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Dekolonisation

Das Ende der Imperien

AutorJan C. Jansen, Jürgen Osterhammel
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2785
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783406654657
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kaum ein Vorgang veränderte die Welt im 20.Jahrhundert so sehr wie das Ende kolonialer Herrschaft in Asien und Afrika. In systematischen und chronologischen Kapiteln beschreibt das Buch diesen Prozess mit seinen weiten Ausläufern im gesamten Jahrhundert und bietet lokale, imperiale und globale Erklärungen an. Es fragt nach den Auswirkungen der Dekolonisation auf Weltwirtschaft, internationales System und Ideengeschichte sowie nach den vielfältigen langfristigen Folgen für die ehemaligen Kolonien und Metropolen.

Jan C. Jansen ist Akademischer Mitarbeiter an der Universität Konstanz. Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Für sein Buch Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts (52010) wurde er mit dem «Leibniz-Preis» der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

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Leseprobe

I. Dekolonisation als Moment und Prozess


«Dekolonisation» ist ein technischer und undramatischer Begriff für einen der dramatischsten Vorgänge der neueren Geschichte. Man kann diesen historischen Prozess mit einer Doppeldefinition fassen, die ihn nicht chronologisch unbestimmt hält, sondern eindeutig in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verankert: Dekolonisation ist demnach

erstens die gleichzeitige Auflösung mehrerer interkontinentaler Imperien innerhalb des kurzen Zeitraums von etwa drei Jahrzehnten (1945–75), verbunden mit,
zweitens, der historisch einmaligen und voraussichtlich unumkehrbaren Delegitimierung jeglicher Herrschaft, die als ein Untertanenverhältnis zu Fremden empfunden wird.[1]

Alternative Definitionsversuche setzen andere Akzente. Der Historiker Prasenjit Duara etwa betont weniger den Zerfall von Imperien als den lokalen Machtwechsel in spezifischen Kolonien, wenn er Dekolonisation bestimmt als «den Prozess, durch den Kolonialmächte die institutionelle und rechtliche Herrschaft über ihre Territorien und abhängigen Gebiete an formal souveräne Nationalstaaten übertrugen, deren Regierungen aus den jeweiligen Ländern heraus gebildet wurden». Auch er fügt einen normativen Aspekt hinzu: Die Ablösung politischer Ordnungen sei eingebettet in einen globalen Wertewandel. Sie bedeute einen Gegenentwurf zum Imperialismus im Namen von «sozialer Gerechtigkeit und politischer Solidarität».[2]

Es ist aber ebenso möglich, sehr konkret und pragmatisch danach zu fragen, wann die Dekolonisation eines bestimmten Gebietes abgeschlossen ist. Eine schlichte Antwort würde lauten: wenn eine lokal gebildete Regierung die Amtsgeschäfte übernommen hat, die völkerrechtlichen und symbolischen Formalitäten des Souveränitätswechsels vollzogen sind und der neue Staat – meist schon nach wenigen Monaten – in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde.

Im Vergleich zu anderen gebräuchlichen Kategorien der Zeitgeschichte wie «Kalter Krieg» oder «Globalisierung» handelt es sich bei «Dekolonisation» – «Dekolonisierung» und «Entkolonialisierung» sind schwerlich bessere Alternativen[3] – um einen wenig anschaulichen Terminus aus der Verwaltungspraxis. Der Begriff ist mithin keine Kategorie, die sich Historiker oder Sozialwissenschaftler im Nachhinein ausgedacht haben. Man findet ihn in winzigen Spuren schon vor 1950, in signifikanter Häufigkeit aber erst seit Mitte der 1950er Jahre, also – wie wir im Rückblick wissen – auf dem Höhepunkt eben jener Entwicklungen, die er beschreibt.[4]

Es handelte sich zunächst um ein Wort aus dem Sprachschatz von Praktikern und Zeitzeugen. Das, was uns heute als sein kühler und technischer Charakter erscheint, spiegelt eine damals verbreitete politische Vorstellung. Die politischen Eliten in Großbritannien und Frankreich, den letzten verbliebenen Kolonialmächten von Rang, glaubten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Übergabe der Regierungsgewalt an «vertrauenswürdige» einheimische Politiker in den bis dahin kolonial beherrschten Gebieten steuern, nach eigenen Vorstellungen gestalten oder notfalls verhindern zu können. Man hoffte, dass solche Übergänge sich langwierig, also eher in Jahrzehnten als in wenigen Jahren, und friedlich vollziehen würden. Ebenso bestand die Erwartung, dass die neuen unabhängigen Staaten – nicht ohne Dankbarkeit für langjährige koloniale «Partnerschaft» – harmonische Beziehungen zu ihren früheren Kolonialmächten pflegen würden. In diesem Sinne wurde Dekolonisation als Strategie und politisches Ziel der Europäer verstanden, das mit Geschick und Entschlossenheit zu erreichen sei.

Der tatsächliche Verlauf der Dekolonisation hatte nur in wenigen Fällen mit einem solch geordneten und steuerbaren Vorgang zu tun. Die Machbarkeit des Prozesses wurde von der historischen Wirklichkeit, zahlreichen Eigendynamiken, Beschleunigungen, unintendierten Nebenwirkungen oder auch historischen Zufällen infrage gestellt. Während nicht wenige Kolonialexperten nach 1945 in Asien das Ende kolonialer Herrschaft ins Auge fassten, waren sich fast alle von ihnen in dem Glauben an eine dauerhafte koloniale Zukunft in Afrika einig – ein Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte. Dekolonisation war somit auch die fortwährende Enttäuschung einer imperialen Illusion der Permanenz. Sie markiert einen intensiven historischen Moment, dessen genauer Ausgang nicht von vornherein feststand. Konkurrierende Optionen wurden durchdacht, verhandelt, von den Ereignissen überholt und manchmal auch wieder vergessen. Es stellt heutige Historiker vor eine große Herausforderung, diese Offenheit der Zukunft in den Augen der Zeitgenossen im Rückblick nicht zu dem oberflächlichen Eindruck zu verflachen, es hätte alles so kommen müssen, wie es kam.[5]

Auch wenn sie im Einzelfall friedlich ablaufen mochte, war Dekolonisation als Gesamtprozess eine gewaltsame Angelegenheit. Die Teilung Indiens 1947 (mit circa 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen die größte zeitlich komprimierte Zwangsmigration des 20. Jahrhunderts), der Algerienkrieg der Jahre 1954–62 und der Indochinakrieg von 1946–54 gehören zu den auffälligsten Gewaltereignissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf den indonesischen Inseln herrschte zwischen 1945 und 1949 ein blutiges Chaos.[6] In all diesen Fällen ist es fast unmöglich, genaue Opferzahlen zu nennen. Das Bild wird noch düsterer, wenn man den Koreakrieg (1950–53) und den Krieg zwischen den USA und dem vietnamesischen Nationalkommunismus (1964–1973) als Folgekriege von Dekolonisationen betrachtet und auch Bürgerkriege einbezieht, die unmittelbar oder kurz nach der Dekolonisation stattfanden (Kongo, Nigeria, Angola, Mosambik usw.). Die Konfrontation von Aufständischen und Kolonialmächten wurde teilweise mit großer Brutalität ausgetragen. In manchen Fällen, zum Beispiel Kenia, ist deren Ausmaß erst in den letzten Jahren bekannt geworden.[7] Einige andere Ereignisse, zum Beispiel die grausame (und erfolgreiche) Repression des Aufstandes im französischen Madagaskar 1947–49, sind aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu völlig verschwunden.[8]

Inzwischen ist die Dekolonisation abgeschlossen. Lebten noch 1938 schätzungsweise 644 Millionen Menschen in Ländern, die als Kolonien, Protektorate oder «abhängige Gebiete» (dependencies) deklariert wurden (die britischen Dominions nicht mitgerechnet), so registrieren die Vereinten Nationen heute nur noch 16 besiedelte «Territorien ohne Selbstregierung» mit insgesamt etwa 2 Millionen Einwohnern als «remaining to be decolonized».[9] Nicht alle dieser letzten kolonialen Untertanen, zum Beispiel die 29.000 Bewohner Gibraltars, verspüren einen starken Drang zu self-government.

Der Begriff der Dekolonisation hat sich noch während der großen Veränderung von den Illusionen der damaligen europäischen Akteure gelöst und eine weiter gefasste Bedeutung angenommen. Als knappes Etikett bezeichnet er, was der Historiker Dietmar Rothermund «vielleicht den wichtigsten historischen Prozess des 20. Jahrhunderts» genannt hat.[10]

Souveränität und Normenwandel


Der Untergang des Kolonialismus stellt sich aus anderer Perspektive als das Ende der europäischen Übersee-Imperien dar. «The end of Empire» ist deshalb ein in der englischsprachigen Literatur gebräuchliches Synonym für «Dekolonisation». Diese Redeweise macht deutlich, dass Dekolonisation nicht nur einen tiefen Einschnitt in der Geschichte ehemals kolonisierter Länder bedeutete, sondern auch mehr als eine Fußnote in der Geschichte Europas ist. Sie führte als «Europäisierung Europas» dazu, «dass Europa auf sich selbst zurückgeworfen wurde»,[11] veränderte die Stellung des Kontinents im internationalen Machtgefüge und stand in Wechselwirkung zur supranationalen Integration der europäischen Nationalstaaten, die mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 einen ersten Höhepunkt erreichte.

Überseereiche, in denen weißhäutige und christliche Europäer über (in der Regel) Nicht-Weiße und Nicht-Christen herrschten, waren seit der Zeit um 1500 allmählich aufgebaut worden, so gut wie nie systematisch geplant und meist durch das Zusammenspiel von vager Vision und improvisierender Nutzung von Chancen vorangetrieben.[12] Alle diese Reiche waren Flickenteppiche, keines war einheitlich durchorganisiert. Die außereuropäischen Territorien wurden in einer großen Fülle unterschiedlicher Rechtskonstruktionen den jeweiligen europäischen Metropolen als «Kolonien» untergeordnet. Die politische Idee des Nationalismus mit ihrem Ziel des unabhängigen Nationalstaates änderte im 19. Jahrhundert an den kolonialen Realitäten wenig. Nur im spanischsprachigen Süd- und Mittelamerika wurde ein großes Imperium durch eine Vielzahl unabhängiger Staaten ersetzt.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war das Britische Empire das einzige wahrhafte Welt-Reich, da es...

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