2. Die Bogomilen – ein Exkurs
2.1. Ursprung und Verbreitung
Der Bogomilismus stellte die größte Sekte im mittelalterlichen Balkanraum dar und wurde zur Zeit des bulgarischen Zaren Peter (927-969)[10] vom (makedonischen?) Dorfpriester Bogomil (in etwa: „würdig des Mitleid Gottes“) begründet. Erst um 1100 sollte Konstantinopel die Häresie als große Bedrohung zur Kenntnis nehmen. „Ein Exkurs in die Geschichte dieser Ketzerei im Osten, die sich von Bulgarien aus auf das ganze Byzantinische Reich ausdehnte, wurde für nötig befunden, um die Ursprünge der westlichen Ketzerei des Katharertums, das direkt vom Bogomilismus abstammte, zu erklären.“[11] Es existierte ergo eine direkte Verbindung zwischen beiden Ketzereien, die „intensiv rezipiert, ja erlebt, und wie eine Wahrheit verinnerlicht [wurden]“[12]; doch was war als Anfang zu benennen?
Im Rahmen byzantinischer Bevölkerungspolitik wurden die Paulikianer um 870 von Kleinasien ins Randgebiet des Reiches (Thrakien) umgesiedelt, da man versuchte, hierdurch den dortigen wachsenden Einfluss religiöser sowie politischer Oppositionsbewegungen zu beenden. Diese Sekte, welche sich im Zweistromland des 7. Jhs. gründete, sollte sich schließlich für die Annahme eines radikalen Dualismus im Bogomilentum verantwortlich zeichnen, doch wird hierauf explizit an anderer Stelle näher eingegangen. Basis jener im Vorderen Orient verbreiteten Spiritualität war der vom persischen Adligen Mani 276 gepredigte Manichäismus, dessen Inhalte zunächst überliefert, dann ergänzt und schließlich abgewandelt generell in mediävistischen Häresien auftauchten. Jene Lehre „verschmolz die großen Mysterieninhalte Griechenlands, Ägyptens, Babylons, Persiens und Indiens miteinander im Läuterungsfeuer der Christusgeheimnisses.“[13] Dieses Mysterium stand im Zentrum angesprochener Synthese.
Auf dem Hintergrund eines von zunächst russischen dann byzantinischen Militärschlägen beinahe komplett entvölkertem Bulgarien, etablierte sich im frühmittelalterlichen Makedonien ein Teilreich, wo die Keimzelle des Bogomilismus verortet werden kann. Im Klima fortdauernder politischer sowie sozialer als auch religiöser Instabilität, gelang es der Häresie, schnell Fuß zu fassen, zumal eine große Kluft zwischen Hochklerus, niederer Geistlichkeit und einfachem Volk bestand. Außerdem wurde das Christentum erst um 850 angenommen, hatte ergo keine lange Tradition, weswegen noch nicht ein konkretes Bild der Orthodoxie existierte. Besagte Eliten weigerten sich beispielsweise, Slawisch zu sprechen, um hierdurch die Dorfpriester weiter/besser auszubilden. Da die Bogomilen ihre Botschaft als „wandernde[...] Eremiten, Pilger[...], Kaufleute[...], Handwerker[...]“[14] verbreiteten, konnten sie nicht zuletzt durch ihr „wirkliches“ apostolisches, also auch asketisches Leben die Menschen erreichen. Begünstigt wurde ihre Missionsarbeit außerdem durch eine weitreichende Klostergründungswelle im 10. Jh.: im Volk entwickelte sich breite Anerkennung gegenüber dem monastischen Leben, welche sich die Sektierer durch ihr offenkundig asketisches Dasein als z.B. Wanderprediger zu Nutze machen konnten, zumal viele orthodoxe Koinobiten durch ihr Verhalten öffentlich enttäuschten. Außerdem war das bogomilische Credo unter dem Eindruck einer feudalen Gesellschaftsordnung, wo eine „gebildete Aristokratie ein slawisches Kleinbauerntum beherrschte“[15], leicht verständlich und im eigenen Alltag nachvollziehbar – der in der Volkssprache gepredigte „soziale Anarchismus“ war fähig, viele zu begeistern. Des weiteren griff man gezielt auf alte heidnische (dualistische) Vorstellungen im Rahmen der volkstümlichen Religiosität zurück, die immer noch weit verbreitet waren. „Das slawische Bauerntum war nur oberflächlich von Bulgaren und Griechen überschichtet, man lebte unwissend und fromm im kleinsten Lebensbereich; fern war der Hochklerus und das, was sich noch als Staatsgewalt bezeichnen konnte. In diesem Rahmen müssen wir das Bogomilentum sehen, mit seinen Unterschwingungen von Haß und Verzweiflung in einem halb verwüsteten Land.“[16]
Im 11. Jh. griff die Häresie schließlich nach dem gesamten Byzantinischen Reich aus. Allerdings konzipierte die Regierung keine sonderlich wirkungsvollen Verfahren gegen die Ketzer, sondern hatte sich anfangs vielmehr mit deren Existenz in einem Teil des Landes abgefunden. Weiterhin förderlich war ein gewisses patriotisches Element, das den Zorn der einfachen Leute gegenüber einer pro-byzantinischen Kirche sowie ihrem Lehnsherren in für die Sekte „förderliche“ Bahnen lenkte und hierdurch in Bulgarien eine gewissermaßen natürliche Plattform schuf. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass der Glaube keine feste Form, sondern viele Abwandlungen kannte, jedoch zunächst eine gemeinsame Basis hatte, welche im folgenden Unterpunkt näher erläutert werden soll. Es existierten Lokalkirchen, die anfangs allesamt einem moderaten Dualismus anhingen. Außerdem entwickelte sich Sakramentspendung (z.B. Baptisma) und Organisationsstruktur erst später. Seinen Ursprung hatte besagtes gemäßigtes Prinzip wahrscheinlich im Messalianismus, welcher als „enthusiastisch-spiritualist.“[17] Sekte um 350 von Syrien und Mesopotamien nach dem süd-mittleren Kleinasien ausstrahlte, ehe seine Anhänger um 428 von Kaiser Theodosius II. (402-450)[18] aus dem Byzantinischen Reich vertrieben worden waren. Grundüberzeugung dieser Ketzer war es, dass das im Menschen innewohnende Böse durch ständiges Beten sowie strenge Askese ausgetrieben werden könne und man fortan im Zustand erreichter Vollkommenheit sich „ganz nach Belieben gehen lassen k[ö]nn[...]e[...] oder nicht ohne dass [...] [[jene geistigen Führer] dabei in irgendeiner Weise sündigten.“[19] Diesen Libertinismus jedoch lehnten die späteren Katharer ab, wie in 3.2. genauer nachzulesen ist. Spuren der Messalianer fanden sich bis ins 7. Jh. in Byzanz sowohl Persien als auch Ägypten.
Zu Beginn des 12. Jhs. expandierte die Lehre von Bulgarien aus bis nach Thrakien, ins westliche Kleinasien und Konstantinopel, wobei er auch Anhänger in oberen Bevölkerungsschichten fand, was einen Rückschluss sowohl auf eine soziale Mobilität als auch intellektuelle Wandlungsfähigkeit ermöglicht. Mittlerweile wurden fünf Bogomilenkirchen gegründet (Romania, Drughuntia, Melengia, Bulgaria und Dalmatia), welche sich aber hinsichtlich des propagierten dualistischen Verständnisses um 1150 trennten. Verantwortlich für dieses Schisma konnte der wohl in Thrakien erleichterte Kontakt mit dem bereits kurz angesprochenen Paulikianismus gemacht werden, der der Entwicklung einer radikalen Zweiheit Vorschub leistete. In besonderem Maße verehrten jene armenischen Häretiker den Apostel Paulus und gingen davon aus, dass der Dualismus „die Existenz und Gegnerschaft zweier Prinzipien zur Voraussetzung hat, so daß die Welt nicht allein das Werk eines guten Gottes ist, sondern ein Werk, das unter Mitwirkung einer Gott feindlichen Macht entstanden ist.“[20] Darüber hinaus waren kulturelle sowie sprachliche Unterschiede zwischen Slawen und Griechen von weiterer Relevanz. Als Zentren der extremen Interpretation galten Thrakien und Konstantinopel. Vor allem letzteres war für die Katharer von ausgewiesener Bedeutung, wie sich in 3.1. zeigen wird.
Angesichts etwaiger Verfolgungen konnten die Bogomilen ihren Glauben später nicht öffentlich praktizieren. Sie nahmen am „normalen“ Leben teil, zelebrierten die Heilige Messe und befolgten sonstige religiöse Rituale, wobei ihre quasigeistliche Oberschicht (Theotokoi) hinsichtlich der angestrebten/gelebten Weltflucht eine Ausnahme darstellte. Dies ist u.a. Gegenstand des kommenden Abschnittes. Letzten Endes wählte der Sektierer die „innere Emigration“, sofern er noch nicht zu besagter Elite gehörte. „So konnte die Lehre bis zum Ende des 14. Jahrhunderts unter den verschiedensten politischen Gegebenheiten eine Rolle spielen [, wurde sogar in „abgeschwächter Form“ der bosnischen Kirche um 1180 „Staatsreligion“]. Ihre letzten Spuren sind erst im 17. Jh., nach langer türkischer Herrschaft [seit 1463], verschwunden.“[21]
Wie gezeigt wurde, gab es eine Verbindung von Manichäismus, Messalianismus, Paulikianismus, Bogomilismus und schließlich Katharismus. Das Bogomilentum entwickelte sich zu einer eigenen Häresie mit speziellen regionalen Facetten, ehe es sich sowohl jeweils theologisch als auch strukturell verfestigt hatte und wahrscheinlich zur Zeit des Ersten Kreuzzuges (1095-1101) nach dem Westen als entsprechend okzidentales religiöses deviantes Verhalten ausgriff, von 1140-ca. 1170 eine beinahe gesamteuropäische Dimension erlangen sollte, welcher es seitens des Staates/der Amtskirche zu begegnen galt. Die Frage, auf welchen Wegen der schließlich „verwestlichte“ Bogomilismus als Katharertum in den Westen gelangte, wird u.a. in 3.1. näher behandelt. Von ausgewiesener Bedeutung war hierbei das aufblühende Stadtwesen, welches aber unterschiedlich stark die Gründung etwaiger Ketzergemeinden beeinflusste.
2.2. „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor...