2. Der «felt sense»
Bevor wir uns damit beschäftigen, wie Focusing in der Praxis aussehen kann, will ich das Kernstück des Focusing, den «felt sense», vorstellen. Vielleicht wirst du nicht gleich alles verstehen, auch wenn ich mich bemühen werde, den «felt sense» von den verschiedensten Seiten zu beleuchten. Vielleicht empfindest du dieses Kapitel als besonders schwierig und theoretisch. Dann sei auf jeden Fall beruhigt, denn später wird es sehr viel konkreter und praktischer. Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, dieses Kapitel ganz zum Schluß des Buches noch einmal zu lesen.
Die zentrale Erkenntnis, die hinter dem Focusing steht, ist folgende:
Damit sich unser inneres Erleben bewegt und
verändert, müssen wir mit einer Erlebnisqualität
Kontakt aufnehmen, die noch hinter den Worten,
Bildern, Körperempfindungen und Emotionen liegt.
Diese Erlebnisqualität nennt Gendlin den «felt sense». Übersetzt heißt das «die gefühlte Bedeutung» oder «der gespürte Sinn», und praktisch bedeutet das ein vages, noch undeutliches Gefühl zu einer Sache, einem Problem, einem Menschen oder einer Situation, das wir auf schemenhafte Art in unserem ganzen Rumpfraum spüren können. Ich lasse hier den englischen Begriff «felt sense» als Kunstwort stehen, und wir werden aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln auf dieses «Etwas» schauen und es mit den verschiedensten Begriffen beschreiben. Andere Worte für dieses vage innere Gespür im Bauch- und Brustraum wären: «körperliche Resonanz» und «innere Aura». Es geht also um die Frage: «Wie fühlt sich das eigentlich an in meinem Körper, wenn ich über dies und jenes nachdenke?» oder: «Wie schwingt mein Körper mit, wenn ich mir dieses vorstelle?»
Diese körperliche Resonanz zu einem Problem, einer vorgestellten Person oder Situation, ist also ein noch vages und undeutliches Gefühl in meinem Körper, was per definitionem noch keine Worte, Bilder, Emotionen, Körperempfindungen oder andere fest umrissene und geformte Erlebniseinheiten in sich hat. Der «felt sense» ist noch etwas Ungeformtes – also etwas Vages, Undeutliches und Nebelhaftes. Und dennoch können wir uns auf ihn direkt beziehen – bei der praktischen Ausübung von Focusing.
Wenn wir in unser Innenleben hineinschauen, dann werden wir Gedanken, Bilder, Emotionen oder Körperempfindungen wahrnehmen. Meist haben wir eine Vorliebe für eine oder mehrere dieser Erlebnisebenen. Der eine denkt mehr in Worten und Begriffen, der andere hält sich besonders gern auf der Ebene der Imagination auf, und wieder ein anderer hat sich für seine Körperempfindungen sensibilisiert und nimmt seine Welt besonders durch seinen Körper wahr.
In verschiedenen Therapieschulen werden diese Erlebnisebenen in verschiedenem Maße genutzt. Meist wird auf der verbalen Ebene gearbeitet – wie in der Psychoanalyse oder den verschiedenen Gesprächstherapien. Im katathymen Bilderleben, in der Psychosynthese und in anderen imaginativen Verfahren arbeitet man hauptsächlich auf der Bilderebene. Einen großen Teil der Arbeit nimmt in der Primärtherapie, der Gestalttherapie und der Reichianischen Atemtherapie die Arbeit mit den Emotionen ein, und in verschiedenen Atem- und Körpertherapien arbeitet man primär mit den Körperempfindungen.
Aber bei all diesen verschiedenen Methoden muß auf die eine oder andere Weise Bezug zu etwas genommen werden, was hinter diesen Ebenen der schon geformten Einheiten liegt – sonst würde keine Veränderung geschehen. Es muß zu etwas Bezug genommen werden, was noch zentraler ist als die schon geformten Erlebniseinheiten – und das ist der «felt sense».
Ich möchte zur weiteren Beschreibung noch zwei neue Begriffe einführen: wir nennen die Gesamtheit der schon geformten Erlebniseinheiten «das Explizite», und das, was wir eben mit dem «felt sense» umschrieben haben, das Ungeformte, nennen wir «das Implizite».
Das Implizite, der «felt sense», ist also das, was nur vage zu spüren ist und noch keine Worte und Bilder hat. Das Explizite ist das Reich der Symbole und fest umrissenen Formen. Das sind die Bilder, die Worte, die Emotionen und die fest umrissenen Körperempfindungen.
Man könnte sich auch andere graphische Abbildungen für das Verhältnis von Implizitem und Explizitem ausdenken. Beispielsweise könnte man versuchen abzubilden, daß Emotionen oder Körperempfindungen dichter am Impliziten dran sind als Worte und Bilder. Aber hier will ich solch einen Gesichtspunkt ganz unberücksichtigt lassen. Ich will mit diesem Schema einfach klarmachen, daß es in uns etwas Implizites gibt, per definitionem ohne Form und Benennung, und daß es da das Explizite gibt, das Reich der Namen, Bezeichnungen, Begriffe und festen Formen.
In der Mitte unseres Erlebens liegt das Implizite, das Ungeformte, auf das wir uns beim Focusing immer wieder beziehen. Wir tauchen beim Focusing in dieses Implizite hinein und gelangen dann beim Ausdrücken des Erlebens wieder aus der Mitte zur Peripherie – in den Bereich des Expliziten, der Worte und Bilder.
Das Implizite expliziert sich in den Symbolen
Unser inneres Erleben – oder auch das Leben – zeigt sich uns in Begriffen, Worten und Bildern. Das ist ein Prozeß wie: Entstehen, Gebären, in Existenz bringen, in die Welt bringen.
Wenn wir aber den Bereich der Symbole verlassen, um in den Bereich des Impliziten einzutauchen (wenn wir also Kontakt mit dem «felt sense» aufnehmen), dann geben wir die alten Formen auf, lassen alte Begriffe und Namen los, tauchen in den Strom unseres inneren Erlebens hinein. Das ist dann ein Prozeß wie: Loslassen, Auflösen, Sterben und zur Quelle gehen.
Und wir tauchen in den inneren Strom unseres Erlebens hinein, um mit neuen Begriffen und Worten wiederzukehren, die jetzt frisch, neu, zutreffend und lebendig sind. Keine Worte und Symbole, die abgetrennt von unserem Erleben sind, sondern Worte und Bilder, wie sie jetzt gerade neu und frisch aus meinem Erleben heraus entstehen. Und die lasse ich nicht alt werden und benutze sie wie alte Ladenhüter. Gleich werde ich wieder hinabtauchen in mein Erleben und wieder mit frischen Symbolisierungen herauskommen.
Auf diese Weise «schwingen» wir im Focusingprozeß zwischen Explizitem und Implizitem hin und her. Wir schweben weder im ungeformten Erleben, noch erstarren wir auf der Ebene der Namen und Begriffe. Wir werden nicht zu östlichen Mystikern, die nur noch im reinen «Sein» existieren, und wir werden nicht zu westlichen Gelehrten, die sich hinter toten Büchern und Symbolen verstecken, wir lassen die beiden Bereiche Implizit und Explizit sich immer wieder in einem lebendigen Prozeß durchdringen.
Noch einen Unterschied zwischen Implizitem und Explizitem möchte ich hier hervorheben, der auch später bei der praktischen Anwendung wichtig sein wird. Die Art der Informationsspeicherung in beiden Bereichen ist grundverschieden. Im Expliziten sind Informationen als eigenständige Einheiten gespeichert, also so wie in einem Computer. Im Impliziten haben wir aber nur ein vages, ungeformtes Gesamtgefühl ohne getrennte Informationseinheiten. Das macht auch deutlich, wie falsch unsere übliche Auffassung vom Bewußten und Unbewußten ist. Meist stellen sich Leute das Unbewußte so vor, daß da schon verschiedene geformte Einheiten sind, die aber nur noch nicht zu sehen sind, nur noch hervorgeholt werden müssen.
Das Bild vom Impliziten (wir können es ungefähr mit dem Unbewußten gleichsetzen), das noch keine Form hat und sich dann in Symbolen expliziert und bewußt wird, ist da sehr viel genauer.
Beim Focusingprozeß lassen wir also diese beiden Bereiche in einen dialektischen Dialog eintreten, der beide Bereiche befruchtet, sie vereint und ihnen erst Sinn gibt. Wir verlassen unsere Struktur und überlassen uns unserem inneren Erlebensstrom, um dann mit neuen Symbolen und Strukturen wiederaufzutauchen. Es entsteht dann eine fließende Struktur oder ein strukturiertes Fließen – und auf diese Weise geschieht Wachstum und Weiterentwicklung.
Das wesentliche beim Focusing ist also die fortwährende Rückbesinnung auf das Implizite. Focusing geschieht ganz von selbst dort, wo wir in unserem Denken, Bildern, Fühlen und Spüren innehalten und einmal dahin lauschen, woher all diese Gedanken, Bilder, Emotionen und Empfindungen kommen. Wir nehmen kurz mit dem Ursprung all dieser Impulse Kontakt auf. Das wird unser Erleben und unseren Ausdruck bereichern und verändern. Sich einfach etwas Zeit nehmen, immer mal wieder in sich hineinzuhorchen oder zu – schauen. «Wie fühlt sich dieser Ort an, von dem diese Worte und Bilder kommen? Wie fühlt sich das an, aus dem Lachen und Weinen kommen? Wie fühlt sich das alles zusammen als vages, aber bedeutungsgeladenes Gefühl in meinem Bauch- und Brustraum?»
Die meisten Menschen in unserer westlichen Kultur bewegen sich vorrangig auf der expliziten Ebene und brauchen deswegen Hilfen, um mit dem vagen Impliziten besser in Kontakt kommen zu können. Da sind Schritte zum Raumschaffen hilfreich, über die wir noch später sprechen werden. Entspannungs- und Spürübungen, Atem- und Körperarbeit und Meditation bereiten in diese Richtung vor.
Es gibt aber auch Menschen, die im Impliziten mehr zu Haus sind. Häufig fühlen sie sich von Meditation angezogen und haben Lust zur Arbeit mit dem Körper: Sie drücken sich eher künstlerisch aus, und das Spüren und Fühlen ist ihnen ganz vertraut, häufig vertrauter als das Ausdrücken und Symbolisieren. Diese Menschen erlernen Focusing häufig leicht. Sie können schnell den felt sense finden und brauchen...