2. Loveparade Duisburg –
Der Tunnel des Grauens
»Wir sind verantwortlich für das, was wir tun,
aber auch für das, was wir nicht tun.«
Voltaire
In Hamburg entsteht mit der architektonisch stilvollen HafenCity ein neues Stadtviertel mit maritimem Flair und innovativen Wohnkonzepten, dessen Areal von über zwei Quadratkilometern von zugänglichen Fluss- und Kanalläufen eingefasst wird. Den visuellen Höhepunkt dieses Viertels bildet die Elbphilharmonie, erschaffen von einem schweizerischen Architekturbüro von Weltruhm. Hier prägt nun eine beeindruckende und erfolgreiche Umwandlung ehemaliger, nicht mehr benötigter Hafenflächen das Stadtbild.
Berlin gelang es, nach dem Fall der Mauer und dem Verschwinden des Todesstreifens zurückzukehren zu altem Glanz, zu einer Metropole der Kultur, Politik, Medien und der Wissenschaften. Auf den Hinterlassenschaften eines zugrunde gegangenen Regimes, wie Stacheldraht, Kfz-Sperren und Beobachtungstürmen, erfand sich diese Stadt kreativ und zukunftsweisend neu. Die neue Mitte arrivierte zur größten innerstädtischen Baustelle Europas. Der Potsdamer Platz wurde neu und modern erschaffen gemäß dem erfolgreichen Konzept einer Skyscraper City des 21. Jahrhunderts. Das städtebauliche Ensemble in kosmopolitischer Lage bildet eine bedeutsame Touristenattraktion und bereichert die Berliner Skyline.
Solche Erfolgsgeschichten sucht man im Ruhrgebiet, einem der größten Ballungsgebiete Europas mit über fünf Millionen Einwohnern, vergeblich. Trotz Milliarden Deutscher Mark und Euro an Steuergeldern beutelten das Zechensterben und eine unaufhaltbare Deindustrialisierung die Region schwer. Die Bemühungen, einen subventionsgelenkten Strukturwandel zu erzwingen, scheiterten. Doch die Ruhrgebietsstädte starteten einen letzten Versuch, um auf Augenhöhe mit angesagten, coolen Metropolen Europas zu gelangen. Die politischen Verantwortlichen schlossen einen Vertrag mit der Betreiberfirma der markenrechtlich geschützten Loveparade, deren einstiger Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter der Inhaber Deutschlands größter Discount-Fitness-Kette ist. Begriffe wie »Imagegewinn« und »Standortstärkung« schwappten daraufhin durch die renovierungsbedürftigen Rathausflure vieler Rhein-Ruhr-Städte. Den Anfang setzte Essen 2007 mit 1,2 Millionen angegebenen Besuchern, es folgte 2008 Dortmund mit 1,6 Millionen Partygästen, 2009 war Bochum fest eingeplant, 2010 Duisburg und 2011 Gelsenkirchen. Doch Bochum scherte 2009 unerwartet aus der Reihe der widerspruchslosen Enthusiasten aus. Nach einem prüfenden Blick in die Unterlagen der Veranstaltungsfirma und einer Rücksprache mit Polizei und Feuerwehr kamen die Entscheidungsträger dieser Stadt zu einem unerwarteten Ergebnis. Die Bochumer Bürgermeisterin und der Polizeipräsident stemmten sich gegen die aufgebaute Erwartungshaltung einer ganzen Region, besonders der dort politisch verantwortlich handelnden Personen, und sagten das Massen-Event kurzum wegen Sicherheitsbedenken ab. Die folgenden Reaktionen übertrafen die Befürchtungen der nach bestem Wissen und Gewissen Agierenden um ein Vielfaches. Der Geschäftsführer der Kulturhauptstadt 2010 wird mit folgenden Worten bezüglich der Absage zitiert: »... sie konfrontiert uns mit allem, was wir schon glaubten überwunden zu haben: Kleinstadtdenken, Provinzialität, das ganze zähe Grau des alten Ruhrgebiets. ... Menetekel für die gesamte Kulturhauptstadt.«
Der Bochumer Polizeipräsident sah sich genötigt, seine Entscheidung öffentlich in einem Brief zu rechtfertigen: »Was denken sich eigentlich Politiker und Journalisten, die die Metropole Ruhr als Monstranz ihrer Popularität vor sich hertragen, wenn es um die Verantwortung derer geht, die als Amtsträger für die Folgen ihres Handelns persönlich haften?«
Doch die diffamierenden Vorhaltungen sollten nicht verstummen: peinlich, provinziell, nur Deppen am Werk und eine Blamage fürs Ruhrgebiet, so schallte es den Aufrechten entgegen.
All das, was in Bochum nach gründlicher Prüfung nicht realisierbar schien, war im knapp 40 Kilometer entfernten Duisburg nur ein Jahr später offiziell kein Problem mehr. Und dies trotz zahlreicher Sicherheitsbedenken von unterschiedlichster Seite und einer miserablen städtischen Finanzlage – Duisburg stand unter Kommunalaufsicht und verfügte nur über einen Nothaushalt.
Wie hoch war die erwartete Besucherzahl? Wie viele Besucher passten auf einen Quadratmeter? Wo lag die Belastungsgrenze des Veranstaltungsgeländes und der gesamten Stadt? Das Kalkulieren mit Besucherströmen begann. Wie würden sie anreisen und wie lange auf dem Party-Gelände verweilen? Mögliche Unglücksszenarien wurden durchgespielt: Unwetter, größere Schlägereien, Versorgungslücken, Panik der Massen … War ausreichend für eine medizinische Erst- und Notversorgung gesorgt, reichten die bereitgestellten Toiletten?
Der Krisenstab und die Organisatoren waren sich über das Worst-Case-Szenario einig und antworteten entsprechend übereinstimmend auf Presseanfragen:
»Regen. Ein Unwetter.«
Jegliche Überlegungen und Vorarbeit waren nach Meinung von Verwaltung, Politik, Veranstalter und Polizei in Duisburg offenbar mit den besten Resultaten beendet worden. Denn mit welcher Begründung wurde ansonsten die Genehmigung für die »größte Party der Welt« nur wenige Stunden vor ihrem Beginn veranlasst?
Die Profilierungssucht einiger Politiker und die Geschäftsinteressen einer Fitness-Kette bezüglich ihres teuer erkauften Marketinginstruments wischten an diesem 24. Juli 2010, morgens um neun Uhr, in Duisburg alle berechtigten Sicherheitsbedenken vom Tisch. Die Tragödie nahm ihren fatalen Verlauf.
Von all dem Gezerre und Taktieren hinter verschlossenen Türen bekamen Ulrike und Patrick als Angehörige einer der 18 angeforderten Hundertschaften nicht viel mit.
Über viele Freunde verfügte die Musik mit den hämmernden Bässen in ihrer Einheit nicht. Die meisten der Kollegen konnten damit nicht viel anfangen und erwarteten einen Einsatz mit großen Menschenmassen, aber ohne besondere Vorkommnisse. Sie gingen davon aus, dass sich fast alle ihre Aufträge wie so oft auf das Absperren und Freihalten des Veranstaltungsgeländes, der An- und Abreisewege und die Lenkung der Menschenmassen beschränken würden. Ein tragischer Irrtum.
Zusätzlich stellte man sich auf einige Drogendelikte ein, vielleicht sogar einen ganzen Haufen von Straftaten im Zusammenhang mit Rauschmitteln. Dies würde aber drei Gehaltsstufen über ihnen beschlossen werden und hing davon ab, wie gründlich die Drogenkontrollen sein sollten und wie viele Polizisten dafür bereitgestellt wurden. Ulrike und Patrick rechneten wie in den letzten Jahren mit einer politisch beeinflussten Abwägung der Polizeiführung. Die Verantwortlichen wollten zwar nicht in Verdacht geraten, rechtsfreie Räume zu dulden, Happening hin oder her. Aber die Führung beabsichtigte auch nicht, Hunderttausende junge Menschen pauschal zu kriminalisieren und jedem Besucher Drogenkonsum und -handel zu unterstellen. Es war angedacht, die friedliche Masse nicht über Gebühr zu verärgern und gegen sich aufzubringen. Falls Partygäste zu blöd und zu offensichtlich mit Drogen handeln würden, müssten die Polizisten sie natürlich abfischen, die Ware beschlagnahmen und die Personen anklagen. Groß angelegte Rauschgiftkontrollen waren aber weder gewünscht noch eingeplant.
Ulrike und Patrick erfuhren in den Vorbesprechungen, dass der gesamte Einsatz mit einer Früh- und einer Spätschicht abgearbeitet werden sollte. Als Grund dieser Verfahrensweise wurden arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen über die sonstige Einsatzdauer von Kräften und der Kostenfaktor angeführt. Da im Ruhrgebiet ortsnah beinahe unbegrenzt Einsatzhundertschaften zur Verfügung standen, plante die Polizeiführung, zur Halbzeit des Events einen Teil der Kräfte durchzutauschen, um so zusätzliche Logistik, Aufwand und Kosten für Übernachtung und Verpflegung Tausender Einsatzkräfte zu sparen. Denn unabhängig vom erhofften Imagegewinn und den verbreiteten Werbebotschaften der Initiatoren blieb die Tatsache, dass die Kosten für die Heerscharen von Polizeibeamten der Steuerzahler zahlen musste. Die Beamten rechneten also mit einem zwölf- bis dreizehnstündigen Arbeitstag, und danach sollte es wieder heimwärts gehen.
Patrick, dem 38-jährigen Polizeioberkommissar, war das mehr als recht. Denn ihn erwartete gegen Mitternacht ein heißes Date. Selbst bei einer Verlängerung der Frühschicht, Stau auf der Rückreise und inklusive einer Dusche in der Dienststelle sollte er es pünktlich nach Hause zum Mitternachtsgrillen mit seiner großen Liebe schaffen, seiner Ehefrau Britta. Sie wollten in der lauen Sommernacht Scampi grillen, einen angenehm kühlen Chardonnay genießen und so ihren nur wenige Tage zurückliegenden achten Hochzeitstag feiern. Als Höhepunkt dieser Nacht stand ungestörter, leidenschaftlicher Sex auf der Speisekarte, denn die siebenjährige Tochter Hannah schlief aus diesem Anlass bei der Oma. Acht Jahre Ehe stellten im zeitaufreibenden und von Scheidungsbetroffenen nur so wimmelnden Polizeiapparat eine wahre Seltenheit dar. Und dies galt es gebührend zu zelebrieren.
Aber erst musste noch die Loveparade über die Bühne gehen.
Der Polizeioberkommissar Patrick diente auf eigenen Wunsch in der Hundertschaft, ihm gefiel die abwechslungsreiche Arbeit. Keine Woche glich der vorherigen, und sie eilten im Hundertschaftsrahmen quer durch Deutschland von einem Brandherd zum nächsten. Das war sein Ding.
Die 29-jährige Ulrike sah ihre Arbeit in...