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Kein Bier vor vier

Meine 100-tägige Kneipentour durch die Republik

AutorBernd Imgrund
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783462308518
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Klügere kippt nach Der eine geht auf den Pilgerpfad, der andere auf Kneipentour. Autor Bernd Imgrund hat es mehr mit Bier und Frikadellen als mit Wasser und Brot. »Und gute Geschichten lassen sich auf beiden Wegen sammeln«, sagte er sich, packte seine Tasche und machte sich auf zu einem 100-tägigen Sabbatical durch deutsche Kaschemmen.Die Milieus, in die er unterwegs eintaucht, werden in der Literatur selten ausgeleuchtet. Es sind die schrägen Welten der Eckensteher und Quartalstrinker, der einsamen Frauen und redseligen Schnapsdrosseln, der Nörgler, Misanthropen, Aufschneider, Großmäuler, Prasser, Schnorrer und sympathischen Clowns an den Rändern unserer Gesellschaft. Der Tresen ist der mythische Ort, an dem sie zusammenkommen und ihre Geschichten erzählen: hirnrissige und herzzerreißende, derbe und dramatische, trostlose und tragikomische. Mittendrin der Autor, der von seinem Barhocker aus die Fäden weiterspinnt: in die Ur- und Abgründe der Gastronomiehistorie genauso wie in die (Kultur-)Geschichte des jeweiligen Ortes.Im Dienste seiner Notizen folgt er einer eisernen Regel: Kein Bier vor vier.Eisern?Nun ja.

Bernd Imgrund wurde 1964 in Köln geboren und mit Kölsch getauft. Er war Messdiener, totaler Kriegsdienstverweigerer und Redakteur eines alternativen Stadtmagazins. Seine mittlerweile über 20 Romane und Sachbücher beschäftigen sich u.a. mit Tischtennis, Skat und Motorrädern. Mit seiner Frau und den beiden Kindern lebt Imgrund in Köln, wo er auch gern mal ein Bier trinken geht.

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Leseprobe

Gefoppt, gemobbt und verkloppt


Cuxhaven

»Wer in Duhnen Urlaub macht und nicht bei Aale gewesen ist, der hat keinen richtigen Urlaub gehabt. Ist ein Superpublikum dort, man kann lachen, bis der Arzt kommt«, schreibt ein »C.H.« euphorisch. »Jochen und Barbara aus Hagen« pflichten bei: »Aale Peter, ein Original, das viele Witzchen und Geschichten auf Lager hat. Jedes Jahr kommen zwei, drei neue hinzu.«

Der Nachsatz könnte zu denken geben, und dementsprechend fallen auch die kritischen Internetkommentare zu dieser Cuxhavener Kneipe aus. »Ich wusste nicht, wie mir geschah, als er plötzlich die Ballermann-Musik ausmachte und meinte, einen Witz zum Besten zu geben«, beschwert sich »Rattendoll« aus Hamm. »Richtig peinlich« sei ihm das gewesen, weil »er nur alte Kamellen von sich gab und dabei von sich so überzeugt war, als wäre er Fips Asmussen selbst«.

Mein Gefühl sagt mir, dass der Aale Peter und ich von verschiedenen Planeten kommen. Aber auch, dass ich dort unbedingt hinmuss.

 

Mein Zimmer in Cuxhaven habe ich blind im Netz gebucht. Zentrumsnah, billig, frei – nehme ich. Vor Ort packt mich ein gewisser Bammel, dieses Haus folgt einer ganz alten Schule. Die Stimme in der Gegensprechanlage fragt mich aus wie ein nordvietnamesischer Grenzbeamter. Eine falsche Antwort, und du bist tot, Bürschchen. Zu weiteren Verhandlungen werde ich in den zweiten Stock beordert, wo mich Frau Pohl mit einer Verächtlichkeit mustert, die nur 80-jährige Frauen zustande bringen. Sie ist schlecht auf den Beinen, die gleichwohl viele, viele Kilos tragen müssen. Ihr Gesicht unter der fadenscheinigen Dauerwelle hat wegen des ewigen Ärgers mit der Kundschaft quaddelige Zornpocken angesetzt.

Ein Sommerfrischler mit Pepitakäppi von anno 1973 wäre meiner Wirtin sichtlich lieber gewesen. Auch mein Zimmer hat den Charme von Frau Pohls frühen Jahren. Angeknabbertes Eichenfurnier an Bett, Nachttisch und Kleiderschrank, darunter ein flauschiger Teppich irgendwo auf dem Weg von Dunkelrot zu Graubraun, dessen krause Kunsthärchen so dicht gewebt sind, dass kein Staubsauger der Welt die bruchgelandeten Hornfortsätze meiner Vorgänger daraus entfernen könnte. Weil man sich hier kaum drehen kann, ohne Schürfwunden und Prellungen zu riskieren, versuche ich ein wenig Platz zu schaffen. Aber als ich die Vase auf den Schrank stelle, zerfällt das Strohblumenarrangement in 1000 Stücke und regnet mir wie irrlichternde Motten auf den Kopf.

Spektakulär gebrochen wird das Retroensemble der Pohls durch den vollautomatischen Rollladen, den ich über einen Kippschalter am Kopfende meines Bettes bedienen kann. Als Frau Pohl mir diesen stupenden Mechanismus erklärt (»Wenn Sie links drücken, geht der Rollladen runter. Wenn Sie rechts drücken, hoch«), hellt sich ihre Miene für einen Augenblick auf. Diese Gelegenheit nutze ich, um sie auf das ausgewiesene WLAN anzusprechen.

»5,95 pro Tag«, nennt sie mir ihren Preis, der in etwa einer Jahresflatrate entspricht. Frau Pohl scheint das zu wissen, blickt mir aber nur umso angriffslustiger in die Augen. »5000 Euro hat uns der Anschluss damals gekostet. Denken Sie, das bezahlen wir selber?«

Einen Moment lang bewundere ich jenen Handwerker, dem es gelungen ist, dieser beinharten Greisin so viel Geld für ein paar Meter Kabel aus dem Kreuz zu leiern. Aber gleichzeitig verfluche ich ihn auch für seine Dreistigkeit, die mir nun schadet. Mit Frau Pohl einige ich mich vorerst auf ein Unentschieden. Im Einzelnen: Ich bekomme kein Internet, sie keine Jahresflat.

 

Der Aale Peter residiert in Duhnen, einem Cuxhavener Ferienvorort. Bevor ich mich auf die gut einstündige Wanderung mache, will ich zunächst einmal mein näheres Umfeld erkunden. Es scheint vor allem aus Altersheimen zu bestehen.

Ein Mütterchen, noch wackliger als Frau Pohl, schiebt seinen Rollator so schwächlich, dass er über die ganze Breite des Bürgersteigs eiert. Jede aus den Fugen geratene Gehwegplatte kostet sie mehrere Anläufe. Jede abschüssige Ausfahrt droht sie über den Bordstein und unter die nächsten Räder zu jagen. Aus ihrem Altenheim auf der anderen Straßenseite stakselt eine weitere Frau, quer über die Fahrbahn und ohne auf den Verkehr zu achten. Ihre osteuropäische Verfolgerin ist völlig aus dem Häuschen. »Frau Klinkhammer, wo wollen Sie denn hin? Ist doch Abendbrotszeit.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagt Frau Klinkhammer mit malmenden Kiefern.

Aber die Krankenpflegerin kennt ihre Klientel. »Ja, aber Sie haben doch gar keine Jacke an.«

»Huch«, macht Frau Klinkhammer. Und kehrt nun bereitwillig um.

Weil ich ohnehin kein klares Ziel habe, begleite ich die ausgebüxte Oma auf die andere Straßenseite. Vor dem Eingang zum Pflegeheim steht zur Abwechslung mal ein Mann, der seinem zerknitterten Gesicht zufolge gerade aus der Mittagsruhe kommt.

»Haben Sie gut geschlafen, Herr Klaßen?«, fragt Frau Klinkhammer formvollendet.

»Weiß ich nicht«, antwortet Herr Klaßen.

In der zentralen Flanierzone, dem Lotsenviertel, werden die Straßen von bescheidenen Häuschen gesäumt, die alle einen kleinen, hanseatisch-protestantischen Abstand zueinander wahren. Im überdachten Einkaufszentrum hat ein Billigbäcker Mobiliar zum Verspeisen der belegten Brötchen und Pizzastücke aufgestellt. Am gekennzeichneten »Stammtisch« sitzen drei Frauen in Strandkörben. Während sie sich zurückgelehnt unterhalten, sieht man nur ihre Pappbecher wippen, im müden Takt des Parkinson-Boogie. Die Rollatoren haben sie so zwischen sich und ein paar Blumenkübel postiert, dass nur ein schmaler, leicht zu bewachender Durchlass zu ihnen führt. Aber gut, ich will mich da ja nicht einmischen. Eigentlich brauche ich eher ein Bier als einen Filterkaffee.

 

Duhnen wacht nur in den Sommerferien richtig auf. Das Meer und gutes Wetter bilden das Fundament beinahe jedes Hauses hier. Von den Dutzenden Pensionen, Hotels und Restaurants, den kleinen Geschäften für Mode, Kosmetik und Geschenknippes ist jetzt im Mai nur ein Bruchteil geöffnet. Als ich einen riesigen Einheimischen nach der Kneipe Zum Aale Peter frage, zeigt er auf eine besonders hässliche, von einem leuchtturmhohen Wohnhaus zerdrückte Einkaufspassage. »Siehst du das Schild da?«

Ich sehe es. Darauf steht: »Sitzplätze: 350. Jedenfalls nach und nach.« Und mir schwant allmählich, was jene Internetuser gemeint haben könnten, die den Humor des Wirtes eher grenzwertig fanden.

»Da«, fährt mein Wegweiser fort, »geht’s zum Aale Peter.« Dann lacht er, als habe er über den Schilderwitz gerade zum ersten Mal nachgedacht. Eine krachende Rechte landet auf meiner Schulter und zwingt mich kurz in die Knie. »Grüß ihn von Hauke.«

Der Aale Peter ist einer dieser Jungs, die sich beim Eintritt in eine Kneipe sofort im Takt der Musik wiegen und jeden Bekannten mit einem angedeuteten Boxhieb begrüßen, bevor sie seinen Nacken in beide Hände nehmen und ihn an sich ziehen. Sein Gesicht sieht aus, als hätte man es fürs Ohnsorg-Theater geschnitzt. Haare aus Draht, klaftertiefe Furchen rings um den Schnauz und eine Nase wie ein Amboss. Dazu eine mit 40er-Sandpapier geschmirgelte Stimme, gegen die Ivan Rebroff wie ein Chorknabe klingt.

Als hätte man mein Kommen angekündigt, dreht der Peter direkt einmal seine Anlage aus und lässt einen Witz vom Stapel.

Den mit der Frau, die zum Arzt kommt. Sie wissen schon.

»Hab ich heute Nachmittag schon mal erzählt«, sagt er. »Aber schad’ ja nix.«

Meine Uhr zeigt gerade einmal kurz nach sieben. Dennoch bekommt man im Aale Peter keine Sardelle mehr unter. (Apropos Sardellen. Dazu später mehr.) Vor allem der rundlaufende Tresen wird belagert wie einst das Köln der heiligen Ursula von den Hunnen. Nur tobt hier keine Schlacht, sondern es wird hemmungslos gelacht. Nach jedem von Peters Witzen bricht die Meute kollektiv zusammen. Hier schlägt sich einer die Hände vors Gesicht, da knallt eine Stirn aufs Thekenbrett, dort nässt sich jemand ein. Ich unterdrücke den Impuls, einen Schwindelanfall vorzutäuschen und mich rückwärts wieder hinauszustehlen. Stattdessen bestelle ich mir erst mal ein Bier und klammere mich daran wie ein Affenkind ans Fell seiner Mutter.

Joachim Ringelnatz, der in Cuxhaven seine Marinezeit während des Ersten Weltkriegs verbrachte, hatte sich in der Kaserne ein Terrarium eingerichtet. Mittels Einmachgläsern, Netzen und Fallgruben schuf er sich ein eigenes Reich, eine Welt aus Kupferottern, Ringelnattern, Fröschen, Molchen, Eidechsen, Heuschrecken, Grashüpfern, Mistkäfern, Sandböcken, Regenwürmern, Maden und Raupen. Er sammelte faules Holz und Kuhfladen, legte Wasserlöcher und unterirdische Gänge an. Und immer wenn der über die Maßen eintönige Dienst ihm Zeit ließ, sah er zu, wie die Tiere spielten, jagten und dösten, wie sie sich bekämpften, töteten, auffraßen. Wie sie verwesten.

»Oh, wie war ich dann glücklich«, schrieb der kriegsmüde Minensucher. Damals hieß er noch Hans Bötticher. Bald darauf jedoch legte er sich den Künstlernamen Ringelnatz zu.

Folgt man seiner Beschreibung der Terrariumwelt, so spielte darin wohl die Kröte Willibald die Hauptrolle. Die wohnte normalerweise in einem von einer Suppenschüssel am Versickern gehinderten Tümpel. Wenn jedoch eine der Schlangen zur Wasserstelle kam, musste Willibald weichen. Zahllose Male, so Ringelnatz, habe eines der Reptilien versucht, den Kröterich zu fressen. Willibald jedoch wusste, dass er wegen seiner schieren Leibesfülle nichts zu befürchten hatte. Welch ein vollendeter Stoizismus: sich in Ruhe attackieren zu lassen in dem Wissen, so viel gefressen zu haben,...

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