ICH BIN ZU GAST HIER, ein Journalist, der über ein Sportereignis berichtet, von dem bisher kaum jemand gehört hat: die Weltmeisterschaft im Freitauchen. Ich sitze an einem kleinen Schreibtisch in einem Hotelzimmer am Meer mit Blick auf die Strandpromenade des griechischen Urlaubsorts Kalamata. Das Hotel ist alt, man sieht es an den feinen Rissen im Putz der Wände, am fadenscheinigen Teppich und den Schmutzschatten von Bildern, die einst in den halbdunklen Gängen hingen.
Hierher geschickt wurde ich von der Zeitschrift Outside, weil die AIDA Individual Depth World Championship 2011 ein Meilenstein für das Freitauchen ist – das größte Athletentreffen in der Geschichte dieses kaum bekannten Sports. Da ich mein ganzes Leben in der Nähe des Meeres zugebracht habe, schon immer einen großen Teil meiner Freizeit darin verbracht habe und oft darüber schreibe, fand der Herausgeber, dass der Auftrag wie gemacht für mich sei. Er wusste nicht, dass ich vom Freitauchen kaum eine Ahnung hatte. Ich hatte es nie selbst ausprobiert, kannte niemanden, der freitauchte, und hatte bei dieser Art des Tauchens noch nicht einmal zugesehen.
Meinen ersten Tag in Kalamata verbringe ich also damit, mich über die Wettbewerbsregeln und die Stars des Sports zu informieren. Was ich da sehe, beeindruckt mich überhaupt nicht. Ich klicke mich durch Fotos von Freitaucherinnen im Meerjungfrauen-Look, die mit dem Kopf nach unten im Wasser schweben und per Handzeichen signalisieren, dass alles in Ordnung ist, oder raffinierte Luftblasenringe am Grund eines Swimmingpools ins Wasser pusten. Offenbar wieder so ein seltsames Hobby wie Charleston-Tanzen, dem die Leute nachgehen, um auf Cocktailpartys damit anzugeben und in ihrem Facebook-Profil darauf zu verweisen.
Aber Auftrag ist Auftrag. Um halb sechs am nächsten Morgen überrede ich im Jachthafen von Kalamata einen etwas abgerissen wirkenden Kanadier, den es von Quebec nach Griechenland verschlagen hat, mich auf seinem 8-Meter-Segelboot mitzunehmen. Es ist das einzige Boot für Zuschauer, das da draußen, etwa 16 Kilometer vor Kalamata im tiefen offenen Meer, beim Wettbewerb zugelassen ist. Ich bin der einzige Journalist an Bord. Um acht Uhr erreichen wir eine Flottille aus Motorbooten, Plattformen und Ausrüstungsträgern, die den Teilnehmern als Basis dient. Die Taucher der ersten Gruppe nehmen nach ihrer Ankunft ihre Positionen neben drei gelben Seilen ein, die von einer Plattform ganz in der Nähe herabhängen. Ein Kampfrichter zählt von zehn herunter. Der Wettbewerb beginnt.
Was ich dann sehe, ist ebenso verblüffend wie erschreckend für mich.
Ich schaue zu, wie ein bleistiftdünner Neuseeländer namens William Trubridge tief Atem holt, seinen Körper spannt und mit nackten Füßen in das kristallklare Wasser eintaucht. Mit weiten Schwimmzügen kämpft er sich die ersten drei Meter hinunter. Dann, in etwa sechs Metern Tiefe, legt er die Arme wie ein Fallschirmspringer an den Körper und sinkt immer tiefer, bis er verschwindet. Ein Kampfrichter, der einen Sonarschirm an der Oberfläche beobachtet, verfolgt seinen Abstieg und sagt die Tiefen an: »Dreißig Meter … vierzig Meter … fünfzig Meter.«
Trubridge erreicht das Ende des 100-Meter-Seils, wendet und schwimmt wieder Richtung Oberfläche. Nach drei quälenden Minuten taucht seine winzige Gestalt im tiefen Wasser auf wie ein Scheinwerfer im Nebel. Er streckt den Kopf aus dem Meer, atmet aus, holt noch einmal tief Atem, zeigt einem Kampfrichter an, dass alles okay ist, und macht dann Platz für den nächsten Teilnehmer. Trubridge ist gerade dreißig Stockwerke tief hinuntergetaucht und wieder hochgekommen, alles mit nur einer Lunge voll Luft – ohne Taucherausrüstung, Luftschlauch, Schutzweste, sogar ohne Taucherflossen als Hilfsmittel.
In hundert Metern Tiefe ist der Druck mehr als zehnmal höher als auf der Erdoberfläche, stark genug, um eine Cola-Dose zu zerquetschen. Schon in zehn Metern Tiefe werden die Lungen auf die Hälfte ihrer normalen Größe zusammengedrückt; bei hundert Metern schrumpfen sie auf die Größe von zwei Tennisbällen. Und doch tauchen Trubridge und die meisten anderen Freitaucher, denen ich am ersten Tag zusehe, unversehrt wieder auf. Die Tauchgänge wirken auch nicht irgendwie erzwungen, sondern ganz natürlich, als ob die Taucher wirklich dort unten hingehörten. Als ob das bei uns allen so wäre.
Ich bin derart überwältigt von dem Anblick, dass ich es unbedingt sofort jemandem erzählen muss. Also rufe ich meine Mutter in Südkalifornien an. »Das ist unmöglich«, meint sie. Nach unserem Gespräch telefoniert sie mit ein paar Freunden, die seit vierzig Jahren mit Atemgerät tauchen, und ruft dann noch einmal bei mir an. »Da muss am Meeresgrund ein Sauerstofftank oder so etwas sein«, sagt sie. »Und ich würde dir raten, gründlich zu recherchieren, bevor du irgendwas darüber schreibst.«
Aber da war kein Sauerstofftank am Ende des Seils, und wenn einer dort gewesen wäre und Trubridge und die anderen Taucher tatsächlich vor dem Aufstieg dort eingeatmet hätten, wären ihre Lungen geplatzt, sobald die Luft aus dem Tank sich in geringeren Tiefen ausgedehnt hätte; und der Stickstoff in ihrem Blut hätte geschäumt, bevor sie die Oberfläche erreicht hätten. Sie wären gestorben. Der menschliche Körper kann den Druck eines schnellen 100-Meter-Tauchgangs nur aushalten, wenn er keine zusätzliche Luft zugeführt bekommt.
Manche Menschen kommen besser damit zurecht als andere.
In den nächsten vier Tagen beobachte ich verschiedene andere Teilnehmer, die versuchen, hundert Meter tief zu tauchen. Viele schaffen es nicht und kehren um. Sie tauchen mit Nasenbluten, bewusstlos oder mit Herzstillstand wieder auf. Der Wettbewerb geht einfach weiter. Nun, aus irgendeinem Grund ist dieser Sport nicht verboten.
Für die meisten in dieser Gruppe ist der Versuch, tiefer zu tauchen, als es alle – selbst Wissenschaftler – je für möglich hielten, das Risiko wert, gelähmt zu bleiben oder sogar zu sterben. Aber nicht für alle.
Ich lerne einige Teilnehmer kennen, die das Freitauchen mit einer vernünftigeren Einstellung angehen. Sie sind nicht an einer Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit interessiert. Ihnen ist egal, ob sie Rekorde brechen oder besser sind als ihre Rivalen. Sie tauchen ohne Sauerstoffgerät, weil sie auf diese Weise ganz unmittelbar und direkt mit dem Meer in Berührung kommen. In den drei Minuten unter der Oberfläche (so lange dauert es im Durchschnitt, um so tief zu tauchen) ähnelt der Körper in Form und Funktion nur vage seinem Zustand an Land. Das Meer verändert uns körperlich und psychisch.
In einer Welt, auf der sieben Milliarden Menschen leben, auf der jeder Quadratmeter Land vermessen, viele davon bebaut und zu viele zerstört sind, bleibt die Tiefsee die letzte ungesehene, unberührte und unentdeckte Wildnis, die letzte große Herausforderung unseres Planeten. Es gibt dort unten keine Handys, keine E-Mails, kein Twitter und Facebook, keine Autoschlüssel, die man verlieren kann, keine Terrordrohungen, keine vergessenen Geburtstage, keine Überziehungszinsen und keine Hundescheiße, in die man auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch treten könnte. Der ganze Stress und Lärm, die Ablenkungen des Lebens bleiben an der Oberfläche zurück. Die Tiefsee ist der letzte wahrhaft stille Ort auf Erden.
Diese Freitaucher, die den Sport eher philosophisch betrachten, bekommen glasige Augen, wenn sie von ihren Erfahrungen berichten; man sieht diesen Ausdruck auch bei buddhistischen Mönchen oder bei Patienten in der Notaufnahme, die an der Schwelle des Todes standen und Minuten später ins Leben zurückgeholt worden sind. Bei jenen eben, die es auf die andere Seite geschafft haben. Und das Beste daran ist, dass die Taucher immer wieder beteuern: »Diesen Sport kann wirklich jeder ausüben.«
Buchstäblich jeder, unabhängig von Gewicht, Größe, Geschlecht oder Ethnie. Die Athleten, die sich in Griechenland versammelt haben, sind bei Weitem nicht alle straffe, übermenschlich muskulöse Schwimmer vom Typ Ryan Lochte, wie man vielleicht erwarten würde. Es gibt ein paar beeindruckende Erscheinungen wie Trubridge, aber auch stämmige Amerikaner, winzige Russinnen, stiernackige Deutsche und zarte Venezolanerinnen.
Freitauchen widerspricht allem, was ich über das Überleben im Meer weiß; man kehrt der Meeresoberfläche den Rücken zu, schwimmt weg von der einzigen Luftzufuhr und strebt der Kälte, dem Schmerz und der Gefahr der Tiefe entgegen. Manchmal wird man ohnmächtig. Manchmal blutet man aus Nase und Mund. Manchmal schafft man es nicht lebend zurück. Abgesehen vom Basejumping – dem Fallschirmspringen von Gebäuden, Funkmasten, Brücken und Abhängen aus – ist Freitauchen die gefährlichste Abenteuersportart der Welt. Dutzende, vielleicht Hunderte Taucher tragen jedes Jahr Verletzungen davon oder sterben sogar. Man bekommt den Eindruck, dass es etwas mit Todessehnsucht zu tun haben muss.
Und doch musste ich auch nach meiner Heimkehr nach San Francisco immer wieder an meine Erlebnisse in Griechenland denken.
Ich fing an, ausführlich über das Frei- oder Apnoetauchen (Apnoe kommt von dem griechischen Wort ápnoia, »ohne Atmen«) zu recherchieren und darüber, was Sportler als die amphibischen Reflexe des menschlichen Körpers beschreiben. Und obwohl meine Mutter es nicht glauben wollte und die meisten Menschen zumindest daran zweifelten, fand ich schließlich heraus, dass dieses Phänomen wirklich existiert und sogar einen eigenen Namen hat. In der Wissenschaft wird es als Tauchreflex oder lyrischer als »Hauptschalter des Lebens« bezeichnet und seit etwa fünfzig Jahren...