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Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen

AutorArnold Gehlen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl286 Seiten
ISBN9783688104888
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der vorliegende Band enthält siebzehn Untersuchungen zur Anthropologie und Sozialpsychologie. Arnold Gehlens Studien zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen mit seinen Problemen in der industriellen Gesellschaft gehören zu den Wegbereitern eines komplexen Wissenschaftsverständnisses, in das philosophische, anthropologische und soziologische Erkenntnisse eingegangen sind.

Arnold Gehlen wurde am 29.1.1904 in Leipzig als Sohn eines Verlegers geboren. Nach dem Studium der Philosophie in Leipzig und Köln promovierte er 1927 zum Dr. phil. 1930 Habilitation als Privatdozent der Philosophie in Leipzig als Schüler des Philosophen Hans Driesch. 1933 war er Assistent Hans Freyers am Soziologischen Institut der Universität Leipzig, 1934 erfolgte die Berufung als Nachfolger Drieschs zum ord. Professor der Philosophie. Im Jahre 1938 folgte er einer Berufung nach Königsberg, 1940 einer weiteren nach Wien, wo er die Nachfolge Robert Reiningers antrat. An beiden Universitäten leitete er auch einige Semester lang die Psychologischen Institute. Mit Gründung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer 1947 wurde er als ord. Professor der Soziologie berufen, im Jahre 1962 folgte er einer Berufung auf den neu errichteten Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen. Emeritierung 1969. Arnold Gehlen starb am 30.1.1976 in Hamburg.Wichtige VeröffentlichungenWirklicher und unwirklicher Geist (1931) / Theorie der Willensfreiheit (1933) / Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) / Urmensch und Spätkultur (1956) / Zeit-Bilder (1960) / Die Seele im technischen Zeitalter (1957) / Studien zur Anthropologie und Soziologie (1963) / Moral und Hypermoral (1969) / Mitherausgeber von Gehlen/Schelsky: Soziologie (1955) / Gehlen, A. (Mitarb.): Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips. Ein Symposion (1974) / Einblicke (1975).

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Leseprobe

Philosophische Anthropologie


Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen

I. Zur Geschichte der Anthropologie


1. Der Mensch als wissenschaftliches Zentralthema


Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Hinter der heute recht allgemeinen Verwendung und Ausbreitung des Wortes steht nun eine wichtige Zeittendenz, zu der wir uns zurückfragen müssen. Es ist nämlich kein Zweifel an einer gerade in den letzten Jahrzehnten wachsenden Popularität der Fragestellung, im neuen Brockhaus gibt es sogar schon einen Abschnitt ‹Theologische Anthropologie›. Die Theologie hatte immer eine Lehre vom Menschen, aber sie nannte sie nie Anthropologie. Es ist also kein Zweifel, daß wir es mit einer gewissen Kursgängigkeit des Wortes zu tun haben; dahinter steckt eben doch eine weitverbreitete und tiefe Interessenverschiebung, und auch innerhalb der Theologie, könnte ich mir denken, gewinnt die Frage nach dem Menschen anscheinend ein steigendes Gewicht. Außerhalb der Religionen, in den Wissenschaften überhaupt, auch in der Philosophie, wird der Mensch geradezu zu einem Zentralthema, um das herum sich viel Zusammenhang herstellen läßt, ich werde Ihnen davon berichten. Und diese allgemeine Interessenzuwendung ist nun merkwürdigerweise von HEGEL in den folgenden Worten vorausgesehen worden, die ich Ihnen zitieren will, gleich versichernd, daß das eigentlich die einzigen etwas schwierigen Sätze dieses Vortrages sein werden; HEGEL sagte nämlich einmal: ‹Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert haben, eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht Gott zu erkennen, sondern was man heißt den Menschen.› An diesen merkwürdigen Worten ist zweierlei bemerkenswert: Die Zeitform des Geistes, sagt HEGEL, und wir werden ihm das zugeben, ist die sinnlich durchsetzte Vernünftigkeit, nicht etwa eine weltabgewandte Spiritualität. Diese Konstatierung erscheint als wahr; dann müsse, sagt er, das Problem des Menschen in den Vordergrund treten, weil diese Art der Geistigkeit dem Erkennen Gottes nicht gewachsen ist. Es ist hier die Rede von einer philosophischen Lehre vom Menschen, die aus Gründen der allmächtigen Zeit in den Vordergrund trete, eine sehr kluge Ansicht, die mit meint und mit aussagt, daß eine anthropologische Philosophie keineswegs atheistisch sein muß, aber die Frage nach Gott doch nicht eigens aufwirft. Dies ist auch mein Standpunkt, wie Sie noch hören werden. Mir kam es jetzt darauf an zu wissen, woher diese merkwürdige anthropologische Wendung in fast allen Wissenschaften kommt. Wir leben ja doch wohl in einem Zeitalter der, wie HEGEL sagte, von der Sinnlichkeit affizierten Vernunft; also wird der Mensch sich selbst zum Thema und Problem. Dafür gibt es genug Gründe in der allmächtigen Zeit, auch nicht zum letzten den Grund, daß in der Massenhaftigkeit seines Daseins der Mensch anfängt, sich selbst die Natur zu verstellen.

Nach diesen einleitenden Worten, die ja nur eigentlich den Sinn hatten, Ihnen zu sagen oder eine Vermutung aufzuwerfen, weshalb heutzutage das Thema Anthropologie so lebhaft sich entwickelt, wende ich mich der Charakterisierung der eigentlichen wissenschaftlichen Interessen zu, die sich so nennen.

Anthropologie als Fachwissenschaft

Erstens, es gibt schon lange eine physische Anthropologie als Ergänzung – müßte man geradezu sagen – der Zoologie. Die physische Anthropologie ist zunächst in der Tat eine Seite der Zoologie, sie studiert den menschlichen Körper. Das ist die Wissenschaft, die die berühmten Schädelmessungen machte, die Ende des vorigen Jahrhunderts als Inbegriff anthropologischer Gelehrsamkeit galten. Diese Wissenschaft wurde aber gleich von Anfang an auch als Rassenkunde betrieben, da es nun einmal schwarze, rote, gelbe usw. Rassen gibt, und in dieser mehr ins einzelne, mehr in das Spezifischere gehenden, immer noch physischen Fragestellung sah man sich nun doch genötigt, auch diesen Rassen nachzureisen, d.h. auch Ethnologie, auch Völkerkunde zu treiben, sofort bei ihrem Auftreten verschwistert mit dem Kuriositäteninteresse an fremden und fernen Völkern. Sie sehen das, wovon ich jetzt spreche, etwa in einer späten Schrift KANTs vor sich, die in der Tat ‹Anthropologie in pragmatischer Hinsicht› heißt, wo er von den verschiedensten Rassen und Völkern, von Mulatten und was weiß ich spricht und überall dazu die Sitten und Gebräuche dieser Leute erklärt, ein Konglomerat physischer und ethnologischer Forschung. Dieses ethnologische Interesse gibt es schon lange, man kann sagen, es ist so alt wie die westliche Kultur, seit HERODOTs Reiseberichten und seit der ‹Germania› des TACITUS – damals waren wir die fremden und kuriosen Völker, die sich die Gebildeten ansahen, über die sie Bücher schrieben. Wir haben also von vornherein eine völkerkundliche Seite mit Zoologie und Anatomie verknüpft als einen doppelten Aspekt des Themas, und ein Daseinsbeweis dieser so entstandenen rein erfahrungsmäßigen Wissenschaft vom Menschen besteht darin, daß im Jahre 1869 die ‹Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte› gegründet wurde. Da sehen Sie gleich alle Interessen, die damals noch sozusagen im Rahmen einer Gesellschaft und einer Wissenschaft betrieben wurden, zusammen, einer der führenden Köpfe dieser Gesellschaft war damals der Mediziner RUDOLF VIRCHOW. Aber, wie der Titel sagt: Ethnologie und Urgeschichte nahm man gleich mit in diese Forschungen hinein. Ich mache Sie ausdrücklich auf diesen doppelten Aspekt ein und derselben Wissenschaft aufmerksam. Kennzeichnend für diese Zeit ist die Zusammenarbeit von Anatomen, von Völkerkundlern, Urgeschichtsforschern, Mediziner, Statistikern usw., eine enge Zusammenarbeit, die in den Vereinigten Staaten noch einigermaßen erhalten geblieben ist; doch enthält auch die Zeitschrift ‹Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft Wien›, die im Jahre 1870 gegründet wurde, noch viel ethnologisches, prähistorisches und fossilkundliches Material, dort ist also von dieser alten Zusammenarbeit noch etwas zu spüren. Es trat dann aber doch mit der Zeit auch hier, wie überall, eine Trennung und Aufspaltung ein, die Spezialisierung drang vor, und vor allem gliederte sich nun auch die alte physische Anthropologie in verschiedene Wissenschaften auf. So entstand seit Beginn des Jahrhunderts eine selbständige Genetik oder Erblichkeitsforschung, die der Sache nach von der Botanik bis in die Anthropologie reicht und neuerdings wegen des Problems der Strahlengefährdung der menschlichen Erbsubstanz wieder Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als ein anderer selbständiger Zweig hat sich die Abstammungslehre entwickelt, die vorwiegend an Hand von Fossilfunden ihre Erörterungen anstellt. Die eigentlich beschreibende Rassenkunde wiederum stützt sich auf Messungen, sie fordert aber darüber hinaus einen besonderen, fast künstlerischen Blick für Gestaltqualitäten und Formtypen. Ihrer wissenschaftlichen Herkunft nach kommen die meisten Anthropologen von der Zoologie, Medizin oder Botanik her (Genetiker), die Zuteilung der Fächer zu den naturwissenschaftlichen oder medizinischen Fakultäten wechselt, und was damals im Rahmen von VIRCHOWs Gesellschaft noch zusammenhing, ist in Deutschland jetzt in der Regel auf mehrere Einzelwissenschaften und zwei Fakultäten verteilt, und deswegen ist das Wort ‹Anthropologie› nicht so ganz streng bestimmt. Diese verschiedenen Meinungen, in denen das Wort gebraucht werden kann, glaubte ich hier auseinandersetzen zu müssen, ehe ich auf die philosophische Anthropologie komme.

Nachdem so eine gewisse Übersicht hergestellt ist, muß ich aber noch hinzufügen, daß es auch eine Disziplin gibt, die sich Sozialanthropologie nennt, deren Sinn und Nutzen man sofort einsieht, wenn man überlegt, daß es z.B. zwischen der gesellschaftlichen Schichtung, der Erblichkeit und der Begabung gewisse Zusammenhänge geben könnte. Es ist ein legitimes Problem, sich folgende Frage zu stellen: Wenn durch den Prozeß der gesellschaftlichen Auslese, des gesellschaftlichen Aufstieges die Träger etwa vorhandener erblicher Begabungen aus den Unterschichten allmählich aufsteigen, was schon seit Jahrhunderten vor sich gehen dürfte, und wenn sie jetzt oben, in den gouvernementalen oder akademischen Schichten angelangt, der ja nachweislich dort vorhandenen geringeren Fruchtbarkeit unterliegen, muß da nicht auf die Dauer der Begabungsstamm eines Volkes sich verbrauchen? Das ist ein übrigens populäres Problem, wie es die Sozialanthropologie sich stellt. Oder eine andere Frage: Gibt es Zusammenhänge von Erbkrankheiten, etwa Schwachsinn, mit Kriminalität? Das sind Beispiele, die Ihnen zeigen sollen, daß es einen Sinn hat, so etwas wie Sozialanthropologie auszugliedern. Die berühmte Managerkrankheit z.B. stellt ein sozialanthropologisches Problem: Gibt es vielleicht innerhalb der modernen bürokratischen, industriellen Gesellschaft ein erhöhtes Ausgesetztsein der führenden Persönlichkeiten an alle möglichen Belastungen, die das Nervensystem nicht verträgt? Das wäre eine mögliche Fragestellung.

Ich will alle diese Fragen hier nicht beantworten, ich will Ihnen nur zeigen, was sinnvollerweise in einer Wissenschaft gefragt wird, die man der Soziologie angliedern kann, vorausgesetzt, daß die betreffenden Soziologen etwas von Medizin verstehen. Oder man kann sie der Medizin anhängen, vorausgesetzt, daß die Mediziner etwas von Soziologie verstehen, und das erwarten wir ja z.B. von den Hygienikern....

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