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E-Book

Mit Träumen beginnt die Realität

Aus dem Leben eines Europäers

AutorDaniel Goeudevert
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783688103980
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In seiner zum Bestseller gewordenen Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium» hatte Daniel Goeudevert selbstkritisch über den Autismus in der Welt der Vorstandsetagen berichtet. Hier fällt sein Urteil noch radikaler aus: An der Spitze der Unternehmen sitzen immer mehr Kostenkiller, die ihre Managementaufgabe eher darin sehen, Kosten zu senken, als neue Marktanteile zu erobern. Man muß nur genügend Leute entlassen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. «Wenn ein Unternehmen nicht in erster Linie für die Menschen da ist - seien es Beschäftigte oder Kunden -, wozu ist es dann da? In unserer Shareholder-value-Gesellschaft kommt immer erst die Rendite, dann die Moral.» Goeudevert kritisiert das Tempo des Turbo-Kapitalismus, die «Vollbeschäftigungslüge» und die Politik, die nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt nach dem großen reformerischen Projekt sucht. Er fordert gesellschaftliche Verantwortung auf Seiten der Unternehmer und entwickelt die Umrisse eines humanen, verantwortlichen Kapitalismus im zusammenwachsenden Europa. Er plädiert für eine Kultur geistiger, sozialer und räumlicher Beweglichkeit, um Kreativität und Phantasie und damit Visionen entstehen zu lassen, die wir so dringend brauchen.

Daniel Goeudevert, geboren 1942 in Reims, war Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke und Mitglied des Konzernvorstands von VW. Heute ist er Vizepräsident von FEDRE (Fondation pour l'Économie et le Développement durable des Régions d'Europe) und bekleidet einen Beraterposten bei der UNESCO.

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Leseprobe

Vorwort


Wenn der Abstieg so manchen Tag in den

Schmerz führt, er kann doch auch in der Freude

enden. (Albert Camus)

Ich bin ein glücklicher Sisyphos. Mit diesem Bekenntnis endete meine Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium», in der ich meine europäische Karriere als Manager in der Automobilindustrie beschrieben habe. Und dieses Grundgefühl hat mich seither nicht verlassen.

Wie paßt das zusammen? Kann sich ein Mensch wie Sisyphos, den die Götter dazu verurteilt hatten, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein stets wieder hinunterrollt, glücklich nennen? Jemand, dessen unermüdliche Anstrengung, von außen betrachtet, vergeblich, ja unnütz ist? Albert Camus hatte diese Frage in seinem berühmten Buch «Der Mythos von Sisyphos» mit einem klaren «Ja» beantwortet: Die verschwiegene Freude des Sisyphos bestehe darin, daß er sein Schicksal angenommen und den Fels zu seiner Sache gemacht habe.

Und auch meine Antwort auf die Frage, ob man im «Scheitern» glücklich sein kann, lautet: Ja! Ich habe eine märchenhafte Karriere gemacht, bin durch allerlei Umstände den Berg mehr hinaufgeschoben worden, als daß ich ihn erklommen hätte, um dann, fast ganz oben angekommen, den steilen Hang wieder hinunterzurollen. Aber Auf- und Abstieg, das habe ich dabei erfahren, entscheiden nicht über Glück oder Unglück. Es kommt letzten Endes nicht so sehr darauf an, was einer erreicht und wo er steht, sondern was einer tut und warum er es tut.

Ich bin gestolpert – und stolpere auch weiterhin –, und ich bin gescheitert, aber ich habe nicht aufgegeben. Aufzugeben ist schlimm, Scheitern eine notwendige Erfahrung. Jedem, der Verantwortung übernimmt, wünsche ich, ab und zu ein solches Scheitern zu erleben, damit er sich seine Menschlichkeit erhält und gezwungen ist, über sein Tun nachzudenken.

Wie schal und gefährlich Erfolg und Macht sein können, wie sehr man zu verkümmern droht, wenn eine in erster Linie rational und strategisch orientierte «Professionalität» – don’t be emotional – die sinnlich-seelische Hälfte des Selbst praktisch zudeckt, habe auch ich erst erkannt, als ich leicht ramponiert am Fuße des Berges lag und verdutzt zum umwölkten Gipfel emporblickte, auf dem ich eben noch gestanden hatte. Die veränderte Perspektive ließ mich zunächst einmal eigene Beschädigungen erkennen. Darüber vor allem, über Aufstieg und Fall, habe ich in meinem letzten Buch berichtet.

Inzwischen sehe ich viele Dinge mit größerer Klarheit, die wachsende Distanz zu meinem Manageralltag entspricht einem Erkenntnisprozeß. Ich versuche nach wie vor, meine Berufs- und Lebenserfahrungen in ein zeitgemäßes Bildungs- und Ausbildungsprojekt einzubringen, und ich stehe immer noch, sei es als Berater oder als Gesprächspartner, mit vielen Vertretern aus Wirtschaft und Politik in regem Kontakt. Über die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich in meiner weiterhin sehr mobilen Existenz gewonnen habe, möchte ich in diesem Buch berichten.

Ich glaube, dies tun zu müssen, weil sich unsere Gesellschaft in einer äußerst kritischen Übergangsphase befindet. Die Wirtschaft hat sich in einen sinnentleerten Geschwindigkeitsrausch hineingesteigert und ein Tempo erreicht, mit dem die Menschen längst nicht mehr Schritt halten können. Das hat zu einer tiefgreifenden Orientierungskrise geführt, deren Symptome sich täglich vervielfachen. Wir hecheln der Entwicklung nur noch hinterher und verlieren in diesem aussichtslosen Wettlauf unser Zutrauen in die eigene Fähigkeit, den Gang der Dinge zu gestalten. Das daraus resultierende Ohnmachtsgefühl hat schon heute ein Ausmaß an Angst geschürt, daß wir selbst auf die positiven Veränderungen, die sich bereits vollziehen und die noch anstehen, phobisch reagieren.

Die vielzitierte «unsichtbare Hand» eines Adam Smith, die sich angeblich schützend über das Marktgeschehen legt und es zum Wohle aller reguliert – weshalb man sie tunlichst gewähren lassen solle –, ist in Wahrheit deshalb unsichtbar, weil der Markt schlicht und ergreifend blind ist. Er nimmt nichts wahr, was außerhalb seiner begrenzten Logik liegt; für ihn zählt nur, was sich auch zählen läßt. Das «Wovon» und «Für wen», das «Warum» und «Wohin» ist ihm gleichgültig; Werte wie Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sind ihm fremd. Damit diese Werte am Ende nicht von der «unsichtbaren Hand» kassiert werden, bedarf es klarer Regeln. Dies scheint inzwischen sogar ein Mann wie George Soros begriffen zu haben, der wie kaum ein zweiter vom Kapitalismus profitiert hat, sich aber jüngst medienwirksam vom Saulus zum Paulus wandelte, um uns wachzurütteln: Die ungezügelten Märkte würden unkalkulierbare Risiken bergen und eine ernste Bedrohung des sozialen Friedens darstellen, weshalb wir schleunigst zur Vernunft kommen und Reformen in Angriff nehmen sollten.

Es kann nie schaden, die Augen zu öffnen. Es ist aber immer besser, selber zu denken. Wir alle müssen deshalb darangehen, uns selbst und andere darüber aufzuklären, was auf uns zukommt. Dazu bedarf es keinerlei seherischer Anmaßung, denn die «Zukunft», die auf uns zukommt, kommt auch irgendwoher, sie hat eine Herkunft: im Heute, im Gestern, im Vorgestern. Je besser wir diese Herkunft kennen, desto klarer zeichnet sich der Horizont ab. Aber Wissen allein genügt nicht. Wir müssen zugleich Vorstellungen davon entwickeln, wie wir das, was auf uns zukommt, gestalten wollen. Und das ist die eigentliche Herausforderung. Hannah Arendt hat einmal gesagt: Der einzige Weg, das Unvorhersehbare zu beeinflussen, besteht darin, Versprechungen zu machen und sie einfach einzuhalten. Anders ausgedrückt: Politik und Wirtschaft – wir alle – müssen Visionen entwickeln und sie verwirklichen; wir dürfen nicht mehr nur reagieren, sondern sollten endlich wieder agieren. Mit Träumen beginnt die Realität.

Querdenker und Visionäre, Abweichung und Nonkonformität müssen gefördert werden. Denn der entscheidende Reichtum einer vitalen Gesellschaft sind die utopischen und phantastischen Überschußkapazitäten, die sie freizusetzen imstande ist. Ich halte es daher für einen – leider häufig anzutreffenden – geschichtsblinden Irrtum, zu glauben, Utopien, Visionen, Träume seien folgenlose Hirngespinste. Gerade die Potentiale der Abweichung und der Kritik, des Rückzugs und des Ausbruchs, des Scheiterns und des Irrens verkörpern die Veränderungsfähigkeit einer Gesellschaft. Ohne die Träumereien von Visionären und Utopisten lebten wir heute in einer ganz anderen Realität. Es gäbe keine Opern und keine Schulen, keine Flugzeuge und kein Penicillin, keinen Rechtsstaat und schon gar kein Frauenwahlrecht, wenn Menschen nicht immer und immer wieder etwas gedacht und ausgesprochen und getan hätten, was zuvor noch keiner gedacht oder ausgesprochen oder getan hat.

Auch das neue, sich formierende Europa verdankt sich einstmals utopischen Plänen. Zum Beispiel den Träumereien eines Saint-Simon, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft und dabei die Grundlage für ein «unvergleichlich liberaleres und demokratischeres System», als es damals in Europa üblich war, entdeckt zu haben glaubte. In einer Denkschrift «Über die Reorganisation der europäischen Gesellschaft» schrieb Saint-Simon daraufhin im Jahre 1814: «Europa hätte die bestmögliche Organisation, wenn alle ihm angehörenden Nationen von Parlamenten regiert würden und wenn diese ein übergeordnetes gemeinsames Parlament anerkennen würden, das die Macht hätte, Meinungsverschiedenheiten beizulegen.»

Heute, mehr als 185 Jahre später, befinden wir uns auf bestem Wege, aus Saint-Simons Traum Realität werden zu lassen. Doch je näher das Ziel rückt, desto weniger scheinen wir es uns zu eigen zu machen. Kaum jemand weiß oder will wissen, was da ganz konkret auf uns zukommt, welche Veränderungen hinter dieser einen Veränderung anstehen. An vielen französischen Bahnübergängen steht auf einem Hinweisschild, was man in diesem Zusammenhang fast schon als philosophische Mahnung deuten könnte: «un train peut en cacher un autre», ein Zug kann einen anderen verbergen. Das heißt, man sollte immer mit mindestens zwei Gefahren rechnen, oder positiv formuliert: Eine Veränderung kommt nie allein; die Oberfläche formaler Neuerungen – etwa eine einheitliche Währung oder eine einheitliche Gesetzgebung – darf nicht davon ablenken, die dadurch im «Hintergrund» erforderlichen Umstellungen und Anpassungen wahrzunehmen.

Da ich, mehr zufällig und ohne daß ich mir dessen wirklich bewußt war, einen Lebensweg genommen habe und weiterhin nehme, wie ihn viele Menschen im künftigen Europa beschreiten werden, möchte ich die anstehenden Veränderungsprozesse hier etwas genauer ausmalen. Ich werde zunächst einmal von meinen eigenen Erfahrungen erzählen und später daran anknüpfende Überlegungen anschließen.

Die mir weniger geneigten Leserinnen und Leser mögen nun aufstöhnen: Ausgerechnet der Goeudevert, dieser Exmanager! Will uns erzählen, was er aus seinem Chefsessel heraus erkannt zu haben glaubt! Der führt doch ein ganz anderes Leben als wir! Leute wie ihn werden doch die einschneidendsten Veränderungen gerade nicht betreffen! – Ich muß und will mich, was solche Vorbehalte angeht, an den Beobachtungen und Vorschlägen messen lassen, wie ich sie hier zu Papier gebracht habe. Darin besteht ja nicht zuletzt der Sinn einer Ver-Öffentlichung. Zumindest der letztgenannte mögliche Vorbehalt aber, Besserverdienende und Führungskräfte blieben von Zumutungen verschont, ist in meinen Augen ein Irrtum. In mancherlei Hinsicht dürfte sogar das...

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