Würde als Kompass
Was bedeutet eigentlich »Würde«?
Bevor wir uns mit der Rolle der Würde und dem Würde-Ich in Ihrem und unserem Lebensalltag beschäftigen, erscheint es uns wichtig und richtig, uns damit zu beschäftigen, was wir unter Würde verstehen – und was nicht.
Eins ist sicher: Nicht alle Menschen haben die gleiche Vorstellung von Würde.
Viele Menschen verbinden mit Würde eine würdevolle, oft königlich genannte Haltung. Sie verbinden damit Menschen, die aufrecht stehen oder gerade sitzen, die sich anderen gegenüber gleichzeitig respektvoll zugewandt, dennoch eher distanziert und huldvoll zeigen, manchmal ein wenig von oben herab, und so Respekt quasi selbstverständlich einfordern. Keine Frage: Eine solche Haltung, eine solche Ausstrahlung, kann ein Aspekt von Würde sein. Doch sie alleine ist nicht ausreichend zur Kennzeichnung dessen, was Würde ist. Denn allzu oft ist eine solche Haltung Schein, ist sie eine Pose, die Menschen einnehmen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.
Ein anderer Aspekt, der der Würde oft zugeordnet wird, ist die Ausstrahlung von Würde, die durch ein Amt erfolgt. Die britische Königin Elisabeth II. repräsentiert seit Jahrzehnten die Würde ihres Amtes als Monarchin des Commonwealth of Nations. Auch das Amt des deutschen Bundespräsidenten ist ein Amt, das Würde erfordert und Würde ausstrahlt. Zumindest ausstrahlen sollte. Doch wahrhaftig nicht allen Amtsinhabern gelingt es, unseren Respekt für ihre Haltung, ihr Verhalten und ihre Ausstrahlung zu gewinnen. Beispielhaft möchten wir hier nur zwei Menschen nennen, denen es nicht gelang und gelingt, die Würde des Amtes zu leben: der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke und der heutige Präsident der USA Donald Trump. Beide fallen uns ein als Verkörperung von Amtsträgern, die ihre eigene Würde und die der anderen verletzt oder sogar mit Füßen getreten haben bzw. treten. Bundespräsident Heinrich Lübke trat – sehr freundlich ausgedrückt – in so viele Fettnäpfchen, dass er für die meisten im In- und Ausland eher zu einer lächerlichen, würdelosen Figur wurde, als dass sein Amt und seine Amtsführung Würde ausstrahlten. Sein Mangel an Würde bewirkte bei manchen Menschen, die von ihm von Amts wegen repräsentiert wurden und die ein Gespür für Würde hatten, oft ein tiefes Schamgefühl. Und was Donald Trump anbetrifft, so spottet er in Bezug auf Würde jeder Beschreibung. Unser Erschrecken darüber, wie er Menschen entwürdigt, erniedrigt, demütigt, sie beleidigt, ihnen Leid zufügt, wird nur noch getoppt von dem Erschrecken, wie viele Menschen dies zulassen bzw. begrüßen und bejubeln. Wurde Trump zuerst mit seinen entwürdigenden Worten und Haltungen im Wahlkampf nicht gebührend als gefährlich wahr- und ernst genommen, so keimte nach seiner Wahl bei vielen Menschen die Hoffnung auf, dass die Achtung vor dem Präsidentenamt ihn Würde lehren würde. Diese Hoffnung wurde leider enttäuscht und diese bittere Wahrheit hat Auswirkungen auf das Weltgeschehen und für viele Menschen auch katastrophale persönliche Konsequenzen.
Tatsache ist: Ein Amt allein gebiert keine Würde, es muss der Mensch sein, der es, sich würdevoll und würdigend verhaltend, ausfüllt. Auch sogenannte Würdenträger können sich entwürdigend verhalten, auch ein »Hochwürden« kann Menschen erniedrigen und deren Würde mit Füßen treten. Nach all unseren Erfahrungen sind wir der festen Überzeugung, dass eine wahrhaftige würdevolle Ausstrahlung weder eine angeborene noch eine von Amts wegen übertragene Eigenschaft ist oder sein kann, sondern eher das Ergebnis von würdigenden Erfahrungen im Austausch zwischen den Menschen und einer würdigenden Haltung sich selbst und den anderen gegenüber. Eine würdevolle Ausstrahlung ist verdichteter Ausdruck würdigender Beziehungserfahrungen.
Vielleicht fallen Ihnen einige Personen ein, die für Sie Würde verkörpern? Die ihre ganz eigene, vielleicht unorthodoxe Art haben, Würde auszustrahlen? Lassen Sie sich von Ihren Einfällen überraschen: Sie müssen diese Menschen nicht in all ihren Facetten mögen, müssen nicht all ihre Meinungen oder Weltanschauungen teilen. Sie müssen sie nicht einmal näher kennen, um sie in ihrer Würde zu würdigen. Ebenso gut kann es aber auch ganz unspektakulär ein Mensch aus Ihrer näheren oder ganz nahen Umgebung sein, der trotz oder sogar gerade mit all seinen Unzulänglichkeiten für Sie ein Sinnbild von Würde ist und in Ihren Augen ein würdevolles Leben lebt.
Nähern wir uns der Würde noch von anderer Seite und schauen wir uns zunächst den ursprünglichen Wortgehalt an. Das Wort »Würde« leitet sich her vom althochdeutschen Wort »wirdī« mit der Bedeutung »Wert, Ansehen, Verdienst«. Würde wird also Menschen zugemessen, die voller Wert für andere sind.
In der heutigen Zeit denken viele Menschen an Geld und Preise, wenn sie den Wert einer Sache, eines Kunstwerkes oder selbst eines Menschen in Augenschein nehmen und bemessen. Doch diese Art der Bewertung hat nichts mit Würde, vor allem nicht mit Menschenwürde zu tun, sondern mit ihrem Gegenteil, der Entwürdigung. Wie viel ist ein Mädchen oder eine Frau geldwert, die von Menschenhändlern verraten und verkauft wird? Wie viel unseres Glücks und unserer Lebenszeit ist es wert, dass wir unser Einkommen erhöhen? Wie absurd hoch mutet der Tauschwert von Fußballern an und erregt so immer wieder die Gemüter von uns Normalverdienern? Wie hoch ist der Preis für ihre Behandlung als Objekt, als Material?
Menschen nach ihrem Tauschwert zu bemessen, sie als Geldanlage oder als Vermögenswert zu betrachten und zu behandeln, ist prinzipiell der Versuch, sie zu entwerten und zu entwürdigen. Wir sprechen bewusst von einem Versuch der Entwürdigung, denn wir haben weder Grund noch Erlaubnis, an der persönlichen Würde der Opfer dieser Entwürdigungsversuche zu zweifeln.
Dass Menschen ihr Wert als Mensch abgesprochen wird, dass sie als unwürdiges und unwertes Leben missachtet und existenziell bedroht werden, ist Kern des Menschenbildes, das Kriege, Gewalt und Vergewaltigungen, Terror und Vernichtung von »unwertem Leben« in welcher ideologischen Verbrämung auch immer auf seine Fahne geschrieben hat. Wir haben damit in unserer Geschichte leidbringende und leidvolle Erfahrungen gemacht, und viele, entsetzlich viele Menschen müssen sie auch heute noch jeden Tag machen. Wer Menschen hemmungslos misshandeln und töten soll, darf sie nicht mehr als Menschen betrachten, muss das Prinzip der unantastbaren Würde im wahrsten Sinne des Wortes außer Gefecht setzen.
Wenden wir uns nun zwei anderen Aspekten der Würde zu, denen, die der Bedeutung des Wertes eines Menschen würdig sind. Der erste besteht darin, dass der Mensch einen Wert hat allein deshalb, weil er ein Mensch ist. Der Philosoph Immanuel Kant schrieb schon 1797: »Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann, ist also die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung ausgetauscht werden könnte.«1 Anders ausgedrückt: Die Würde des Menschen ist gegen nichts austauschbar.
Würde ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch ist es wert, die Menschenrechte innezuhaben, weil er ein Mensch ist. Dafür brauchen Sie und jede und jeder Einzelne nichts zu tun, brauchen Sie und wir alle nichts zu leisten. Darum müssen Sie und wir Menschen generell uns nicht bemühen. Das ist unser Recht. Es steht uns zu. Auch wenn es oft gebrochen wird. Es ist Ihr und unser aller genereller Wert in unserem Sein als Mensch, der uns das Anrecht auf Würde gibt und darauf, die Menschenrechte würdig leben zu dürfen. »Jeder Mensch, egal wer er ist oder wie heruntergekommen er sein mag, erwartet instinktiv oder im Unterbewusstsein, dass man Respekt für seine Menschenwürde aufbringt.«2
Der zweite Aspekt bezieht sich auf den spezifischen Wert eines Menschen, auf die persönlichen Bestandteile seiner Würde. Ihr individueller Wert ist in Ihrem Leben gewachsen. Er setzt sich aus all Ihren Erfahrungen, Ihrem Engagement, aus Ihrem Lächeln und so vielem mehr zusammen. Er ist nicht messbar, wie Geld oder Leistungen messbar sind. Ihre persönliche Würde besteht in all Ihren Fähigkeiten und Kostbarkeiten und verdient es, geschätzt und gewürdigt zu werden.
Damit sind wir bei einer weiteren wichtigen Annäherung an das, was wir bedeutsam finden bei dem Wunsch, den Begriff der Würde mit Leben zu füllen. Wir schenken nicht nur dem Substantiv »Würde« unsere Aufmerksamkeit, sondern legen besondere Betonung auf das Verb »würdigen«. Damit Ihre Würde wachsen kann, müssen Sie von anderen Menschen gewürdigt werden....