1. EIN BLICK ZURÜCK
Die Entdeckung des Evangeliums
Als Christoph Kolumbus im Jahr 1492 versuchte, Ostasien durch die Überquerung des Atlantischen Ozeans zu erreichen, stieß er in der Karibik auf einen unerwarteten Kontinent. Aber er war nicht der erste Europäer, der dort landete. Vielmehr hatten Grönländer schon ein halbes Jahrtausend vorher das amerikanische Festland zu Gesicht bekommen. Dennoch verbindet man die Entdeckung Amerikas fest mit der Reise des Kolumbus.
In einem ähnlichen Sinn lässt sich die Reformation als Entdeckung des Evangeliums beschreiben. Damit ist nicht gesagt, dass die Reformatoren des 16. Jahrhunderts die Ersten waren, die Zugang zur Bibel als Grundlage des Glaubens gewannen. Das Evangelium, verstanden als der Inbegriff der Botschaft des Neuen Testaments, war der Christenheit von ihren Anfängen an bekannt. Aber es wurde immer wieder verdunkelt. Die Geschichte der Christenheit ist voll von Beispielen dafür, dass die Kirche, deren Aufgabe darin besteht, den Glauben an Jesus Christus weiterzugeben, sich diesem Glauben in den Weg stellte. Das geschah vor allem dadurch, dass sie sich selbst wichtiger nahm als den, den sie verkündigen sollte. Deshalb war und bleibt es immer wieder notwendig, das Evangelium zu entdecken.
Aufbruch zur Reformation
Die Reformation war ein vielschichtiges Geschehen, doch sie hatte einen einfachen Kern. Das Interesse am Evangelium von Jesus Christus führte zur Reformation. Das signalisiert das Wort «evangelisch». Es meint seinem Ursprung nach keine konfessionelle Abgrenzung, sondern eine inhaltliche Konzentration.
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts waren weder die Ersten noch die Letzten, die sich darum bemühten. Aber ihr Aufbruch zu einem neuen und unmittelbaren Verständnis des Evangeliums hatte exemplarischen Charakter. Vom Evangelium her wurde nach dem Inhalt und den Lebensformen des Glaubens gefragt. Genau in einem solchen Sinn fragt dieses Buch danach, was evangelisch ist, und erschließt so den Zugang zu Grundfragen des christlichen Glaubens.
Der 31. Oktober 1517 gilt als Anfangsdatum der Reformation. An diesem Tag schlug Martin Luther (1483–1546) nach einer alten Überlieferung seine 95 Thesen zu Ablass und Buße an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg an. Wahrscheinlich griff er nicht selbst zum Hammer, sondern überließ das dem Pedell, dem mit derlei Aufgaben betrauten Angestellten der Universität. Am selben Tag übersandte Luther die Thesen an Bischof Hieronymus Schultz, seinen unmittelbaren kirchlichen Vorgesetzten, der in Brandenburg an der Havel residierte. Zugleich schickte er sie auch an Erzbischof Albrecht von Magdeburg, den seine Kritik, ja sein Protest unmittelbar betraf. Denn er betrieb seit 1515 einen Ablass, für den er einen der erfolgreichsten Ablasshändler der Zeit, den Dominikanermönch Johannes Tetzel, engagiert hatte. Die Geldzahlungen, die als Zeichen aufrichtiger Reue mit dem Ablass verbunden waren, sollten offiziell für die Fertigstellung von St. Peter in Rom verwendet werden. In Wahrheit brauchte Albrecht die Erträge, um die päpstliche Sondererlaubnis zu bezahlen, mit deren Hilfe er außer dem Bischofsstuhl von Magdeburg auch noch denjenigen von Mainz bestiegen hatte.
Luther ging es nicht nur um eine Kritik am Ablass; er wollte vielmehr herausstellen, dass die Buße, also die Umkehr zu Gott, den Kern des christlichen Lebens bildet. Der Erzbischof würdigte indessen die 95 Thesen keiner Antwort, sondern leitete sie wegen des Verdachts der Ketzerei unmittelbar nach Rom weiter. Damit bereits wurden die Weichen dafür gestellt, dass Luthers Anstoß nicht zur inneren Reform der einen Kirche genutzt wurde, sondern in eine Kirchenspaltung mündete.
Die Veröffentlichung der 95 Thesen löste zwar nicht bei dem Erzbischof von Magdeburg, wohl aber in der allgemeinen Öffentlichkeit eine breite Resonanz aus. Andere Vorstöße Luthers wie von Reformern vor und neben ihm hatten kein vergleichbares Echo hervorgerufen. Nun jedoch brachte die Wittenberger Intervention eine breite Debatte in Gang. Darum ist es angemessen, dass der 31. Oktober jährlich als Gedenktag der Reformation begangen wird. Alle einhundert Jahre fordert das Jahr zu einer großen Bilanz auf: Wo stehen wir? Wie geht es weiter?
Reformationsjubiläen
Solche Jubiläen verbinden die Reformation mit dem jeweiligen Geist der Zeit. Die Erinnerung an die Reformation trug maßgeblich zur Ausbildung einer historischen Jubiläumskultur bei – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch jenseits seiner Grenzen. Doch diese Jubiläumskultur war zugleich ortsgebunden. Sie nahm ihren Ausgang von den Stätten der Reformation. Ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen ergriff die Universität Wittenberg die Initiative zu einem Erinnerungsfest. Der Anstoß wurde an anderen Orten aufgenommen und wirkte schon bald über den universitären Bereich hinaus. Dem Datum von Luthers «Thesenanschlag» traten andere wichtige Erinnerungsdaten wie Luthers Geburts- und Todestag (1483 bzw. 1546) sowie die Verabschiedung des Augsburger Bekenntnisses von 1530 zur Seite. Diese «Jubelfeiern» wurden nicht nur als Vergewisserungen der evangelischen Glaubensform, sondern zugleich als öffentliche Manifestationen protestantischer Kulturgestaltung konzipiert. 1817 strahlten die Befreiungskriege auf das Reformationsjubiläum aus: Luther als Ahnherr einer «deutschen Kultur» sollte dabei helfen, das Unterlegenheitsgefühl zu überwinden, das die Niederlagen in den napoleonischen Kriegen ausgelöst hatten. «Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte», hießen die ersten Zeilen des «Vaterlandslieds» von Ernst Moritz Arndt. Freilich sollte auch die Annäherung zwischen den beiden großen Flügeln der Reformation – Lutheranern und Reformierten – in Erinnerung bleiben, die sich mit dem Reformationsjubiläum 1817 verbindet. Die Bildung von evangelischen Kirchenunionen, insbesondere in Preußen, ist mit diesem Datum verbunden. 1917 stand das Reformationsjubiläum im Bann des Ersten Weltkriegs. Die reformatorische Freiheitsbotschaft wurde zur Durchhalteparole in einer gewaltsamen Auseinandersetzung, die sich immer stärker zum Existenzkampf entwickelte und einem ganzen Jahrhundert ihren Stempel aufdrückte: dem Jahrhundert der Weltkriege.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rücken solche nationalistischen Töne in den Hintergrund. Sie tauchen am ehesten dort auf, wo die Reformation als Etappe in der Entwicklung des Abendlandes gilt, das manche Vertreter dieser Denkweise durch das Vordringen des Islam und weltweite Wanderungsbewegungen vom Untergang bedroht sehen. In der 2015 in Dresden entstandenen Protestbewegung «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (PEGIDA) kommt diese Denkweise überscharf und mit einem fremdenfeindlichen und rechtspopulistischen Akzent zum Ausdruck. In größeren Teilen der Öffentlichkeit wird einer nationalen Engführung des Reformationsgedenkens heute jedoch eine globale und ökumenische Betrachtungsweise entgegengestellt: Die Reformation hat in vielen Erdteilen ihre Wirkungen entfaltet; und die Christenheit rückt trotz aller konfessionellen Unterschiede näher zusammen. Sosehr diese Perspektive zu begrüßen ist, sollte man sich jedoch nicht täuschen: Auch ein solches Denken kann sich als Anpassung an den Geist der Zeit erweisen: Reformationsjubiläum im Bann der Globalisierung, mit einer «Weltausstellung der Reformation» als besonderem Kennzeichen.
Offenkundig ist der Grat zwischen kritischem Gegenwartsbewusstsein und bloßer Abhängigkeit vom Zeitgeist schmal. Umso dringlicher ist es, danach zu fragen, was evangelisch ist, also die Reformation nicht nur zu feiern, sondern sich zu ihr auf den Weg zu machen: Aufbruch zur Reformation.
Keine neue Kirche
Ein Reformationsjubiläum ist auch der Gefahr ausgesetzt, die Reformation von 1517 als Gründungsdatum einer neuen Kirche misszuverstehen. Dieser Vorwurf wurde schon bald von Luthers Gegnern erhoben; beispielhaft geschah das bereits in dem Verhör Luthers durch Kardinal Cajetan am Rand des Augsburger Reichstags von 1518 (Leppin/Sattler 2014: 43). Doch darum ging es Luther und Melanchthon, Zwingli und Calvin, Bucer und Brenz sowie all den anderen Reformatoren genauso wenig wie John Wiclif und Jan Hus vor ihnen. All diese Reformer wollten die existierende Kirche zu ihren Wurzeln und zu ihrem Auftrag zurückführen, nicht eine neue Kirche...