte?
Traue ich mich, das 40 Tage lang auszuprobieren?
Was würde ich gerne noch sehen, bevor ich sterbe?
Was ist mein höchstes Potenzial in diesem Leben?
Was sehe ich als meine Bestimmung?
Welche meiner Qualitäten sollen bei meiner Grabrede hervorgehoben werden?
Empfohlene Meditation 5
Das Ungesehene sehen
Zweite Sekunde: Meine Taten
»Es ist erstaunlich. Ihr wollt alle wissen, was morgen passiert, aber schert euch nicht um heute.«
»Er sah sein Leben vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen, nahm alles wahr, was er je gemacht hatte, sowohl Gutes als auch Schlechtes, und erfuhr tatsächlich die Auswirkungen seiner Taten. Zum Beispiel fühlte er den Schmerz der Kugel, die er während des Krieges abgefeuert hatte, wie sie den Körper des Feindes zerfetzte, den zu beseitigen er ausgeschickt worden war. Dann sah er die Wirkung, die das auf die Familie des Mannes hatte, und fühlte die Trauer von dessen Ehefrau.«[8]
In der zweiten Phase des Panoramas gehst du, geführt durch die Vision, die dir in der ersten Phase gezeigt wurde, wie durch endlose Gänge, Hallen oder Hügel mit Bildern deiner Taten. Dabei siehst du nicht nur das, was du während deines letzten Lebens gemacht und gedacht hast, sondern auch jegliche Folge davon, sowohl bei dir selbst als auch bei anderen. Gnadenlos werden die Absichten hinter deinen Taten sichtbar gemacht, und du spürst jeden Schmerz – aber auch jede Freude –, die du bei anderen ausgelöst und die du selbst erlebt hast.
Die endlosen Verkettungen deiner Taten und ihrer Folgen, die du hier erfährst, sind das Karma, das du in diesem Leben kreiert hast. Das Gesetz des Karmas geht davon aus, dass alles, was du tust, wenigstens zehnfach zu dir zurückkommt. Deine Taten und deren Folgen werden dir so lange durch die Handlungen anderer Menschen gespiegelt, bis du Einsicht und Mitgefühl entwickelst. Diese Einsicht, das Mitgefühl und die Werte, die sich dadurch bei dir bilden, werden in deinem Subtil-Körper gespeichert, damit sie nicht verloren gehen und dir auch in deinem nächsten Leben und allen weiteren Leben zur Verfügung stehen.
In dieser Phase des Sterbens ziehst du möglicherweise eine katastrophale Karma-Bilanz zwischen den negativen Konsequenzen deiner egoistischen Handlungen und den positiven Konsequenzen deiner mitfühlenden Handlungen. Damit du dadurch nicht aus der Bahn geworfen wirst, ist es wichtig, dass du dich auf diese zweite Sekunde des Panoramas vorbereitest. Die beste Vorbereitung in dieser Hinsicht ist »Karma-Yoga«, die systematische Ausübung mitfühlender Handlungen.
Ein Beispiel dafür ist folgende Begebenheit: Ende der achtziger Jahre wohnten meine Frau und ich in einem Kundalini-Yoga Ashram, wo wir uns mit ungefähr zwanzig anderen Leuten zwei stattliche Stockwerke in einem der besten Viertel Hamburgs teilten, insgesamt bestimmt 700 Quadratmeter. Eines Tages wurde an der Tür geklingelt. Da stand ein indischer Sikh und sagte: »Es geht mir so schlecht, kann ich etwas für euch tun?«
Das ist der Schlüsselsatz des Karma-Yoga. Wenn ich etwas für jemand anderen tue, dann wird es mir bessergehen. Und wir überlegten: Ja, es gibt etwas, das uns Freude bereiten würde. So hat er wochenlang in mühsamer »Überkopf«-Arbeit alle 700 Quadratmeter der Decke des Ashrams gestrichen. Danach ging es ihm besser.
Im Zentrum des Karma-Yoga steht deine Absicht. Wenn du Karma-Yoga aus...