Einleitung: Data Unser
»I suspect that when the history is written two hundred years from now, a trend will emerge as something very important that happened in human thinking during the time when we were alive, and that is that we are becoming rational, analytical and data-driven in a far wider range of activity than we ever have been before.«
Larry Summers, Ex-Präsident von Harvard und
Chief economic advisor von Barack Obama
Bier und Pampers
Die Kundendaten-Revolution schickte ihre Vorboten Anfang der 1990er-Jahre. Unter anderem an die Regale mit den Windeln der Wal-Mart-Filialen. Der größte Einzelhändler der Welt hatte früh in Datenbanksysteme investiert, zunächst um Logistik und Lagerhaltung zu optimieren. Es sind unterschiedliche Anekdoten im Umlauf, wie es zu einem Erweckungserlebnis für die Marketers des Konzerns in Sachen Informationstechnologie kam. Ein Manager von Wal-Mart hat uns die Geschichte so erzählt: Ein kluger Kopf im Vorstand wurde nicht müde zu betonen, dass im Informationswust der Datenbanken jede Menge Schätze zu heben sind, an die heute noch niemand denke. Er überzeugte seine Kollegen, einen Ideenwettbewerb mit hohem Preisgeld auszurufen. Zwei Mitarbeiter der IT-Abteilung machten sich daran, Milliarden von Zeilen auf Kassenbons nach überraschenden Korrelationen zu durchforsten. Und siehe da: Ab den frühen Abendstunden landen Bier und Pampers auffällig oft im gleichen Einkaufswagen.
Die psychologischen Mechanismen hinter diesem Kaufmuster sind nicht schwer zu erraten. Männer auf dem Heimweg finden die Aussicht, bald am Wickeltisch zu stehen, wenig erfreulich. Und belohnen sich schon mal vorab. Die beiden IT-Mitarbeiter schlugen vor, Bierangebote künftig direkt neben den Windelregalen zu platzieren. Die Impulskäufe in Testmärkten schossen in die Höhe und die simple wie effektive Marketingmaßnahme der Regaloptimierung wurde in allen Märkten umgesetzt.
Knapp zwei Jahrzehnte ist das Fallbeispiel vom Bier und den Pampers alt. Damals verfügten nur wenige Großunternehmen über die Ressourcen für Data-Mining – also große Datensätze strukturiert aufzubauen und diese unter anderem für Marketingzwecke intelligent auszuwerten. Die Technologie hat sich demokratisiert. Heute kann jeder Pizza-Lieferservice datenbasiert Kundenbindung betreiben. Die analytischen Vorreiter kennen die Preispunkte ihrer Kunden und wissen zumindest annähernd, was und wie viel der Kunde bei der Konkurrenz einkauft. Google, Amazon, Apple, eBay und Facebook haben ihre globalen Geschäftsmodelle auf (Kunden-)Daten aufgebaut und geben mit ihrem neuen Herrschaftswissen einen Hinweis darauf, wohin die Reise in Sachen umfassende Kundenkenntnis und differenzierte Ansprache geht.
Pottwale im Datenmeer
Dieses Buch erzählt die Geschichte von Daten, die Unternehmen über uns sammeln und in Kundenbeziehungen nutzen. Diese Geschichte geht uns alle an und dies nicht nur in unserer Rolle als Kunden. Die Revolution der Kundendaten ist Teil einer größeren Umwälzung. Die Digitalisierung hat nach PC und Internet gerade die dritte Zündstufe zugeschaltet. Speicher wird immer günstiger, die Rechenleistung immer größer, die Algorithmen der Auswertungssoftware immer intelligenter. Informatiker haben dieser Revolution die Überschrift »Big Data« gegeben. Die Datensätze wachsen exponentiell. Wir lernen gerade, die informationelle Rohmasse für Innovation in allen Bereichen zu nutzen. Daten sind die Trittleiter zu einer neuen Erkenntnisstufe. Big Data wird Gesellschaft, Politik und Wirtschaft so grundlegend verändern wie der elektrische Strom und das Internet. Der deutsche Forscher Dirk Helbing, Physiker, Mathematiker und Soziologe in einer Person, baut gerade an der ETH in Zürich eine Apparatur wie aus einem guten Science-Fiction-Roman. Die Trendforscher Matthias Horx und Holm Friebe nennen Helbings »Live Earth Simulator« das »ehrgeizigste Vorhaben der Prognostik seit dem Orakel von Delphi«.1 Der Weltsimulator soll durch Echtzeitanalyse der anschwellenden Datenmasse den epidemischen Weg von Schweinegrippenviren vorausberechnen können. Er wird effiziente Maßnahmen gegen den Klimawandel identifizieren und rechtzeitig Alarm schlagen, wenn eine neue Finanzkrise droht. Im unternehmerischen Anwendungsmodus wird der Simulator auch berechnen können, ob die Einführung eines Produktes den Wettbewerber in die Bredouille bringt – oder eher das eigene Produktportfolio kannibalisiert.
Für den Gründer der Zeitschrift Wired, Kevin Kelly, ist das Internet ein »magisches Fenster«. Nur kleine Kinder hätten sich jemals erträumt, dass es ein solches Fenster jemals wirklich geben würde. IT-Systeme im Zeitalter von Big Data können, was IT-Visionäre vor Jahrzehnten versprochen haben. Sie aggregieren das Wissen der Welt auf einem Bildschirm. Sie erkennen Zusammenhänge, die für die menschliche Auffassungsgabe zu komplex waren. Und sie bilden Modelle, die uns mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein Fenster für den Blick in die Zukunft öffnen. Rechner kennen uns besser als wir selbst. Zumindest sagen sie oft zuverlässiger als wir selbst voraus, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten werden. Mietwagenfirmen wissen aufgrund unseres Kundenprofils, mit wie viel Benzin im Tank wir das Leihauto zurückgeben. Ein analytisch getriebener Online-Händler weiß, bei welchem Preis ein Stammkunde mit welcher Wahrscheinlichkeit zuschlägt. Und wie viel Budget er für personalisierte Werbung dafür einsetzen muss. Kreditkartenunternehmen können mit sehr hoher Trefferquote prognostizieren, wer sich in den kommenden fünf Jahren scheiden lässt.
An Daten für die Vermessung der Wirklichkeit mangelt es nicht. Schon gar nicht an geschäftsrelevanten Daten. Das Smartphone hebt die Trennung von On- und Offline-Welt auf und übersetzt unseren Alltag in einen Datenstrom. Digitale Bezahlsysteme werden immer populärer und holen den Akt des Kaufens auch in der Welt aus Steinen und Mörtel aus der Anonymität. Auch Unternehmen selbst hinterlassen immer mehr Datenspuren und werden so als Kunden in Business-to-Business-Märkten immer transparenter. Zeitgleich lernen wir, Muster in den Exabytes (das sind 10 hoch 18 Byte) öffentlich zugänglicher Datenströme zu erkennen – zum Beispiel in den Beziehungen aus sozialen Medien nach dem Motto: Sage mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist. Wir können diese Muster heute für »predictive modeling« nutzen, also um Verhaltenswahrscheinlichkeiten von Gruppen und Individuen zu berechnen. Die Vorstellung mag uns nicht zwingend sympathisch sein, aber als Verbraucher sind wir im Wortsinn berechenbar geworden.
Der Wert der Daten erwächst aus ihrer Verknüpfung. Gelingt diese auch noch in Echtzeit, stoßen wir die Tür zu einem neuen Zeitalter der Interaktion mit Kunden auf. Die Ära der Intuition ist vorbei. Informationstechnologie von IBM mit Spitznamen Watson schlägt nicht nur menschliche Allzeit-Champions in der US-amerikanischen Kult-Quizsendung Jeopardy!, bei ironisch und vertrackt formulierten Alltagsfragen aus allen Wissensfeldern. Wenn IT den Zugang zu den richtigen Daten rund um Kunden bekommt, verkauft sie auch besser als Erfahrung und Bauchgefühl von Marketers. Das ist kein Glaubenssatz, sondern empirisch nachweisbar. Data Unser wird diesen Nachweis mit Zahlen und Fallbeispielen führen. Unser Ziel ist es, Unternehmensentscheider und interessierte Verbraucher bei der Navigation in ein Zeitalter zu unterstützen, in dem Daten der Kitt in der Kundenbeziehung werden.
Der CEO von SAP Jim-Hagemann Snabe beschreibt die Aufgabe von Data-Mining und Business-Analytics im Zeitalter der großen Datenmengen mit dem Bild von »der Nadel im Heuhaufen«, die es in Echtzeit zu finden gilt. Ein befreundeter und IT-affiner Marketer hat die schöne Formulierung geprägt: »Wir müssen die Pottwale im Datenmeer finden.« Wenn wir Autoren die Botschaft dieses Buchs im Stil der klassischen Werbung in ein Wort fassen müssten, wäre dies: Crunch! Knackt die Datensätze! Die eigenen und die frei flottierenden! Wenn ihr es nicht tut, werden euch andere zuvorkommen. Analytisch getriebene Unternehmen kennen ihre adressierbaren Märkte besser, sie segmentieren ihre Zielgruppen passgenauer und sie interagieren mit Kunden persönlicher. Datenbasiertes Marketing bietet heute die große Chance, intelligenter als die Konkurrenz zu sein. Noch. In spätestens zehn Jahren wird es zum Hygienefaktor werden, Kundendaten intelligent erheben und auswerten zu können. Direkter formuliert: Unternehmen ohne diese Fähigkeit werden vom Markt verschwinden. Und übrigens: Kunden knacken ebenfalls Daten. Die Preissuchmaschine auf dem Smartphone vor dem Produktregal ist da nur der Anfang.
Die Evidenz der Evidenz
Es war nie interessanter, für Marketing und Vertrieb zu arbeiten. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Verkaufs in Massenmärkten sind wir in der Lage, dem einzelnen Kunden in den Kopf zu schauen. Der »360-Grad-Blick« auf den Kunden war lange nur eine Wunschvorstellung von Marketers und Vertrieblern. Ein Buzzword, mehr nicht. Wenn wir heute Daten intelligent verknüpfen, wird ein tiefes Verständnis auf Einzelkundenebene real möglich. Denn dann befragen wir nicht mehr kleine Fokusgruppen im Stil der klassischen Marktforschung nach dem Motto: »Wie hat Ihnen dieses Produkt gefallen? Welches Produkt wünschen Sie sich?« Wir wechseln endlich von der Rolle des Fragenden in die Perspektive des Beobachters. Die aggregierten Datenpunkte erlauben uns, das Verhalten von Kunden zu messen und daraus die richtigen Rückschlüsse entlang der vier großen Marketing-Ps zu ziehen: Place, Product, Price und Promotion....