Vom engagierten Bürger zum Citizen Entrepreneur
Die Herausforderungen der Zukunft angehen
Stephen Hawking, der bekannte britische Physiker, hat kurz vor seinem Tod eindringlich davor gewarnt, dass die Menschheit vor Gefahren stehe, die langfristig ihre Existenz gefährdeten. Wir hätten die Technologien entwickelt, die den Planeten, auf dem wir leben, nach und nach zerstören, aber nicht die Fähigkeit, der Erde zu entkommen. Die Folge unseres Tuns: Klimawandel, Rückgang der Artenvielfalt, Abnahme der landwirtschaftlichen Erträge und der nutzbaren Flächen durch Erosion und Bebauung, Chemierückstände in Lebensmitteln, Belastung durch Feinstaub, Übersäuerung der Meere, Flüchtlingsproblematik – um nur die bekanntesten Problemlagen zu nennen. Die Aufzählung ließe sich noch deutlich erweitern.
Die Politik allein schafft es nicht, dieser Probleme Herr zu werden. Sie wird den Herausforderungen nicht gerecht, setzt die falschen Prioritäten. Die Bürger spüren es. Die großen, wirklich wichtigen Fragen werden nicht gestellt. Hawking hat dies außergewöhnlich scharf formuliert: »Wenn wir uns die letzte Chance bewahren wollen, bleibt den führenden Entscheidungsträgern dieser Welt nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass sie versagt und die Mehrheit der Menschen im Stich gelassen haben.« 69
Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit – bevor das Ausmaß und die weitere Verschärfung der Problemlagen unsere Handlungsmöglichkeiten übersteigen. Das sollte Anlass sein, unsere Prioritäten zu überdenken. Eine vernünftigere Lebensform, ein angemessener Konsum, ein Leben in Einklang mit den vorhandenen Ressourcen werden kommen. Die Frage ist nur: durch Einsicht oder durch den Zwang der Umstände? Wir brauchen keine unnützen Produkte, die allein dem Zweck dienen, Unternehmensgewinne zu maximieren. Weil wir uns Verschwendung nicht länger leisten können. Weil wir unseren Planeten überlasten. Weil wir in einer vollen Welt leben und nicht mehr in einer leeren. Weil wir über unsere Verhältnisse leben.
Als Indikator dafür gibt es den Overshoot Day. Er beziffert, an welchem Tag im Jahr die Menschen so viele Ressourcen verbraucht haben, wie durch die Natur selbst in einem Jahr neu produziert werden. Im Jahr 2000 war der Overshoot Day weltweit noch der 1. November, im Jahr 2018 bereits der 1. August. Für Deutschland war dieser Tag im Jahr 2018 sogar schon der 2. Mai. Wir verbrauchen also nicht nur mehr, als wir zur Verfügung haben, sondern der Prozess beschleunigt sich auch noch.
Welche fatale Rolle das Marketing bei der Steigerung des Konsums spielt, haben wir gesehen. Wenn wir unsere Ressourcen nicht mehr für Marketing fehlleiten, gewinnen wir Handlungsspielräume, die drängenden Probleme unserer Zeit anzugehen.
Mehr als nur Egoismus
Wirtschaft, so betrachten es die meisten, sei das Feld der Egoisten, der Ellenbogentypen und der auf materielle Werte fokussierten Menschen. Interessanterweise folgt die Wirtschaftstheorie dieser Annahme bedingungslos. Sie geht vom Homo oeconomicus aus als dem Menschen, der egoistisch allein auf seinen Nutzen und Gewinn achtet.
Aber stimmt denn dieses Menschenbild? Viele neuere Studien deuten darauf hin, dass es allenfalls eine Teilwahrheit ist. Die Gegenthese hat Uwe Jean Heuser treffend zusammengefasst.70 Unser Wirtschaftssystem schaffe dem Menschen auch den Raum, etwas für die Gemeinschaft zu tun. So engagierten sich in Deutschland mehr als 40 Prozent der Bürger ehrenamtlich – vom Sportverein bis zum Vogelschutz. Das Engagement für die Gesellschaft erstrecke sich dabei nicht nur auf die Freizeit, sagt Heuser. »Junge Bundesbürger mit Gründergeist haben die Zahl jener Sozialunternehmen, die mit wirtschaftlichen Mitteln gesellschaftliche Missstände beheben wollen, in einem Jahrzehnt von ein paar hundert auf mindestens 1700 emporschnellen lassen.« 71
Die Ökonomen arbeiten zwar mit dem Modell vom egoistischen Menschen, aber im wirklichen Leben werden die Handlungen der meisten Menschen sowohl von Selbstsucht als auch von Mitgefühl motiviert. Wir opfern uns nicht einfach für die anderen auf – aber wir opfern auch nicht die anderen aus reinem Eigennutz. Die amerikanische Literatur spricht in diesem Zusammenhang von aufgeklärtem Selbstinteresse (»enlightened self-interest«), im Gegensatz zum blanken Egoismus (»selfishness«).72
So einfach ist es also nicht mit dem Bild vom egoistischen Menschen. Zur menschlichen Natur gehören eben viele Facetten. Auch in der Wirtschaft. Menschen können Karriere um jeden Preis machen wollen, auch auf Kosten ihrer Kollegen, und sie können kooperativ handeln und hilfreich sein. Wie fair oder unfair wir im Arbeitsalltag agieren, ist dabei nicht nur eine Frage des Charakters, sondern hängt auch davon ab, ob wir selbst fair behandelt werden.
Mit den Einflussfaktoren, die zu Egoismus oder Fairness führen, beschäftigen sich auch Vertreter der Verhaltensökonomie. Einer von ihnen ist Ernst Fehr, Professor für experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Zürich. Er sagt: Soziale Haltungen bestehen nicht einfach, sondern sie werden gemacht – hergestellt von der Gesellschaft, in der wir leben. Und deshalb wünscht er sich eine »Ökonomie als Wissenschaft von der Charakterbildung«. Es gebe ein »gesellschaftliches, aber auch gesamtwirtschaftliches Interesse, dass Menschen keine antisozialen Präferenzen herausbilden«.73 Ein spannender Ansatz, denn daran kann man eine ganz neue Frage an die Ökonomen anschließen: Welche Art von Menschen produzieren wir denn mit der heute vorfindbaren Ökonomie?
Dennis Snower kommt aus einer gänzlich anderen Fachrichtung als Fehr: Er ist Professor für theoretische Volkswirtschaftslehre und war bis Anfang 2019 Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Aber er kommt zu ganz ähnlichen Erkenntnissen. Das Denken über Wirtschaft müsse radikal verändert werden. Bisher ging es der Ökonomie vor allem um den Einzelnen und dessen angeblich festgelegte Vorlieben und Zielsetzungen. Eine fatale Verkürzung, denn, so Snower, was Menschen antreibe und was sie wollten, entstehe erst im Miteinander – in der Wechselwirkung von im Wirtschaftsdenken verankerter Einstellung, Außenwelt und Politik. Die Menschen hätten sehr unterschiedliche Motive bei ihrem wirtschaftlichen Handeln. Sie wollten sich um andere kümmern, aber auch für sich etwas gewinnen. Je nach Person und Lage obsiege der Konkurrenzgedanke oder das Mitgefühl – power oder care.
Snower plädiert deshalb für den Ansatz der »Caring Economics«, den er gemeinsam mit Tania Singer und Matthieu Ricard entwickelt hat.74 Dinge und Dienstleistungen seien zwar wichtig fürs Leben, aber erst Beziehungen gäben den Dingen ihren Wert. Wenn wir Situationen schaffen, in denen Erfolg aus Kooperation und gegenseitiger Hilfe entsteht, könne dadurch der Egoismus in der Wirtschaft reduziert werden.
Früher kannten Ökonomen fast nur den Anreiz durch Geld. Wenn wir auch andere Werte wahrnehmen, eröffnen sich uns neue Perspektiven.
»Vor etwa zehn Jahren erforschten Ökonomen in israelischen Kindergärten die Motive von Eltern. Dort ernteten Mama und Papa nur bitterböse Blicke, wenn sie ihre Kinder verspätet abholten. Im Experiment wurde dann eine Strafzahlung eingeführt: Wer sein Kind zu spät abholte, musste ordentlich in die Tasche greifen.
Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass es nun zu deutlich weniger Verspätungen kommen würde, denn der Mensch geht nach dem Gelde. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Verspätungen nahmen deutlich zu. Und warum? Weil die Situation früher als soziale Abmachung wahrgenommen worden war, die Eltern schämten sich, wenn sie die Betreuer über die Maßen beanspruchten. Pünktliches Erscheinen war eine Sache des Anstands. Das änderte sich jetzt: Mit dem Geld kam die Möglichkeit ins Spiel, sich die längere Betreuung zu erkaufen. Die Scham wich dem Anspruchsdenken. Aus einer zwischenmenschlichen war eine finanzielle Frage geworden, aus Beziehung wurde Markt.« 75
Macht die Wirtschaftswissenschaft nicht eine unzulässige Einschränkung, wenn sie das egoistische Interesse des Individuums als ausschlaggebend für sein wirtschaftliches Handeln ansieht? Die Disziplin hält dagegen, sie analysiere eben nur das wirtschaftliche Interesse, so wie andere Wissenschaftsdisziplinen eben soziologische oder psychologische Aspekte des Individuums analysieren. Aber selbst wenn wir dieser Argumentation folgen, bleibt doch die Frage, ob die wirtschaftlichen Interessen nicht komplexer sind, als nur den Gewinn maximieren zu wollen: Menschen streben nach Anerkennung in ihrem sozialen Umfeld, wollen bewundert und gefeiert werden, wollen sich ein Denkmal setzen, wollen Vordenker sein, wollen Ideen verwirklichen – wir könnten diese Aufzählung noch um viele Aspekte ergänzen.
Gewinnmaximierung ist nicht nur eine grobe Vereinfachung des wirtschaftlichen Interesses, sondern eine Verkürzung, Unterschlagung von Motiven. Sobald wir ökonomisches Interesse breiter und realitätsnäher fassen, eröffnen sich uns ganz andere Spielräume, wie wir Ökonomie betreiben können, ohne ein ja durchaus vorhandenes egoistisches ökonomisches Interesse wegzudiskutieren und ohne gleich den edlen, selbstlosen Menschen fordern zu müssen. So wie nicht wenige Beispiele zeigen, dass ein Schuss...