2. Das neue Jahr beginnt
(Freitag, 8. Januar)
»Warum können die nicht ein einziges Mal tun, was man ihnen sagt?«, seufzte ich frustriert, als Jens mein Büro verlassen hatte. »Verstehen die denn meine Ideen nicht? Wissen die nicht, was wir hier in meiner Firma machen? Am besten wäre, wenn ich hier ein paar Klone von mir hätte!«
Volle zwei Wochen hatte ich mich im Dezember mit unserem Kunden Herrn Jaschke zusammengesetzt, um ein Konzept dafür zu erstellen, wie sein Unternehmen in den Social-Media-Kanälen wieder besser dastehen könnte. Infolge kleiner Qualitätsmängel an seinen Home-Sportgeräten war er Opfer eines Shitstorms geworden. Dieser war zwar mittlerweile abgeklungen, aber das Ansehen war weiterhin beschädigt. Mein Unternehmen hilft Auftraggebern dabei, ihr Image wieder aufzupolieren. Dazu hatte ich eine wirklich besondere Story entwickelt, die den Menschen hinter dem Unternehmen, also Herrn Jaschke, herausstellte und so Identifikationspotenzial und Vertrauen aufbauen sollte. Eine Story aus der Gründungsphase seines Unternehmens – er hatte es ja genau deshalb gegründet, weil ihm die Qualitätsmängel bei seinem vorherigen Arbeitgeber so gegen den Strich gingen.
Meine Mitarbeiter sollten die Story filmisch umsetzen: Sebastian als Projektleiter und Jens hinter der Kamera. Und mit dem Clip wollten wir dann YouTube und Facebook bestücken. Wenn es gut laufen würde, könnten wir da eine ganze Serie machen, die sich immer um denselben Story-Kern drehen würde. Und nach und nach würde sich das Image seines Unternehmens wieder wenden. Ich freute mich schon richtig darauf, die ersten Bilder zu sehen.
Und jetzt das!
Jens zeigte mir den Rohschnitt. Ein Herr Jaschke war darauf nicht zu sehen. Und von meiner Story auch nichts. Herr Jaschke hatte angeblich keine Zeit gehabt, als Sebastian und Jens da waren. Stattdessen fand sich in dem Clip irgendein hübsches Mädel, das als Marketingpraktikantin bei Herrn Jaschke arbeitete.
»Statt zurück ins Büro zu fahren, habe ich nach einer Lösung gesucht«, erklärte Jens stolz. »Scheitern ist keine Option! Und da kam mir diese süße Maus aus dem Marketing vor die Kamera. Die ist doch scharf, oder?«
»Ja, ja«, erwiderte ich frustriert. Vermutlich hatte er mit ihr danach noch Überstunden gemacht. Jens fiel das leicht: ein durchtrainierter Endzwanziger, etwa 1,90 Meter groß und gut aussehend und ohne Hemmungen. »Aber das ist nicht das, was wir vereinbart hatten. Wir wollen, dass die Menschen die Person hinter dem Unternehmen erleben können, also Herrn Jaschke, und nicht irgendeine austauschbare Tussi.«
»Ach, komm schon, Marc«, lächelte Jens gewinnend, »seien wir doch mal ehrlich: Herr Jaschke ist völlig untrainiert und hat Ringe unter den Augen. Wer von seinen Kunden will sich denn mit dem identifizieren? Die wollen doch alle besser aussehen! Aber Viola ist eine echte Prachtschnitte. Die guckt jeder an, egal, um was es geht. Sie ist ganz klar eine Sympathieträgerin.«
»Und was hat Sebastian dazu gesagt?«, fragte ich. Immerhin ist er der Projektleiter.
Jens grinste. »Marc, du kennst doch Sebastian. Der meckert immer nur rum. Aber«, und nun wirkte er plötzlich nicht mehr ganz so forsch, »Herr Jaschke findet den Clip super.«
»Herr Jaschke findet … was?«, fragte ich fassungslos. »Du hast ihm den Clip doch nicht etwa schon gezeigt? Bevor ich ihn gesehen habe? Das glaube ich jetzt nicht!«
»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Jens. »Ich weiß ja, dass du als Chef den Kunden die Clips präsentierst. Ich hab ihn nur Viola, der Marketingpraktikantin geschickt, weil sie sich natürlich sehen wollte. Und da ist der Clip viral in einer Stunde durch Jaschkes komplette Firma gewandert. Bis ganz nach oben. Damit hab ich echt nicht gerechnet. Aber, Marc, das beweist doch: Der Clip ist viral, er funktioniert und Herr Jaschke will ihn.«
»Herr Jaschke will ihn«, wiederholte ich leise kopfschüttelnd. Wofür hatte ich mir die ganze Zeit mit der Story den Arsch aufgerissen?
»Soll ich den Schnitt fertig machen lassen? Ist ja im Moment noch die Rohfassung«, fragte Jens.
»Ja, mach«, erwiderte ich resigniert – was soll man auch tun, wenn der Kunde etwas will? Jens nickte und verließ mein Büro. Ich war wieder allein.
»Warum können die nicht ein einziges Mal tun, was man ihnen sagt?«, fragte ich mich nochmals kopfschüttelnd. Ich hätte brüllen können und machte es doch nicht. Als ich zum Fenster hinausblickte, kam mir das erste Mal seit sieben Jahren der Gedanke, einfach aufzustehen, meine Daunenjacke anzuziehen und zu gehen. Und nicht mehr wiederzukommen.
Vor knapp sieben Jahren, im April 2009, hatte ich mein Unternehmen gegründet. Davor hatte ich in Berlin fürs Fernsehen gearbeitet, dann in Agenturen Werbefilme produziert. Ich war vor allem für die Storys verantwortlich. Aber beim Fernsehen wollten sie keine Story, sondern Einschaltquoten, und in der Werbung wurde zwar viel von Storys geredet, aber letztlich wusste keiner so recht, was eine gute Story überhaupt ausmacht. Ich war meist der Einzige, der Storywriting wirklich studiert hatte, zuerst Regie, dann Schwerpunkt Drehbuch an der Film- und Fernseh-Akademie.
Aber noch viel schlimmer war: Es schien auch keiner wissen zu wollen, wie gute Storys wirklich funktionieren. Ich hatte es permanent mit autoritären »So und nicht anders wird’s gemacht«-Idioten als Chefs zu tun. Hauptsache, die Agentur bekam einen Award dafür. Ich hatte es so satt, Perlen vor die Säue zu werfen. Vor allem die letzte Firma – eine Werbeagentur mit 100 Leuten und einem völligen Egomanen als Chef – war wirklich gruselig!
Im Januar 2009 hatte ich mich dann in Helena verliebt. Meinen 35. Geburtstag am 4. April feierten wir bei ihr in Mainz. Jedes Mal wenn ich zu Besuch bei ihr war, blühte ich auf und fühlte mich voller Energie. Und damals, an meinem Geburtstag, spürte ich wieder diese Energie und beschloss spontan, zu kündigen. Ich zog zu ihr nach Mainz und gründete eine eigene Firma: Schluss mit diesen unfähigen Chefs! Ich wollte es anders machen!
Helena war Marketingleiterin, und die Agentur, die eigentlich den Werbeclip für ihr Unternehmen drehen sollte, war aufgrund der damaligen Wirtschaftskrise pleitegegangen. Sie brauchte ganz dringend eine Lösung und so kam ich dann gleich zu meinem ersten Auftrag. Zwei Tage später kaufte ich einen GmbH-Mantel und nannte mein Unternehmen »Kastor Unternehmensimage GmbH«. »Kastor« verbindet den Anfang meines Nachnamens, Kaufmann, mit Story. Zudem war Kastor in der griechischen Mythologie derjenige, der Helena gerettet hat, nachdem sie entführt worden war. Das gefiel uns.
Schnell kamen weitere Kunden hinzu. Die meisten hatten Probleme in der Außenwahrnehmung. Und genau da komme ich ins Spiel: Immer dann, wenn sie ein schlechtes Image in der Öffentlichkeit haben, drehen wir diese Wahrnehmung. Wir machen PR, Kommunikation, YouTube- und Fernsehfilme. Kurz: Wir peppen das Image auf und retten so unsere Kunden.
Meine feste Überzeugung war: Wenn ein Unternehmen in der Öffentlichkeit schlecht dasteht, dann entweder weil das Unternehmen keine gute Story über sich erzählt oder, noch schlimmer, das Story-Erzählen anderen überlässt. Und wenn kein Mensch das Unternehmen kennt oder das Unternehmen keine Fans hat, ist die Ursache immer, dass keine gute Story erzählt wird. Story ist alles! Dementsprechend ist es mein Job, die guten Storys zu machen! Insofern kümmere ich mich auch darum, dass Unternehmen, die nicht so gut dastehen wie die Topunternehmen, ebenfalls wirkliche Chancen haben. Und damit sorge ich für mehr Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist mir sehr wichtig.
Zu Beginn hatten wir ein helles Loft mit nur einem Raum, in das wir die ganzen Schreibtische quetschten. Wir wuchsen schnell, sodass wir nach drei Jahren, also im Jahr 2012, bereits zwölf feste Mitarbeiter waren. Mir war völlig klar, dass ich demnächst meinen Exchef mit seinen 100 Mitarbeitern überholen würde – der konnte nichts!
Weil das Loft inzwischen aus allen Nähten platzte, zogen wir in ein richtiges Büro um. Einige bekamen Einzelbüros, die meisten saßen zu zweit in einem Raum. So konnten sich alle im Vergleich zu vorher endlich mal wieder richtig auf die Arbeit konzentrieren und mussten nicht dauernd das Gequatsche der anderen anhören. Das war eine prima Zeit; damals, vor vier Jahren, verdienten wir wirklich gutes Geld und wir gewannen sogar einige Preise für unsere Filme.
Am 8. Januar 2016, dem Tag, als sich für mich alles zu drehen begann, waren wir 13 Mitarbeiter. Ich erinnere mich, wie ich an die Wand auf unser Organigramm schaute.
Während sich bis 2012 alles leicht anfühlte und ich das Gefühl hatte, endlich mein Talent zeigen zu können, wurde es ab 2013 immer zäher. Der Umsatz stagnierte und unser »Gewinn« ging auf etwa null zurück. Irgendetwas lief schief, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das war.
Sogar ein paar staubtrockene Bücher über Unternehmensführung hatte ich gelesen, aber daraus konnte ich auch nicht viel entnehmen. Vieles schien einfach nicht auf meine Situation zu passen. Ich hatte auch schon ein paar Unternehmensberater engagiert, aber die meisten schienen selbst ziemlich erfolglos zu sein. Da sie immer nur den Businessplan mit mir überarbeiten wollten und ich nicht das Gefühl hatte, dass mir das sehr viel helfen würde, trennte ich mich recht schnell wieder von ihnen.
Das Einzige, was ich nach einer solchen Beratung mal gemacht hatte, war, meine Unternehmenswerte auf ein großes Plakat zu schreiben und...