Prolog
Warum könnte sich der Dialog mit mir lohnen?
Liebe Leserin, lieber Leser, ich kenne dich nicht, weder dein Alter, deinen Beruf noch deine (Führungs-)Erfahrungen. Vielleicht stört dich das, vielleicht bist du froh darüber. Wenn du dich auf die Lektüre dieses Buchs einlässt, wirst du vieles über mich erfahren. Ich hoffe, dass dabei Vertrauen entsteht, weniger zu mir als in deine eigenen Fähigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Und wenn ich mir gestatte, das vertrauliche «Du» zu verwenden, so um mit dir auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Im Folgenden werde ich dir etwas über mich erzählen, damit du erkennst, ob es sich tatsächlich lohnt, mit mir in Dialog zu treten und von mir Anregungen zu empfangen.
Erstens bin ich nichts Besonderes, obwohl ich in jungen Jahren davon ausging, dass unsere Generation, die der Babyboomers, etwas Spezielles wäre. Wie die meisten meiner Altersgruppe trug ich die Haare lang, hörte die Musik der Beatles, der Rolling Stones, von Jimi Hendrix und den Doors und diskutierte mit meinen Freunden über eine friedlichere und gerechtere Welt. «Wir bauen eine neue Gesellschaft auf, die Welt wird morgen anders aussehen, unsere Haare sind Symbol dieses Aufbruchs», sagte ich Ende der 1960er-Jahre zu meinen skeptischen Eltern. Wir demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Mit Protesten und Sitzstreiks erwirkten wir, dass die Leitung unseres Gymnasiums die Entlassung eines Primaners wegen eines erotischen Abenteuers mit einer Schulkollegin rückgängig machen musste. «Make love, not war», forderten wir lautstark und, zumindest in diesem Fall, erfolgreich. Wir glaubten, dass Che Guevara in Lateinamerika und Mao in China mit ihren Revolutionen auf dem Weg zu einem neuen Menschen und einer besseren Welt wären. Wir skandierten Ches Parolen und zitierten in der Geschichtsstunde unserem verdutzten Lehrer eine Stunde lang aus Maos rotem Büchlein. Als später die tatsächlichen Entwicklungen und Konsequenzen ans Tageslicht kamen, vor allem die Millionen von Opfern in China, war die Euphorie verflogen, der Glaube an «das Besondere der 68er» verloren und die Haare wieder kürzer, wenigstens bei mir. Und mir wurde bewusst, dass ich nichts Spezielles bin.
Im Verlauf der Jahre wurde mir bewusst, dass ich überall ersetzbar war und mir nichts darauf einbilden durfte, in guten familiären Verhältnissen und in einem stabilen Umfeld aufgewachsen zu sein. Die meisten Länder Westeuropas und Nordamerika haben seit 1945 eine lange Periode des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität erlebt. Nie zuvor ist es einer grossen Zahl von Menschen in diesen Weltzonen so lange so gut gegangen. Davon habe ich profitiert. Ich konnte in relativer Sicherheit aufwachsen, zur Schule gehen und studieren; ich war auf Reisen und bin mit anderen Kulturen und Menschen in Kontakt gekommen; meine Freizeit konnte ich fast uneingeschränkt geniessen, dabei war fast alles möglich und erlaubt. Deshalb bin ich nicht etwas Besonderes, sondern besonders privilegiert. Das machte mich etwas bescheidener und dankbarer. Das Gegenteil von dem, was einige Werbeslogans mir vorgaukeln wollen, wenn sie sagen: «Du bist es wert.»
Zweitens habe ich eine grosse Passion für Leadership. Ich darf sagen, dass ich auf fast 50 Jahre Führungserfahrung zurückblicke. Selbstverständlich wusste ich als Zwölfjähriger nicht, dass mich Führungsfragen ein Leben lang faszinieren und beschäftigen würden. In diesem Alter liess ich mich zum Captain der Fussballmannschaft wählen. Meinem Vater erzählte ich, dass ich zwar stolz sei, einstimmig gewählt worden zu sein, aber nicht verstehe, weshalb der Trainer gesagt habe, von nun an sei ich sein verlängerter Arm auf dem Spielfeld. «Wir spielen doch Fussball, nicht wahr, Dad?», fragte ich meinen verdutzten Vater. Später übernahm ich bei den Pfadfindern, als Klassensprecher und als Bandleader einer Pop-Rock-Gruppe Verantwortung. Mit 23 Jahren war ich Offizier in der Schweizer Armee. In den Schul- und Semesterferien war ich unter anderem bei der Post, in Autogaragen, bei einer Tageszeitung, in Werkstätten und bei einem Getränkelieferanten tätig. Primär ging es darum, Geld für das Studium, für die Musik und für Reisen zu sammeln. Aber es kam auch vor, dass ich den Filialleiter aufsuchte und ihm Verbesserungsvorschläge für seinen Betrieb vortrug. Was haben sich jene Chefs wohl gedacht, als der 18- oder 20-Jährige mit einer von Hand gefertigten Skizze vor ihnen stand und ohne Umschweife auf den Punkt kam? Dachten sie, es handle sich um einen Ehrgeizling, ohne Berechtigung zur Kritik? Im Nachhinein frage ich mich: Was trieb mich an? Den Ehrgeiz streite ich nicht ab, aber mir ging es, so denke ich zumindest heute, immer auch um die Organisation, für die ich mich engagierte. Mein Bestreben war es, mich verantwortlich zu zeigen und im positiven Sinn zu wirken.
Ich studierte Jurisprudenz, wurde Anwalt, mein Jugendziel, und arbeitete in einer partnerschaftlich organisierten Anwaltskanzlei. Dann wurde ich Berufsoffizier. Im Rückblick habe ich in der Grossfirma «Schweizer Armee» mit 600000 Angehörigen alle ein bis zwei Jahre eine andere Funktion bekleidet. Die Armee war mein Leben, und ich war bestrebt, mich in jeder Funktion zu bewähren und positive Spuren zu hinterlassen. Ich absolvierte die amerikanische Generalstabsschule und wurde mit 46 Jahren Brigadekommandant. Als Zwei-Sterne-General war ich später für die Kampftruppen und anschliessend für die Aus- und Weiterbildung aller Offiziersgrade zuständig. Mit 54 Jahren folgte ich dem Ruf der Deutschen Bank nach London und übernahm als Managing Director die Auswahl ihrer Topkader, eine Funktion, die ich später auch für ein anderes international tätiges Unternehmen ausübte. In diesen Jahren war ich ehrenhalber Präsident eines (Frauen-)Fussballklubs. Anfang 2015 machte ich mich selbstständig und berate seither Verwaltungsräte und Konzernleitungen in Führungsfragen.
Berufsbegleitend habe ich mich immer wieder mit meinen Führungserfahrungen auseinandergesetzt und versucht, Neues zu lernen. Daraus sind verschiedene Artikel und mehrere Bücher entstanden. 2009 wurde ich Honorarprofessor für Unternehmensführung an der Universität St. Gallen, wo ich seither für die Executive School in der Ausbildung von Topmanagern engagiert bin.
Während meiner Karriere habe ich viele Erfahrungen gesammelt. Ich denke mit Dankbarkeit und Genugtuung an Erfolge und an die vielen Menschen zurück, die mit mir ein Stück Weges gegangen sind. Ich habe Leadership praktiziert, darüber geforscht und geschrieben. Ich denke täglich darüber nach, und das nicht nur, wenn ich schlechte Führungsbeispiele erlebe und beobachte, wie ein Hotelmanager seinen Angestellten anschreit. Erfreut bin ich, wenn ich höre, wie der Geschäftsführer einer Fahrzeuggarage zu seinem Mitarbeiter «Danke» sagt. Ich weiss vieles, aber nicht alles. Ich habe auch Fehler gemacht und muss zu meinem Leidwesen sagen, dass ich nicht dagegen gefeit bin, weitere zu machen. Das liegt wohl in der Natur der Führung (und des Lebens): Man wird älter und erfahrener, aber bleibt nicht fehlerfrei. Das Schlimmste ist ohnehin, wenn jemand glaubt, er sei eine tolle Führungskraft, wisse alles und sei unfehlbar – und sich so verhält.
Ich bin deshalb weit davon entfernt, dir konkrete Ratschläge zu erteilen oder sogar rezeptartige Vorgaben zu machen. Da ich mir bewusst bin, dass ich zwar reichhaltige, aber doch spezielle, vielleicht nur meine Person betreffende Erfahrungen gemacht habe, hüte ich mich vor einfachen Botschaften. Ich habe zwar eine Meinung zu (fast) allen Führungsfragen. Damit will ich dich aber keineswegs zum kritiklosen Nachbeten meiner Empfehlungen und Merksätze verführen. Du sollst nicht alles, was ich dir sage, als «das Gelbe vom Ei» betrachten; nicht alles, was ich dir empfehle, kannst du in deinem Führungskontext 1:1 übernehmen. Ich möchte dich zum Denken animieren, zum Nach- und Vordenken, zur kritischen Reflexion über dich selber, über Führungssituationen und deinen Einfluss. Du ziehst deine eigenen Schlussfolgerungen, die Entscheidungen liegen bei dir.
Nun weisst du ein wenig mehr über mich und was du von mir erwarten kannst. Aber was treibt mich an, vieles über mich preiszugeben und über zahlreiche Aspekte der Führung nachzudenken?
Meine Führungsgeneration würde ich nicht als eine goldene bezeichnen. Das mag an der Transparenz und Beschleunigung durch das Internet und die (sozialen) Medien liegen. Was früher unter den Tisch gekehrt werden konnte, ist heute rasch publik und in aller Munde. Fehlverhalten von Führungskräften, insbesondere von Topmanagern, lassen sich nicht mehr geheim halten. Die Führungsetage ist zum öffentlichen Raum geworden. Unter diesen Voraussetzungen war bei einigen (nicht bei allen) Managern Söldnermentalität, Eigennutz und kurzfristiges Denken festzustellen: Ihr primäres Ziel schien die eigene Karriere, die Gier nach persönlicher Bereicherung und Anerkennung zu sein. Der schnelle Erfolg, dargestellt in Zahlen, Steigerung des Unternehmensgewinns wie des Salärs, war offensichtlich die einzig wichtige und bestimmende Zielsetzung. Auf der Strecke blieben die Mitarbeiter, die Umwelt und die Gesellschaft, in der das Unternehmen tätig war. Die Business Schools der Universitäten waren zwar nicht schuld an der Finanzkrise und den Skandalen wie der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko oder dem Abgasschwindel des VW-Konzerns, aber sie haben angehenden Managern vor allem individualistische und rationalistische Konzepte im Rahmen des General Managements aufgezeigt, zu wenig zum Denken in Zusammenhängen und zur Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Organisationen angeregt.1
Ich stelle heute fest, dass es Führungskräfte gibt, die nur das Ich...