BIOGRAFISCHE EINFÜHRUNG
Madeleine Delbrêl wurde am 24. Oktober 1904 in der kleinen südfranzösischen Stadt Mussidan/Dordogne geboren, als einziges Kind ihrer Eltern Lucile und Jules Delbrêl. Ihre Mutter und Großmutter waren praktizierende Katholikinnen, sodass das Kind getauft wurde, Katechismusunterricht bekam und schließlich auch zur Erstkommunion ging. Der Vater hingegen war ein Freidenker, der Kirche und Glauben eher skeptisch gegenüber stand. Die Lebensumstände hatten ihn dazu gezwungen, Eisenbahnbeamter zu werden, obwohl er lieber Journalist geworden wäre. Dieser auferlegte Verzicht hinterließ in ihm eine Unerfülltheit, die er nie verwand. Seine Karriere brachte einen häufigen Wohnungswechsel mit sich: fünf Mal allein in Madeleines ersten neun Lebensjahren! Sie wuchs deshalb, wie sie selbst sagte, „außerhalb jeglicher Schuldisziplin“3 auf.
1916 zog die Familie Delbrêl nach Paris, wo Madeleine den atheistisch oder agnostisch gesinnten Freunden ihres Vaters begegnete und von ihnen darin bestärkt wurde, dem Intellekt „den ersten Platz in der Stufenleiter meiner Werte“4 einzuräumen.
Dazu kam die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der sie nach dem Sinn des Lebens und vor allem des Leidens fragen ließ. Das Fundament des Glaubens, das einige Priester wohl auf überzeugende Weise in ihr gelegt hatten, wurde dadurch immer mehr erschüttert und erwies sich als nicht mehr tragfähig: „Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.“5
Früh war sowohl ihre intellektuelle als auch ihre künstlerische Begabung aufgefallen; bereits mit sechzehn Jahren belegte sie Kurse in Philosophie und Geschichte an der Pariser Sorbonne, nahm Zeichenunterricht und schrieb Gedichte, für die sie in den Zwanzigerjahren einen bedeutenden französischen Literaturpreis erhielt. Doch auf ihre leidenschaftliche Frage nach dem Sinn des Lebens fand sie letztlich keine Antwort. „Gott ist tot – es lebe der Tod“ – zu dieser existenzialistisch-nihilistischen Erkenntnis kam die Siebzehnjährige.
Menschliche Begegnungen leiteten dann eine Wende ein. Im Haus eines der Freunde ihres Vaters lernte sie Jean Maydieu, einen überzeugten jungen Christen, kennen. Er wäre gerne schon in jungen Jahren in einen Orden eingetreten, doch auf Wunsch seines Vaters studierte er Ingenieurwissenschaften. Madeleine Delbrêl und er fühlten sich zutiefst voneinander angezogen. Was bei ihr weder die Kunst noch die Philosophie vermocht hatten, das vermochte nun die Liebe: eine Bresche in das Bollwerk ihres Nihilismus zu schlagen.
Zu ihrem neunzehnten Geburtstag richteten ihre Eltern ein großes Fest aus, an dem man von der offiziellen Verlobung zwischen ihr und Jean Maydieu sprach. Doch kurze Zeit später brach er die Verbindung mit ihr ab, um seiner ursprünglichen Berufung zu folgen und ins Noviziat der Dominikaner von Amiens einzutreten. Als Ordensmann wurde er später eine der zentralen Gestalten für die Erneuerung des französischen Katholizismus – und sein Weg ist dem Weg Madeleine Delbrêls bis in Details hinein sehr ähnlich geworden.
Der Schmerz über diese abrupte und für sie kaum nachvollziehbare Trennung löste bei ihr einen intensiven Prozess der Suche aus, an dessen Ende das stand, was sie als „eine überwältigende Bekehrung“6 bezeichnete: die Begegnung mit dem lebendigen Gott, die Erfahrung einer Liebe, die nicht mehr zur Wahl stand.
Zunächst dachte Madeleine Delbrêl wohl daran, in den Karmel einzutreten. Die großen Heiligen der karmelitanischen Tradition – Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Therese von Lisieux – faszinierten sie und bestätigten ihre Sehnsucht nach dem „einen Notwendigen“.
Sie verzichtete jedoch zunächst auf einen Klostereintritt, weil ihre Eltern in einer belastenden Situation waren: Der Vater war früh erblindet und forderte die volle Aufmerksamkeit seiner Angehörigen ein. Unter der Begleitung von Abbé Lorenzo – dem späteren Mitbegründer der Mission de France – fand sie Zugang zu einer Pariser Pfarrgemeinde und lernte dort die Pfadfinderinnen-Bewegung kennen; zusammen mit ein paar jungen Frauen engagierte sie sich im Bereich alltäglich verwirklichter Diakonie. Die geistliche Grundlage dieses Kreises bildete die wöchentliche Bibelmeditation. Auf diesem Boden wuchs in Madeleine Delbrêl allmählich die Gewissheit, dass sie sich nicht „aus der Welt zurückzuziehen“ brauchte, um Ernst zu machen mit der Liebe Gottes. Nach dem Vorbild Jesu Christi müsste es möglich sein, ganz bei Gott und zugleich ganz bei den Menschen zu sein – und so die innere Einheit der beiden Liebesgebote ohne äußere und innere Grenzen zu leben, das heißt: ohne die Einschränkungen einer vorkonziliaren klösterlichen Klausur.
Eine Initialzündung, die zu einer konkreten Lebensform führen sollte, ergab sich für Madeleine Delbrêl und einige ihrer Freundinnen aus der gemeinsamen Lektüre der Apostelgeschichte. Dabei wurde ihr klar, was sie suchte: „Mitten in unserer säkularisierten Zeit eine christliche Gemeinschaft gründen, die sich unaufhörlich vom Beispiel der ersten Christen inspirieren lässt, in einem Leben, das so wenig streng geregelt ist wie das ihre; das von einem ebenso wahrhaftigen Verlangen nach Heiligkeit erfüllt ist. Ein Leben, das genauso einfach, genauso glühend und genauso in die Welt hineingetaucht ist.“7
Im Oktober 1933 legte Madeleine Delbrêl mit zwei Gefährtinnen den Grundstein für ein solches Leben: Alle drei verließen ihr bürgerliches Milieu und zogen nach Ivry, eine Arbeiterstadt in der Pariser Bannmeile, die als erste französische Stadt kommunistisch regiert wurde. In diesem sozialen Brennpunkt wollten sie ein gemeinschaftliches Leben nach dem Evangelium aufbauen, ohne Regeln, ohne Gelübde und ohne Klausur: „Wir sind echte Laien, die keine anderen Gelübde haben als ihr Taufversprechen und seine Wirklichkeit und die Wirklichkeit ihrer Firmung.“8
Ihr Haus sollte ein Haus der offenen Tür sein, und die drei Frauen wollten sich ganz bewusst auf die alltägliche Realität einer Arbeiterstadt einlassen.
Schon Jahre zuvor hatte Madeleine Delbrêl ihre künstlerischen und philosophischen Studien aufgegeben, um sich zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen. In diesem Beruf arbeitete sie dreizehn Jahre lang; zuerst in einer kirchlichen Sozialstation, während des Krieges und noch ein Jahr danach in der kommunalen Stadtverwaltung.
Die Wahrnehmung des Elends – vor allem die menschenunwürdigen Lebensbedingungen derer, die in den dreihundert mittleren und kleineren Fabriken von Ivry arbeiteten – löste in ihr ein leidenschaftliches Engagement für die Armen und Benachteiligten aus. Deshalb zögerte sie auch nicht, mit den Verantwortlichen der Kommunistischen Partei zusammenzuarbeiten, um das Elend der Menschen zu lindern.
Zeitlebens engagierte sie sich auch in verschiedenen sozialen und politischen Projekten, deren Notwendigkeit sich für sie oft aus ganz ungeplanten Begegnungen ergab. Mehrmals hat sie sich zugunsten politisch Verfolgter oder ungerecht Verurteilter zu Wort gemeldet.
1946 gab sie zum Erstaunen vieler ihren Beruf auf, um sich verstärkt ihrer Gemeinschaft zu widmen, die sich inzwischen vergrößert hatte. Als Verantwortliche versuchte sie, diese Frauengruppe zu begleiten und immer neu zu umschreiben, was ihre Berufung als Laien ausmachte. Madeleine Delbrêl legte stets Wert darauf, als Gruppe kein besonderes „Erkennungszeichen“ zu haben. Dass ihre Gemeinschaft deshalb in keiner Weise – vor allem auch kirchenrechtlich – einzuordnen war, führte allerdings Ende der Vierzigerjahre zu Konflikten. Spätestens nach dem Erscheinen der Konstitution „Provida Mater Ecclesiae“ zur kirchlichen Approbation der Säkularinstitute (1947) sah sich Madeleine Delbrêl von allen Seiten (auch von ihrer eigenen Gemeinschaft) dazu aufgefordert, über einen Anschluss an das Institut „Caritas Christi“ nachzudenken. Dieses Ringen um den Status der Gruppe dauerte zehn Jahre lang und war für alle Beteiligten zermürbend. Schließlich fand Madeleine Delbrêl in dem späteren Kardinal von Paris, Msgr. Veuillot, einen unerwarteten Fürsprecher. Er warnte davor, sich vorschnell institutionalisieren zu lassen und bekräftigte die Originalität ihrer Berufung, in der er einen Impuls des Heiligen Geistes für die heutige Zeit erkannte.9
Seit den Vierzigerjahren war sie darüber hinaus mit den Verantwortlichen der missionarischen Aufbruchsbewegungen in Frankreich in Kontakt gekommen, vor allem mit der Mission de France. Durch ihre langjährigen Erfahrungen als Christin im kommunistisch-atheistischen Milieu einer Arbeiterstadt wurde sie bald zur Beraterin für diejenigen, die nach neuen Wegen der...