Wer träumt, hat mehr vom Leben
Eine Einladung
Es interessiert mich nicht, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.
Ich möchte wissen, wonach du innerlich schreist
und ob du zu träumen wagst, der Sehnsucht deines Herzens
zu begegnen.
Es interessiert mich nicht, wie alt du bist.
Ich will wissen, ob du es riskierst, wie ein Narr auszusehen,
um deiner Liebe willen, um deiner Träume willen
und für das Abenteuer des Lebendigseins.
Es interessiert mich nicht, welche Planeten im Quadrat zu
deinem Mond stehen.
Ich will wissen, ob du den tiefsten Punkt deines eigenen Leids
berührt hast,
ob du geöffnet worden bist von all dem Verrat,
oder ob du zusammengezogen und verschlossen bist aus Angst vor weiterer Qual.
Ich will wissen, ob du mit dem Schmerz dasitzen kannst,
ohne zu versuchen, ihn zu verbergen oder zu mindern oder
ihn zu beseitigen.
Ich will wissen, ob du mit Freude dasitzen kannst,
ob du mit Wildheit tanzen und dich von der Ekstase erfüllen
lassen kannst,
von den Fingerspitzen bis zu den Zehenspitzen,
ohne dich zur Vorsicht zu gemahnen, zur Vernunft
und ohne die Grenzen des Menschseins zu bedenken.
Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die du erzählst, wahr ist.
Ich will wissen, ob du jemand enttäuschen kannst, um dir selbst treu zu sein.
Ob du den Vorwurf des Verrats ertragen kannst
und nicht deine eigene Seele verrätst.
Ich will wissen, ob du vertrauensvoll sein kannst
und von daher vertrauenswürdig.
Ich will wissen, ob du mit dem Scheitern leben kannst
und trotzdem am Rande des Sees stehen bleibst
und zu dem Silber des Mondes rufst: »Ja!«
Es interessiert mich nicht zu erfahren, wo du lebst und wie viel
Geld du hast.
Ich will wissen, ob du in der Mitte des Feuers stehen wirst
und nicht zurückschreckst.
Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du gelernt hast.
Ich will wissen, was dich von innen hält, wenn sonst alles wegfällt.
Oriah Mountain Dreamer,
indianischer Stammesältester
Träumen kann jeder Mensch. Von seinem eigenen Leben, dem in einer besseren Welt oder nach dem Tod. Vom Leben allein, vom Familienleben oder von einem Arbeitsleben mit sinnerfülltem Broterwerb für lebendige Menschen, die davon auch noch leben können. Damit hat der Mensch lebenslang zu tun. Träumen kann jeder. Vom guten Wetter, der großen Liebe, einem stressfreien Leben, von ewiger Gesundheit, pflegeleichten Kindern, sozialer Gerechtigkeit oder von den Sternen, die der Mensch vom Himmel holt, um sie an seine Liebsten zu verschenken.
Von einem Leben in Frieden und Freiheit für alle Menschen dieser Welt träumt es sich schon schwieriger. Es ist wichtig, für seine Träume einige Kämpfe durchzustehen. Nicht als Opfer, sondern als aufrechte Streiterin, als jemand, für den das Abenteuer des Lebens nicht als Reklame für eine Zigarettenmarke, sondern gerade bei den Menschen endet, die das Träumen aus vielen Gründen aufgegeben haben. Der Traum von einem Leben, das zur großen Liebe und treuen Freundschaft des Menschen mit sich selbst und seinem Leben führt, ist niemals aussichtslos. Nur haben viele Menschen noch gar nicht gewagt, ihn zu träumen. Er gehört zu dem tiefen Geheimnis, das im Leben selbst verborgen und nur in der Begegnung mit ihm zu entdecken ist.
Träumen kann jeder. Vom Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, wie Albert Schweitzer den Willen zum Leben und das Lebensmotiv aller Lebewesen beschreibt. Um diesen Willen zum Leben und seinen Ursprung, von dem der Mensch mit seiner Geburt und mit seinem Leben Zeugnis ablegt, geht es in diesem Buch. Es geht um einen »göttlichen Funken«, der ein Leben lang Feuer entfachen kann, um die bewussten und unbewussten Tag- und Nachtträume, in denen Menschen die Möglichkeiten des Lebens entdecken und durchspielen, sich um ihre Verwirklichung bemühen und die Nichterfüllung ihrer Träume anzunehmen und auszuhalten versuchen.
Wer den Traum von einem Leben in eigener Hand verwirklichen will, muss sich auf den Weg vom kleinen Überraschungsei zur eigenen Biografie machen, sich mit sich selbst und seinem konkreten Leben anfreunden, um mit beiden durch dick und dünn zu gehen, wie es sich für gute Freunde und Freundinnen gehört. Der Träumer, der sich mit und in seinem Leben verwirklichen will, muss sich selbst überraschen und für jede andere Überraschung gut genug sein. Er nutzt die Pläne der Realität, die auf ihn zukommen und ihn abholen, und die Zufälle, die ihm andere Möglichkeiten zuspielen oder die verwirklichten Pläne wieder aus der Hand nehmen. »Träume knüpfen Zusammenhänge und lösen sie auf, formen Konstellationen und verwirren sie, bringen das Selbst auf eine Idee oder warnen es vor drohenden Gefahren.« (Wilhelm Schmid)
Dass sich die Erde doch bewegt und mit ihr die Bewohner des Planeten in Turbulenzen geraten, wird in der Begegnung mit dem Leben zur existenziellen Erfahrung! Die Vernunft des Lebens, das leben will, zieht Konsequenzen und ermutigt den Menschen, im menschlichen Maß inkonsequent zu sein. Sie hat eine Meinung und hofft, dass Menschen ihre Meinungen ändern, wenn andere Menschen dabei nicht zu Schaden kommen. Was die anderen denken, ist der lebendigen Vernunft gleichgültig, sie denken sich ohnehin, was sie wollen. Der Mensch ist kein logisches, sondern ein lebendiges, einzigartiges Beispiel des Lebens, dessen Lebensvernunft nicht bei der Frage endet, ob die Socken zur Krawatte passen, die Kinder, Kranken und alten Menschen satt, sauber und still sind oder wie er morgen noch die Meinung von gestern vertreten kann.
Wer träumt, hat mehr vom Leben. Er investiert, was in ihm steckt, arbeitet in den Nächten für den nächsten Tag. Lebensträume stehen nicht links oder rechts, sondern quer zum Leben. Sie sind die Hürden, die sich uns auf den routinierten Wegen durchs Leben entgegenstellen, und Wegweiser in ein unbekanntes Land. Die großen und die kleinen, die individuellen wie die kollektiven Träume warten auf Menschen, die sie verstehen lernen und verwirklichen wollen, die dem Leben mit ihren Ideen, Talenten und Ressourcen beispringen, um daraus ihr eigenes Leben zu gestalten. Sie warten auf Kinder und Menschen jeden Alters, auf Frauen und Männer, auf die Erfolgreichen und die Enttäuschten, auf die Kriegsführer und Friedensstifter in allen Bereichen des Lebens und vor allem auf die, die Leben entfalten, unterstützen und ihm dienen wollen, statt Leben mit einem Selbstbedienungsladen zu verwechseln.
Zu meinen persönlichen unerfüllten Wunschträumen gehört ein Schweigemarsch der politischen, wissenschaftlichen und auf andere Weise überheblichen Redner mit den Machtworten über das Leben der anderen, über das richtige und falsche Leben, über die Vaterlandsliebe, für die man sein Leben lassen soll, über die Erziehung und Bildung der Kinder, ohne deren soziale Hintergründe zu berücksichtigen, über die Leistungsstärke, die ohne Gefühle oder Wunden auskommt, über die wirtschaftlichen Sonnenseiten des Lebens, die dem Verschweigen der Schattenseiten ihr Strahlen verdanken. »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.« (Viktor von Weizsäcker)
Als fragende und lernende Menschen müssen wir praktisch werden. Auch wenn wir mehr an unsere Modelle vom Leben als an das Leben selbst, mehr an die Menschenbilder als an den Menschen selbst, mehr an feste Gesellschaftsbilder als an gesellschaftlichen Wandel glauben, wissen wir längst, dass Politik, Wissenschaft und Erkenntnis nicht am Anfang des Lebens stehen, sondern hilfreich für die Unterstützung und Förderung von Lebensprozessen nur dann sind, wenn ihre Fragen mitten im Leben, das heißt in der Begegnung mit dem Leben anfangen. Was das biologische Überraschungsei auf der Reise zur eigenen Biografie trägt, schützt und vorantreibt, ist genau dieses Fragen mitten im Leben. Nur so kann der Mensch die ungeheure und umwälzende Kraft der Liebe, des Glaubens und Vertrauens wie der begründeten Hoffnung auf Zukunft erfahren und die Schmerzen aushalten lernen, die mit dem drohenden Verlust dieser jedem Menschen innewohnenden Kräfte verbunden sind. Damit dies kein unerfüllter Traum bleibt, dazu möchte dieses Buch auch beitragen.
Warum werden wir geboren? Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Diese Fragen bewegen und beunruhigen die Menschen, seit sie die Erde bevölkern, und ihr Wohlbefinden hängt maßgeblich davon ab, ob sie befriedigende Antworten darauf finden. Werden diese Fragen verdrängt oder bleiben sie gänzlich unbeantwortet, so legt sich ein dunkler Schatten auf die Seele, weil ihre »religiöse Urfunktion« (C. G. Jung) nicht befriedigt wird. Viele von uns fühlen sich über längere Zeiträume und manchmal...