Vorwort
Warum wir uns wandeln
»Panta rhei«. So soll es der griechische Philosoph Heraklit bereits vor knapp drei Jahrtausenden formuliert haben. Sein Credo: Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Die meisten von uns nicken diesen Satz vorbehaltlos ab. Zeigt doch die tägliche Erfahrung, wie sich alles verändert, und das gilt nicht nur für die Welt, sondern auch für den Menschen selbst. Aus Kindern werden Erwachsene, aus redegewandten Professoren demente Pflegefälle und aus liberalen Demokraten ultrakonservative Dogmatiker, die angepasste Ehefrau verwandelt sich in einen wollüstigen Vamp, der liebevolle Ehemann in einen brutalen Vergewaltiger, der Studienabbrecher wird zum Dotcom-Milliardär und das Mauerblümchen zum Showstar, der schließlich als Alkoholiker endet. Was den Lebenslauf eines Menschen angeht, gibt es nichts, was es nicht gibt. Das ist manchmal faszinierend, manchmal auch erschreckend, in jedem Falle aber spannend.
Dennoch neigt der Mensch dazu, sich und seine Artgenossen in bestimmten Situationen »einzufrieren«. Er spricht von geborenen Rednern, Künstlern und Forschern, aber auch von geborenen Verlierern und Verbrechern. Er glaubt nicht daran, dass aus dem abgebrühten Psychopathen jemals wieder ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden kann, und fordert, ihn für immer wegzusperren. Dem Locked-in- oder Wachkoma-Patienten, der nur noch komplett gelähmt und abhängig von lebenserhaltenden Maschinen im Bett liegt, wünscht er ein »humanes« Ende, dass man also die Maschinen abstellt und ihn endlich »von seinem Leiden erlöst«. Selbst aufmerksamkeitsgestörten, chronisch depressiven oder ängstlichen Menschen wird oft nicht mehr zugetraut, ihr Leben wieder »auf die Reihe zu kriegen«. Besser, so das auch von Medizinern und Therapeuten immer wieder zu hörende Argument, man setzt sie lebenslang unter Drogen, bevor sie sich von der Brücke stürzen oder sogar noch andere Menschen in den Strudel ihres dunklen Schicksals hineinziehen.
»Panta rhei« – das ist Philosophie. Es klingt zwar logisch und vernünftig, aber der Homo sapiens neigt doch recht häufig dazu, gerade das Gegenteil anzunehmen, und diese Neigung ist ausgerechnet dann besonders stark, wenn es um Psyche und Verhalten geht. Gerade in ihrem Kontext herrscht die fatalistische Annahme, dass manche Menschen sich einfach nicht ändern können, weshalb es für sie nur eine Lösung gibt: Man muss irgendwie verhindern, dass sie zur Last werden oder sogar sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Indem man sie kontrolliert, penibel isoliert oder sogar wegsperrt. Hauptsache, es ist Ruhe.
Friedrich Nietzsche sagte, dass Menschen mit ihrem begrifflichen Instrumentarium immer wieder daran scheitern müssten, das Werden auszudrücken. Weil man mit Worten, so sein Argument, zwar halbwegs erfassen könnte, was ist, aber eben nicht, was wird. Möglich, dass diese Unzulänglichkeit erklärt, warum immer wieder von unabänderlichen Wesenszügen und Charaktereigenschaften im Menschen gesprochen wird. Betrachtet man freilich die Bereiche, in denen dies überwiegend geschieht, könnte man genauso zu dem Schluss kommen, dass dahinter oft auch Ängste und Bequemlichkeiten stecken. Denn es ist letzten Endes einfacher, einen Psychopathen für immer wegzusperren, als ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren und dabei möglicherweise sogar seinen Rückfall zu riskieren. Und wenn ein Locked-in-Patient »abgeschaltet« wird, erspart dies seinen Angehörigen und Freunden ebenfalls viele Mühen und Frustrationen. Die Frau eines unserer Locked-in-Patienten musste erkennen, dass ihr röchelnd im Bett liegender und an die Decke starrender Gatte nichts mehr mit dem witzigen und energischen Mann von früher gemein hatte. Obwohl er bei uns gelernt hatte, per Brain-Machine-Interface (BMI bzw. Gehirn-Maschine-Schnittstelle, siehe Kapitel 2 bis 5) wieder mit seiner Umwelt zu kommunizieren. war das nicht die Normalität, die sie von ihm erwartet hatte. Sie sagte, dass sie unseren Versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten, niemals zugestimmt hätte, wenn ihr dies vorher klar gewesen wäre. Sie plagte sich mit dem Gedanken, ob man die lebenserhaltenden Maßnahmen jetzt noch einstellen könnte. Nicht weil sie ihren Mann, sondern weil sie sich selbst erlösen wollte.
Man kann darüber spekulieren, warum wir dazu neigen, je nach Bedarf eine Unveränderlichkeit von Gehirn und Verhalten zu unterstellen. Worum es mir aber geht: zu zeigen, wie falsch all diese Vorstellungen sind. Denn Thema dieses Buches ist die Neuroplastizität, die schier unbegrenzte Formbarkeit des Gehirns, also seine Veränderbarkeit und Beeinflussbarkeit, und zwar in jede erdenkliche Richtung. Dieses Buch erklärt, warum weder Locked-in-Patienten noch Depressive, Süchtige oder Angstgestörte, weder hyperaktive Zappelphilipps noch brutale Psychopathen auf ewig in ihrem Zustand eingefroren sind und sich jeglicher Einflussnahme entziehen. Es beschreibt, wie wir uns innerhalb kürzester Zeit in einen mitfühlenden »Charakter« verwandeln können, es zeigt aber auch, dass und wie wir genauso schnell vom liebevollen Familienvater zum unvorstellbar grausamen Massenmörder und von diesem wieder zum biederen Bürger werden können. Auswüchse wie der Nationalsozialismus, aber auch seine anschließenden Bagatellisierungen werden immer wieder gerne als »Ausnahmen« der Weltgeschichte zurechtinterpretiert, dabei sind sie nichts anderes als »ganz normale« Produkte der enormen Plastizität unseres Gehirns. Der Mensch wurde mit fast unbegrenzter Lernbereitschaft beschenkt, aber auch geschlagen, sie ist Segen und Verhängnis zugleich.
Ob der Einblick in die mit dem Lernen verbundenen Hirnvorgänge diese tatsächlich besser kontrollierbar macht, wissen wir nicht. Aber ohne diese Hoffnung wäre das vorliegende Buch nicht geschrieben worden. Und ohne diese Hoffnung wären viele der hier geschilderten Versuche nie durchgeführt worden. Die meisten Untersuchungen, von denen in diesem Buch berichtet wird, stammen aus unserer wissenschaftlichen »Werkstatt«, denn nur diese kennen wir aus eigener Anschauung, aus Miterleben und Mitlernen.
Betrachten wir den Ablauf der Geschichte, hat die Zunahme des Wissens um die Entstehung menschlichen Verhaltens seit Renaissance und Aufklärung nicht viel zur Selbstkontrolle und Humanisierung beigetragen. Trotzdem zeigten diverse Experimente, dass »Lernen am Modell«, also erfolgreiches Nachahmen des Verhaltens anderer Menschen, einen der wirksamsten Lernprozesse steuert und dass das Lernen am Modell im Großhirn fest in dafür spezialisierten Nervenzellen – die in jüngerer Zeit unter dem eher schwammigen Begriff »Spiegelneuronen« bekannt wurden – verankert ist. Dieser Mechanismus hat nur einen Haken: Unser Hirn ahmt »hirnlos« alles nach, was Erfolg und Effekt verspricht. Deshalb müssen wir uns anstrengen, unseren Lebenskontext, unsere sozialen Lebensbedingungen demokratisch zu halten, damit das plastische Gehirn uns nicht wie so oft zu Denunziation, Mord und Totschlag verführt. Denn wenn – wie in undemokratischen, diktatorischen Strukturen üblich – diese Verhaltensweisen belohnt werden, richtet sich das Gehirn primär danach. Doch wie kann man umgekehrt Werte wie Respekt, Empathie und Toleranz etablieren? Lernpsychologische Untersuchungen konnten zeigen, dass dies umso besser gelingt, wenn wir um das Ziel und den Zweck des Verhaltens wissen, das erlernt werden soll. Damit ist kein ideologischer oder moralischer Überbau gemeint, um den sich nicht nur Demokratien, sondern auch Diktaturen bemühen. Sondern das bewusste Erinnern, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten erbrachte. Wenn wir erfahren haben, dass wir mit Mitgefühl und Respekt einen positiven Effekt erzielen – und diese Wahrscheinlichkeit besteht in einer Demokratie eher als in einer Diktatur –, werden sich diese Verhaltensweisen bei uns stabilisieren und wiederholt auftreten.
Die einzelnen Abschnitte dieses Buches, das sich den Hirnvorgängen beim Erlernen, aber auch beim Verlust von Selbstkontrolle widmet, zeigen, auf welche Personen und auf welche Situationen wir dabei besonders achten sollten. Jedes Kapitel behandelt eines der Themen und Probleme menschlichen Verhaltens, die ich im Laufe der letzten Jahrzehnte mit meinen Mitarbeitern bearbeitet habe. Wir beginnen in Kapitel 1 und 2 mit der Selbstregulation des Gehirns am Beispiel der Schizophrenie sowie den Auswirkungen der Neuroplastizität auf Verhalten, Denken und Fühlen und erörtern anschließend, was dann vom sogenannten Charakter übrigbleibt, ob wir ihn überhaupt noch als etwas anderes als eine mehr oder weniger zufällige Konstellation von Gewohnheiten betrachten können. In den folgenden Kapiteln 3 und 4 geht es darum, wie man mit völlig eingeschlossenen, gelähmten Patienten kommunizieren kann, indem man sie lernen lässt, wie sie ihr Gehirn mittels moderner bildgebender Verfahren zum Sprechen bringen – und wie sich bei dieser Interaktion immer wieder herausstellt, dass diese todgeweihten Menschen durchaus noch sehr viel Lebensqualität empfinden können. Es mündet nicht nur in einem Plädoyer gegen die immer lauter und voreiliger werdenden Forderungen nach »Abschalten« und Sterbehilfe, sondern auch in einer Warnung vor den weithin grassierenden Patientenverfügungen.
Kapitel 5 beleuchtet die Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstreparatur, beispielsweise bei Epilepsie oder nach einem Schlaganfall. Der Schauspieler Peer Augustinski etwa war nach einem Schlaganfall halbseitig fast komplett gelähmt – heute steht er wieder auf der Bühne.
Das anschließende Kapitel 6...