Alles kommt vom Herzen her
Die Funktionsweise des gesunden Herzens
Das Herz ist die leibliche und die psychische, auch die mythische Mitte unseres Lebens, der Motor des Daseins, das gefühlte Zentrum des Ichs, der Seele und der Leidenschaft. Herz und Gefühl, Liebe, Freude und Schmerz gehören für uns zusammen. Über alle Grenzen hinweg besteht hier ein seltener Gleichklang der Kulturen seit Anbeginn. Seit jeher hat das Herz die Phantasie der Menschen beschäftigt, galt es ihnen als Symbol des Lebens und der Stärke. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien finden wir symbolische Andeutungen des Herzens, zum Beispiel im spanischen Altamira auf der Höhlenzeichnung eines Stieres oder auf den Fresken von El Pindal.
Schon in der Frühgeschichte und bei den Naturvölkern rankten sich Mythen und magische Rituale um das Herz, gab es erste Worte für das treibende Organ des Lebens. Die Indianer aus dem Mato Grosso in Brasilien sollen sogar über zwei verschiedene Worte für das Herz verfügt haben, über eines für das eigene und ein zweites für das Herz der anderen. Menschliche Beziehungen wurden als Herzensangelegenheit begriffen. Bei Freunden konnte man von der Kraft des Herzens profitieren, bei Feinden musste man sie fürchten und besiegen. Deshalb zelebrierten Naturvölker wie die Sioux-Indianer oder die Aschanti in Westafrika rituelle »Herzmahlzeiten«. Um die eigene Kraft, die körperliche und die geistige, zu verdoppeln, wurden die Herzen der Gegner verzehrt. Künstlerisch sublimiert, ohne den kannibalischen Vollzug, lässt sich dieser mythische Gehalt noch in der christlich-abendländischen Kultur finden. Siegfried etwa, auch der strahlende Held des »Nibelungenlieds«, kann die Sprache der Vögel erst verstehen, nachdem er das Herz des Drachen Fafnir verschlungen hat, wie man in der nordischen »Edda« lesen kann.
Das angeblich erste Herzmotiv der Weltgeschichte in den Höhlen von El Pindal in Spanien. Angeblich deshalb, weil es inzwischen Anlass zu der Vermutung gibt, dass ein begeisterter Forscher die Konturen im vorigen Jahrhundert mit roter Farbe nachgezeichnet, wenn nicht gar selbst eingefügt hat.
Wer das Herz hat, dem gehört das Leben; und was er tut, das liegt ihm nachher auch »auf dem Herzen«, wie wir heute noch sagen. Philosophisch begründet wurde die Vorstellung schon von den alten Ägyptern. Für sie war das Organ nicht nur ein Muskel, sondern das Zentrum der Gefühle, der Vernunft sowie der Schuld, die man womöglich auf sich geladen hatte. Als herzlos galt, wer nichts von Wahrheit und Gerechtigkeit wissen wollte. Bei der Mumifizierung wurde das Herz, anders als die übrigen inneren Organe, dem Toten mit auf die Reise ins Jenseits gegeben. Vor dem Eintritt in die Ewigkeit sollte es von dem Totenrichter Osiris gewogen werden. War es zu schwer mit Schuld beladen, drohten Strafen in der Unterwelt: ein Mythos, den nachfolgende Kulturen auf vielfältige Weise adaptierten. Noch in der mittelalterlichen christlichen Volksreligion wurde der Brauch des »Seelenwiegens« gepflegt. Auch in den uralten Veden, den religiösen Dichtungen der Inder, ebenso wie in Homers »Ilias« oder den Glaubensvorstellungen verschiedener Kulturen, im Judentum, im Islam, im Buddhismus, in den unterschiedlichsten Denkmodellen und Welterklärungsversuchen wird unser Bewusstsein, das menschliche Selbstverständnis, mit dem Herzen verbunden. Deshalb auch ließen seit dem frühen Mittelalter Aristokraten über viele Jahrhunderte ihren Körper und das Herz getrennt bestatten. In Deutschland geschah das zum letzten Mal 1954 nach dem Tod der bayerischen Kronprinzessin Antonie von Luxemburg, deren Herz in Altötting begraben liegt. Geradezu nationalmythische Bedeutung erlangte im 19. Jahrhundert die Heimholung des Herzens von Frédéric Chopin (1818–1849): Während sein Körper auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris begraben ist, ruht sein Herz in der Warschauer Heiligkreuzkirche.
Die Gehirne berühmter Menschen werden nach ihrem Tod bisweilen präpariert, um sie für die Forschung aufzubewahren. Mit dem Herzen dagegen pflegt die Nachwelt einen eher rituellen Umgang. Denn, so sagt Arthur Schopenhauer (1788–1860): »Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf.« Das »primum mobile« des Organismus, wie es Schopenhauer nennt, ist zur Metapher des Menschseins schlechthin geworden. Aus ihm beziehen wir die menschliche Orientierung, lange bevor der Kopf, die Ratio, unser Handeln und Verhalten zu bestimmen vermag. »Selbst in dem Leibe des Menschen/Gilt das Herz vor der Hand; die belebende Kraft ist im Herzen«, heißt es in den »Metamorphosen« des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.). Anders gesagt: Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Herz, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Oft unterscheiden die Philosophen daher die Logik des Herzens vom scharfen Verstand. Selbst der Aufklärer Immanuel Kant (1724–1804), Präzeptor der kritischen Vernunft, schrieb, dass »das Herz dem Verstande die Vorschrift« gibt.
Hippokrates (um 460-370 v. Chr.), dem wir als Ärzte bis heute durch unseren Eid verpflichtet sind, hatte um 400 v. Chr. das Gehirn als das Organ des Verstandes ausgemacht, nachdem es zuvor als bloßes Füllwerk, als eine müllartige Absonderung anderer Organe angesehen worden war, doch war damit der Ort der Seele noch nicht bestimmt – nicht unter den Ärzten. Dieses Problem bedurfte philosophischer Lösung, etwa durch Platon (427–348/47 v. Chr.), der einen Kompromiss fand, indem er die niederen seelischen Eigenschaften in Bauch und Unterleib, die Vernunft und unsterbliche Seele im Kopf, den Mut und die Gefühlswelt aber im Herzen verortete. Diese Drei-Seelen-Lehre wurde erst durch seinen Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) modifiziert. Der griechische Rationalist machte das Herz zum existentiellen Mittelpunkt des Menschen, wo wir bis heute den Sitz der Seele vermuten.
Die Überzeugung von der gestaltenden Kraft des Herzens gehört sozusagen zu den weltanschaulichen Prämissen der Menschheit. Jede Epoche, jede Kultur hat dieser aus der Erfahrung erwachsenen Erkenntnis auf ihre Weise Ausdruck verliehen. Weiter noch als die Ägypter, für die das Herz der Knoten war, der das Jenseits, das Göttliche und die Menschen verbindet, dachten die Inder, wenn sie glaubten, das Herz sei ein unendlicher Raum, in dem »der Herr des Weltalls« wohne und die Seele die Welt schaffen würde. Das Gleiche drückte auch Augustinus (354–430) in einem ganz anderen Kulturkreis aus, als er davon sprach, dass »die Liebe und das Licht Gottes in unsere Herzen« gegossen sei. In einem Gemälde von Stefan Lochner hält der Kirchenvater symbolisch »das Herz der Liebe« in der Hand.
Stefan Lochner (1400–1451), Die Heiligen Ambrosius, Cäcilia und Augustinus: Das Herz des Augustinus wird vom Liebespfeil Gottes durchbohrt.
Da wie dort, bei den Denkern des Altertums wie bei denen der jüngeren Geistesgeschichte, wurde und wird dem Herzen die höhere Vernunft, die Offenbarung des Menschlichen, die eigentliche, die »Herzensbildung« zugeschrieben. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), ein Zeitgenosse Kants, ging bei seinen Überlegungen davon aus, dass das fühlende Herz, insbesondere die Liebe und Leidenschaft, der »theoretischen Vernunft« überlegen sei. Das Prinzip sittlicher Orientierung sei nicht durch Morallehren erkennbar, sondern angeboren. Gott verlangt das Diktat des Herzens. Ganz ähnlich Voltaire (1694–1778), der seinem Leser zurief: »Bedenke, dass die ewige Weisheit des Allerhöchsten mit eigener Hand deinem innersten Herzen die natürliche Religion eingeprägt hat.«
Wesentliche Impulse unseres Handelns kommen nach den Vorstellungen vieler Kulturen aus dem zentralen Organ des Le bens, aus dem denkenden sowie aus dem fühlenden Herzen. Diese Einheit ist existenzbestimmend vom Anfang bis zum Ende, individuell und in unserem Verhältnis zueinander. Das Herz als Organ hat eine Bedeutung, die weit über das naturwissenschaftlich Fassbare hinausgeht. Reagierte es doch ständig und bisweilen durchaus bedrohlich auf emotionale Reize. Dass da nicht nur symbolische Verbindungen bestehen, haben Ärzte und Psychologen wie Sigmund Freud (1856–1934) oder C. G. Jung (1875–1971) Anfang des vorigen Jahrhunderts herausgefunden. Nicht zuletzt mit den Mitteln der Psychoanalyse konnten sie nachweisen, dass Gefühle und Gedanken oder gar traumatische Ereignisse, selbst wenn sie aus der Kindheit herrühren, sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste beeinflussen und seelische sowie körperliche Reaktionen auslösen – negative, die der Behandlung bedürfen, aber auch positive, die wir uns viel zu selten bewusst machen.
Wenn wir ein anderes Herz direkt schlagen hören, regelmäßig und unbeirrbar, wenn wir es gar Haut an Haut spüren können, beruhigt uns das ungemein und schafft sofort ein Gefühl der Nähe und Geborgenheit. Als Fötus lagen wir unter dem Herzen der Mutter, geschützt und in Sicherheit; nach der Geburt lagen wir ihr am Herzen. Die emotionale Erinnerung dar – an begleitet uns ein Leben lang. Und immer dann, wenn wir jemandem so nahe kommen – körperlich oder seelisch –, dass wir seinen Herzschlag...