9 HOTSPOT: ZWISCHEN TOTEM MEER UND GOLANHÖHEN
Das Wochenende findet am Freitag und Samstag statt. Die Muslime treffen sich zum Freitagsgebet in der Freitagsmoschee. Noch vor Sonnenuntergang desselben Abends bereiten gläubige Juden den Sabbat vor und nehmen das Freitagsmahl ein. Am Tag darauf scheint Jerusalem in sich zu ruhen, die Stadt ist jetzt von einer ganz besonderen Spiritualität erfüllt. Dann stehen die großen Buslinien genauso still wie die von Juden betriebenen Taxen. Das öffentliche Leben kommt fast zum Erliegen. Auch der Supermarkt der Jerusalem Mall schließt zwischen freitags 14 Uhr und samstags 19 Uhr. Sonntag ist hier nur ein Feiertag der Christen. Dann allerdings ist der Supermarkt geöffnet.
Immerhin bietet die zeitversetzte religiöse Besinnung den Vorteil, dass immer irgendwo ein Restaurant, ein Café oder Taxistand mit Betreibern der jeweils anderen Glaubensrichtung geöffnet ist. Dennoch taten wir, was so mancher Israeli am Feiertag auch tut: Wir fuhren zum Baden ans Tote Meer.
Die Sonne ist bereits gesunken, als wir den kleinen Touristenort Neve Zohar am Südende des Toten Meeres erreichen. Aus den Glasfassaden der großen Hotels schimmert warmes Licht. Zweige von Dattelpalmen und Oleanderbüschen rascheln im Abendwind. Anders als in der Großstadt Jerusalem ist die Luft hier mild und verführerisch.
»Schließlich sind wir jetzt 400 Meter unter dem Meeresspiegel«, sagt Juliana. Auf den Straßen ist kaum Betrieb. Umso größer ist unsere Überraschung, als wir auf ein brandneues Wohnmobil mit deutschem Zollkennzeichen treffen. Meinen Gruß allerdings beantwortet der Fahrer auf Englisch. »Das ist schon unser drittes Womo«, meint er lächelnd, wobei er das gängige deutsche Kürzel für Wohnmobile benutzt.
Er heißt Chaim und war Kommandant einer israelischen Antiterroreinheit, bis er im Kampf schwer verwundet wurde und zudem ein Auge verlor. Das war vor achtzehn Jahren.
»Die Ärzte flickten mich wieder zusammen«, sagt er, doch dann habe man ihn in den Ruhestand verabschiedet. »Damals kaufte ich in Deutschland mein erstes Womo.« Dies hier sei brandneu; er komme mit ihm geradewegs aus Süddeutschland, deshalb trage es noch deutsche Kennzeichen.
»In ganz Israel gibt es nur sechzig Wohnmobile«, weiß Chaim. »Die Importzölle sind für Normalbürger astronomisch hoch und faktisch unerschwinglich.« Als im aktiven Dienst verwundeter Offizier sei er allerdings von Einfuhrzöllen befreit. »Daher«, er zeigt auf sein Fahrzeug, »kann ich mir dieses Hobby leisten.«
Wir schrecken zusammen, als unsere Zehenspitzen prüfen, ob das kalte Wasser des Toten Meeres dem Rest unserer Körper zugemutet werden könne. »Geht so …«, meint Juliana tapfer. Mit uns hat sich bereits frühmorgens ein Dutzend Hartgesottener am Strand von Neve Zohar eingefunden. Auch in Israel spürt man den Winter. Erst die Mittagssonne bringt Wärme, aber schon Stunden später wird man nach der Jacke greifen.
All das ist uns völlig egal, als wir die Zähne zusammenbeißen, uns rücklings aufs Wasser legen und vom extrem hohen Salzgehalt des Toten Meeres wie auf einem Wasserbett schaukeln lassen.
Abends flimmern am gegenüberliegenden Seeufer die Lichter Jordaniens. In ein, zwei Wochen werden wir dort sein.
Ich scharrte nicht ungeduldig mit den Hufen, niemand trieb uns. Wir genossen unsere Freiheit. Das Klima hier war großartig; die Nächte erfrischend, und tagsüber konnte man mit ein paar wärmenden Sonnenstrahlen rechnen. Dies moderate, trockene Winterklima der Nordhalbkugel würde uns bis Äthiopien begleiten. Danach käme die Hitze. Südlich des Äquators rechnete ich mit einem Wechsel von der Trocken- zur Regenzeit. Irgendwo würde uns die wet season erwischen, aber darüber zerbrach ich mir jetzt nicht den Kopf.
Die zeitlich begrenzten Visa für den Sudan und Äthiopien mussten wir allerdings im Auge behalten. Ihre Gültigkeit bestimmte bis zu einem gewissen Grad unser Reisetempo. Für die südlich vom Äquator gelegenen Länder würden wir die Visa vor Ort einholen.
Eine der landschaftlich reizvollsten Routen führt von Neve Zohar am Ufer des Toten Meeres entlang nach Norden. Rotbraune Felsen säumten die Straße, trockene Flussbetten mit wie von Riesenhand durcheinandergewirbelten Felsbrocken verrieten, welch ungeheure Kraft das Wasser aus den Bergen zur Regenzeit hat. Davon spürten wir jetzt nichts. Selbst der Südzipfel des Toten Meeres ist hier nahezu wasserlos. Weiße Salzflächen flimmerten im Mittagslicht.
Hier begann unser Abstecher nach Masada.
Wir parkten Thunder auf dem öffentlichen Parkplatz, zahlten einen Obolus für den Eintritt, lasen das Schild Welcome to Masada National Park und marschierten los. Die Luft war kühl. Vor allem beeindruckten uns die Ruinen des Herodespalastes, der einst wie ein Schwalbennest am Berghang klebte. Unter uns leuchtete das wüstenhaft karge Land in blassem Rotbraun, ein starker Kontrast zu dem Blau des Toten Meeres. Die Pflanzen waren hier eher blassgelb als grün. Und Leben schien es sowieso nur an den Rändern der kleinen Trockenflüsse zu geben, in denen jetzt aber kein Tropfen Wasser war.
Natürlich hätten wir die Seilbahn benutzen können. Doch wir wollten uns Schritt für Schritt jenem von Mythen, Legenden und früher Geschichtsschreibung umwobenen Plateau nähern, auf dem im Jahr 73 unserer Zeitrechnung Juden sich dem erdrückenden Ansturm des römischen Heeres widersetzt hatten. Bis die von König Herodes gebaute Festung Masada nicht mehr zu halten war … Als ihre Mauern unter dem Ansturm von 15 000 römischen Legionären einstürzten, zogen die letzten 960 Frauen, Männer und Kinder Masadas den kollektiven Selbstmord der Kapitulation vor. Zwei Frauen und fünf Kinder überlebten in einem Versteck, sie waren die einzigen Zeugen des letzten Aufbäumens des jüdischen Volkes. Fast 2000 Jahre lang war es danach in alle Welt verstreut. Als ab dem Ende des 19. Jahrhunderts die Rückkehr begann, wurde der Slogan »Masada darf nie wieder fallen« zum nationalen Identifikationsfaktor. Jahrelang schworen israelische Soldaten auf Masada den Fahneneid.
In Israel ist es unmöglich, den Spuren einer gleichermaßen weltbekannten wie weltbewegenden Geschichte auszuweichen. Das spüren wir zwei Tage später im Bus Nummer 24 auf dem Weg von Jerusalem nach Bethlehem.
Bei großzügiger Betrachtung geht Bethlehem als südlicher Vorort von Jerusalem durch. In rund einer halben Stunde könnte man die »Hauptstadt von Weihnachten« mit dem Bus von der Old City aus erreichen.
Könnte …! Die Realität sieht anders aus.
Nummer 24 stoppt vor einer riesigen Betonwand. Nur eine Handvoll Menschen entsteigt dem Minibus. Auch wir.
Dabei wollte ich nie wieder solch traumatisierende Erlebnisse haben wie vor über dreißig Jahren, als wir am DDR-Checkpoint Marienborn in die kalten Mechanismen des DDR-Grenzabfertigungsbollwerks gerieten. Aber an der drei Stockwerke hohen »Bethlehemmauer«, doppelt so hoch wie die weltweit geschmähte Berlin Wall, fühle ich eine ähnliche Beklemmung wie damals.
Wachtürme und Drehkreuze, durch die wir uns zwängen, gittergesäumte Gänge, auf denen man niemanden sieht, aber man weiß, dass man observiert wird. Labyrinthe. Für Israel ist dies der Schutzwall gegen palästinensischen Bombenterror. In den Augen der Palästinenser zementiert Israel so den Status quo der 1967 eroberten Gebiete. Schafft unumkehrbare Fakten, um die Kriegsbeute von damals zu sichern. Wenn die Mauer fertig ist, wird sie über 700 Kilometer lang sein.
Endlich sind wir am anderen Ende angekommen: Uns, die beiden Europäer, kontrolliert man unbürokratisch. Wir sind in Palästina.
Hilfreiche Menschen weisen uns den Weg. Postkartenverkäufer und Taxifahrer wollen gestenreich mit uns ins Geschäft kommen.
»Die Mauer von Bethlehem schnürt einer ganzen Stadt die Luft zum Atmen ab und hält Besucher fern«, sagen die Menschen.
So wären Maria und Josef nie nach Bethlehem durchgekommen …
Ein Taxifahrer fährt uns für umgerechnet zwei Euro zur Geburtskirche am Rande des Manger Square. Auf einmal sind wir in einer eigentümlich friedfertig wirkenden Welt. Ich lese auf dem Straßenschild: Jerusalem: 8,57 km. Eine lächerliche Distanz, wäre da nicht diese Mauer …
Über der Kilometerangabe baumelt eine Tafel des Tourismusministeriums mit der Aufschrift: Welcome to Bethlehem – Pray for the freedom of Palestine.
An der Fassade der Omarmoschee hängt das meterhohe Bild des verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat. Ich sehe Kirchtürme neben schlanken Minaretten. Straßenhändler verkaufen aus silbernen Karaffen Kaffee, viele Stühle der kleinen Straßencafés aber sind leer. Die Gäste bleiben aus.
Bethlehem, die »Hauptstadt von Weihnachten« wird durch eine riesige »Schutzmauer« von Israel getrennt
Wir ziehen den Kopf ein, um durch das 1,25 Meter hohe Tor der Demut in die Geburtskirche eintreten zu können. Als junger Mann trug ich an Heiligabend die Weihnachtsgeschichte in unserer Kirche vor. Jetzt stehe ich in der Geburtsgrotte, wo jene Geschichte begann. Eine Nonne presst ihre Stirn auf die Stelle, an der Jesus geboren wurde. Weihnachten, das Fest der Nächstenliebe, aber hat seinen Ursprung an einem Ort, der heute durch eine Betonmauer abgeschottet wird, die höher ist als die von Gefängnissen.
»Sie muss verschwinden!«, schimpft Taxifahrer Ahmed, der uns zum Checkpoint zurückbringt.
»So wie die Berliner Mauer!«, sage ich.
»Inschallah! So Gott will!«, entgegnet Ahmed. Dann schluckt uns...