Stärken suchen
Wir können nicht verhindern,
dass die Vögel der Sorgen um unseren Kopf kreisen,
aber wir können verhindern,
dass sie Nester in unseren Haaren bauen.
Chinesisches Sprichwort
Manchmal erscheint es uns so, als wären andere Menschen von der Natur mit allen positiven Eigenschaften und Lebenseinstellungen beschenkt. Ihnen gelingt einfach alles oder zumindest erscheint es Ihnen und anderen so. Niederlagen verkraften sie fast mühelos und ihre gute Laune wirkt ansteckend. Beneidenswerte Glückskinder, wie es scheint. Dabei lassen wir uns nur allzu oft von den schauspielerischen Fähigkeiten unserer Mitmenschen täuschen, die bloß nicht als Sauertopf gelten wollen. Bruno war es letztlich schon fast egal, wie gemütlich sich die Vögel der Sorgen in seinen Haaren eingenistet hatten, und machte auch keinen Hehl daraus. Dagegen hatte Klaus über die Sorgenvögel auf seinem Haupt das Tarnkäppchen des materiellen Wohlstands als Ersatzglück übergestülpt und die Tarnung bevorzugt.
Aber gibt es sie wirklich, die natürliche Veranlagung zur Frohnatur? Sicher gibt es günstige Veranlagungen, zum Beispiel im Hinblick auf Zuversicht, Mut, Gelassenheit oder soziale Aufgeschlossenheit. So stimmen die Grundhaltungen von getrennt aufgewachsenen, eineiigen Zwillingen eher überein als die von zweieiigen Zwillingen. Allerdings haben die genetischen Vorgaben nach Sonja Lyubormirsky von der Riverside University in Kalifornien höchstens 50 Prozent Einfluss auf unser tatsächliches Verhalten. Am Horizont des aktuellen Wissenstandes in den Neurowissenschaften überraschen diese Ergebnisse aus der Zwillingsforschung kaum noch. Erkenntnisse aus dem relativ jungen Forschungsbereich der Epigenetik weisen auf die Veränderbarkeit von Erbanlagen durch bestimmte Verhaltensweisen hin. Ebenso wurde der wissenschaftliche Nachweis erbracht, dass die Strukturen in unserem Gehirn, die neuronalen Netze, von dem, was wir tun oder lassen, maßgeblich geprägt werden. Vielleicht werden Sie jetzt einwenden, dass es aber Ereignisse gibt, die schicksalhaft sind und jemanden aus der Bahn werfen können. Zum Glück lässt aber das Schicksal uns Menschen dank unserer Anpassungsfähigkeit eine größere Chance als gedacht. Der Einfluss von günstigen oder ungünstigen Ereignissen auf unsere Lebenseinstellungen und damit indirekt auf unser Wohlbefinden beträgt gerade mal 10 Prozent. Selbst ein Lottogewinn macht uns deshalb leider nur für kurze Zeit glücklich, aber umgekehrt können uns dafür auch die körperlichen Folgen eines Unfalls psychisch weniger anhaben, als vielleicht zu vermuten wäre. Die gute Nachricht zum Schluss: Es bleiben uns also mindestens noch 40 Prozent Gestaltungsspielraum oder, besser gesagt, Verhaltensspielraum, um gute Voraussetzungen für Lebensfreude zu schaffen.
Dabei helfen uns der sogenannte gesunde Menschenverstand und die Lebenskompetenz, insbesondere, wenn es um die Wahrnehmung und Schaffung von Rahmenbedingungen für unsere Lebenszufriedenheit geht. Wir wissen, spätestens nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, dass Freiheit und Sicherheit existenzielle staatliche Grundlagen für Lebenszufriedenheit sind und wir als mündige Bürger alles dafür tun müssen, um sie zu erhalten. Wir wissen auch um die Notwendigkeit von guten Ausbildungen und Abschlüssen für die Ausübung unseres Berufes. Ebenso klar ist, dass wir zumindest finanzielle Vorsorge für die berechenbaren und unberechenbaren Ereignisse des Lebens treffen sollten. Nun geht es aber nicht nur darum, das Leben verstandesmäßig irgendwie zu meistern, zu schultern, sondern bei diesem Schaffen Freude und Lust zu erleben. Inwieweit dies gelingt, hängt vor allem davon ab, welche Erfahrungen wir bei unserem Tun oder Lassen und in der Begegnung mit unseren Mitmenschen machen und schon gemacht haben und welche Stimmungen dabei entstanden sind. Wenn wir uns wohlfühlen, dann suchen wir die Wiederholung, dann gelingt es uns leicht, uns zu motivieren. Umgekehrt führt das Unwohlsein beim Erleben eher zur Vermeidung von bestimmten Handlungen oder Begegnungen. Durch die im Lauf unseres Lebens gemachten emotionalen Erfahrungen und unsere individuellen Bewältigungsstrategien bilden sich so unverwechselbare charakterliche Eigenschaften und Stärken heraus.
Es lohnt sich im Sinne einer Stärkung unserer Ressourcen, uns anzusehen, was unsere ganz persönlichen Eigenschaften sind und über welche inneren Stärken wir verfügen. Das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen entsteht durch intakte Beziehungen zu liebevollen Menschen. Die Forschungsergebnisse aus der Entwicklungspsychologie, insbesondere der Bindungstheorie, zeigen, wie bestimmend dabei die Kontaktgestaltung durch unsere frühen Bezugspersonen ist. Gleichzeitig ist es aber nie zu spät, unsere Beziehungen gelingend zu gestalten. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das geht aber nur mit den Stärken Engagement, Zuversicht und Selbstvertrauen. Dazu gehören außerdem noch persönliche Schutzfaktoren, die verhindern, dass wir bei jeder Krise in Katastrophenstimmung verfallen. Vielmehr dürfen wir sie als Herausforderung begreifen. Wir können das Leben als komplexes Gebilde annehmen, das eine Fülle von Ereignissen bereithält, die es zu verstehen gilt. Wir sind eingeladen, unsere Eigenverantwortlichkeit als eine befreiende Entdeckung zu feiern.
Dass Stärken und Wohlbefinden zusammengehören, haben wir von den alten Griechen gelernt. In Platons Katalog finden wir sie als Tugenden wie Weisheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Mut. Zusammen mit den drei christlichen Tugenden, Glaube, Liebe, Hoffnung, sind so die sieben Kardinaltugenden entstanden. Tugenden sind Fähigkeiten, die im Innern des Menschen ruhen und mit denen er versucht, das Gute im Leben zu erreichen, also für ihn wichtige Werte zu verfolgen. Das Wort Tugend kommt von dem Wort »taugen«. Tugendhaftigkeit heißt im Lateinischen »virtus« und dies kommt ursprünglich von dem Wort »vir«, das »der Mann« bedeutet. Der Mann, genauer gesagt »der Krieger«, sollte damals vor allem Träger von Tugenden sein. Tugenden werden heute im Allgemeinen mit dem Besitz positiver Charaktereigenschaften in Verbindung gebracht.
Das Anknüpfen an die alten Tugenden wie Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß will ich hier einmal ausklammern, denn diese preußischen Tugenden muten vielleicht etwas altmodisch an, haben aber durchaus auch einen modernen wissenschaftlichen Bezug. Peterson und Seligman haben in Anlehnung an die sieben erwähnten Kardinaltugenden sechs Tugenden zur Klassifizierung von persönlichen Charakterstärken benannt. Sie unterscheiden Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz und haben diesen Tugenden passende Charakterstärken zugeordnet. So gehören ihrer Meinung nach zu Weisheit und Wissen auch Neugier, Kreativität, Urteilsvermögen, Liebe zum Lernen und die Weitsicht. Dem Mut ordnen sie Tapferkeit, Ausdauer, Authentizität und Enthusiasmus zu. Mit Menschlichkeit verbinden sie Freundlichkeit, Bindungsfähigkeit, Soziale Intelligenz. Zur Gerechtigkeit zählen sie Teamwork, Fairness und Führungsvermögen. Die Tugend der Mäßigung umfasst Bescheidenheit, Vergebungsbereitschaft, Vorsicht und Selbstregulation. Ein Sinn für das Schöne, die Dankbarkeit, die Hoffnung, den Humor und die Religiosität werden der Tugend Transzendenz zugeordnet. Um die Schlüsselstärken der Probanden zu ermitteln, untersuchten Peterson und Seligman die innere Aufgeregtheit, die Lernbereitschaft und die Motivation der Teilnehmer, als es darum ging, die Stärken tatsächlich einzusetzen. In mehreren Studien konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung der 24 Stärken und der Lebenszufriedenheit gibt.
Eine Studie des VIA Institute on Character ergab, dass vor allem die Schlüsselstärken Dankbarkeit, Hoffnung, Optimismus, Enthusiasmus, Lebensfreude, Neugier, Bindungsfähigkeit und die Fähigkeit zu lieben besonders viel zur Lebenszufriedenheit beitragen. Die Persönlichkeitspsychologen der Züricher Universität (ETH) entwickelten deshalb auf dieser Grundlage ein Trainingsprogramm zur Förderung von Schlüsselstärken. Nach Willibald Ruch kommt es im Wesentlichen darauf an, sich seiner Stärken bewusst zu werden und diese auszuweiten. Diejenigen, die schon stark ausgeprägt sind, dürfen wohltuend ausgelebt werden, während die weniger ausgeprägten guten Charaktereigenschaften trainiert werden sollten. Mittlerweile gibt es Hinweise, dass das Training Wirkung zeigt und tatsächlich zufriedener macht. So könnte der wissenschaftlich neugierige Lehrer, der an seiner Authentizität arbeitet und sich nicht hinter einer Maske des Allwissenden verbergen muss, mit seiner Echtheit nicht nur die Schüler besser motivieren, sondern auch mehr Freude am Beruf empfinden.
Die gute Nachricht der modernen Charakterforschung ist also, dass die Förderung und intensive Nutzung der eigenen Stärken auch früher oder später zu einer positiven Veränderung der Lebensbedingungen führen: Sie wollen beispielsweise mehr Verantwortung im Beruf übernehmen, neue Freunde und Bekannte finden oder vielleicht ein neues Hobby entdecken. Um nun selbst herauszufinden, welche Stärken schwächer und welche stärker bei Ihnen ausgeprägt sind, findet sich im Internet auf der Website www.charakterstaerken.org von Willibald Ruch ein Katalog von 240 Fragen, mit dem Sie die drei bis sieben besonders stark ausgeprägten Stärken herausfinden. Diese sogenannten Schlüsselstärken, auch Signaturstärken genannt, sollen Ihnen Aufschluss über sich selbst geben: »Das bin wirklich ich.«
Ich...