Womit beschäftigt sich Organisationsentwicklung?
In der Regel wenden sich Unternehmen dann an Organisationsentwickler, wenn sie geeignete Wege suchen, um Übergänge von einem alten Zustand in einen neuen, noch unbekannten Zustand zu gestalten. Nicht jede Organisationsentwicklung ist ein Change-Projekt, aber jedes Change-Projekt sollte auch aus der psychosoziologischen Perspektive der Organisationsentwicklung betrachtet werden.
Die Psychosoziologie drückt sich im Lebens- und Arbeitsgefühl der Menschen aus, in ihren Überzeugungen, Gewohnheiten und den Geschichten, die sie erzählen, in den Zeichen, die sie verwenden. Hier zeigt sich, wie im Unternehmen etwas unternommen wird.
Organisationsentwicklung ist die bekannteste psychologisch gestützte Form des geplanten Wandels in Unternehmen. In Anlehnung an verschiedene Quellen definieren wir Organisationsentwicklung wie folgt:
Info: Definitionen Organisationsentwicklung
Organisationsentwicklung ist ein Sammelbegriff für theoretische Ansätze, Diagnoseverfahren, Interventionsmaßnahmen und Evaluationsmethoden, die Effektivität und Effizienz einer Organisation erhöhen und die organisationale sowie individuelle Lernfähigkeit fördern.
Die Veränderungs- und Entwicklungsprozesse der Organisation, und der in ihr und für sie tätigen Menschen, sollen dabei von diesen selbst aktiv getragen und bewusst gelenkt werden und somit zur Erhöhung des Problemlösungspotenzials und der Selbsterneuerungsfähigkeit der Organisation führen. Die Menschen gestalten dabei gemäß ihren eigenen Werten die Organisation und den Veränderungsprozess authentisch so, dass diese nach innen und außen den wirtschaftlichen, sozialen, humanen, kulturellen und technischen Anforderungen entsprechen können.
In der Regel werden in der Organisationsentwicklung zwei Ansätze unterschieden, die aus zwei unterschiedlichen Ausgangslagen resultieren: der reaktive Ansatz und der antizipative Ansatz.
Reaktiv: Interventionen werden dann als reaktiv bezeichnet, wenn ihr Anlass eine krisenhafte Entwicklung ist.
Antizipativ: Antizipative Organisationsentwicklung ist proaktiv und folgt den Zielen der Expansion, Weiterentwicklung oder Diversifizierung.
Eine weitere Unterscheidung betrifft die angestrebten Veränderungen. Dabei lassen sich Änderungen erster und zweiter Ordnung differenzieren.
Veränderungen erster Ordnung meinen quantitative, eher graduelle Entwicklungen im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung und Weiterentwicklung (zum Beispiel Verbesserung der Zusammenarbeit bestehender Gremien, Konkretisierung und Umsetzung eines Leitbilds).
Veränderungen zweiter Ordnung bringen auch qualitative Neuerungen mit sich (zum Beispiel funktionale Umstrukturierungen, Änderungen in der Aufbauorganisation).
Eine nächste Unterscheidung betrifft den Umfang der Zielstellung.
Kulturorientierte Organisationsentwicklung kümmert sich ausschließlich um das Denken, Fühlen und Verhalten im Unternehmen. In erster Linie geht es um all das, was jenseits der Aufbau- und Prozessorganisation eines Unternehmens und seiner strategischen Ausrichtung für die Menschen und die Organisation von Bedeutung ist. Wichtig sind also Fragen bezüglich Führung, Kommunikation, Haltungen, Emotionen, Motivation und Zusammenarbeit. Organisationsentwicklung in diesem Sinne beschäftigt sich dann nur mit der Psychosoziologie eines Unternehmens. Eine solche Perspektive auf das Unternehmen betrachtet die Aufbauorganisation, die Prozesse, die Märkte, die Inhaberstrukturen eines Unternehmens zunächst als gegeben beziehungsweise als Außenwelt des zu beratenden Systems mit.
In einer erweiterten Zielsetzung unterstützen Organisationentwickler auch die Veränderung oder Neustrukturierung der Aufbau- beziehungsweise Prozessorganisation der Organisation. Dabei sehen sich Organisationsentwickler gemäß ihres Beratungsverständnisses als Begleiter eines Prozesses und weniger als Fachberater (s. Beratungsstile, S. 45 ff.). Sie versuchen, sich das Wissen des Systems nutzbar zu machen und sehen sich als Helfer zur Selbsthilfe.
Organisationsentwicklung in der Praxis
Gäbe es einen idealtypischen Organisationsentwicklungsprozess, würde er bei der Organisationdiagnose und Hypothesenbildung beginnen, setzte sich fort über die Planung von Interventionen und Eingriffen auf der Grundlage empirisch gesicherter Wirkungstheorien und mündete dann in der Realisierung konkreter Maßnahmen, deren Ergebnis empirisch kontrolliert und evaluiert werden könnte.
In der Praxis sehen Organisationentwicklungsprozesse aber ganz anders aus. Die Diagnose und die Form der Diagnose sind bereits Interventionen: Fragen zu Führung, Konflikten, Kultur, Aufbauorganisation, Prozessen und Stimmungen eröffnen Diskurse über etliche Themen, die möglicherweise vorher nicht im Gespräch waren. Sind sie besprechbar und kritikwürdig, dann werden sie auch veränderbar.
In der Praxis gibt es selten linear beziehungsweise sequenziell verlaufende Organisationsentwicklungsprozesse, denn naturgemäß gelten in komplexen Systemen keine einfachen Kausalitäten. Zumindest sind sie für außenstehende Berater und manchmal auch für die Internen selbst bisweilen schwer durchschaubar. Organisationen sind nicht rational. Auch wenn Berater sich das nur ungern eingestehen, handeln sie ebenfalls meist nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Gefühlslagen von Irritation, Ratlosigkeit und Selbstzweifel sind bei Beratern normal.
Die Organisation als Mini-Gesellschaft
Aus der Sicht von Organisationsentwicklern sind Organisationen Mini-Gesellschaften: komplexe politische Gebilde von Gruppen im Austausch, die Interessen- und Zielkonflikte haben und Wege finden müssen, diese zu lösen. Menschen in Organisationen realisieren ihre eigenen unterschiedlichen Wert- und Lebensvorstellungen und verfolgen dabei Aktivitäten, die unterschiedlich eng am Zweck und Ziel des Ganzen orientiert sind.
Die Komplexität und Differenziertheit moderner Gesellschaften findet sich gleichermaßen in den Unternehmen wieder, obwohl durch die rationale Ausrichtung und hierarchische Ordnung vieles einfacher scheint als »draußen«.
In der individuellen Menschenperspektive kann eine Organisation für manche Heimat sein, Identität stiften, Sinn erzeugen. Anderen ist sie Spielwiese ihres Ehrgeizes oder Bühne der Selbstherrlichkeit. Wo Menschen leben und arbeiten, gibt es Klatsch und Tratsch, Freude, Missgunst, Stolz, Neid, Unzufriedenheit, verdeckte und offene Konflikte, unauflöslich erscheinende Widersprüche, böse Geschichten und gute Geschichten, Liebe und Hass, Irrglauben, Lügen, Träume, Ungleichgewichte, Ungereimtheiten, Egoismen, Glaubenssätze. Organisationsentwickler erkennen diese Realitäten – jenseits aller zur Schau gestellten Rationalität – als bestimmend an und beziehen diesen Humanfaktor gern mit ein. Es geht nicht darum, die Rationalitätslücken einfach zu schließen, wie sich das so mancher Manager wünscht. Denn wahrscheinlich gebiert gerade ein solches Chaos die Sterne.
Gelingende Organisationsentwicklung
Auch wenn manche sich fragen: Wie kann Chaos, Improvisation, Prozessklitterung und Krisenmanagement zum Erfolg führen? Die Organisation in ihrer Gesamtheit scheint immer klüger als die Einzelnen. Sie schafft es irgendwie, auch wenn so mancher darauf wetten würde, dass ihr es nicht gelingt. Organisationen sehen immer schlechter aus, als sie tatsächlich sind. Sie werden in ihrer Unempfindlichkeit meist unterschätzt. ...