MEINE SITUATION
MIT FRAGEN UNTERWEGS
Haben wir eine Chance, uns selbst immer wieder neu zu entdecken, zu entfalten und zu entwickeln – auch wenn wir älter sind? Machen wir Pause im hektischen Getriebe unserer Zeit und lauschen den leisen Tönen unserer inneren Stimme? Eine Stimme, die uns vielleicht sagt, dass wir noch etwas ganz anderes leben wollen? Etwas, das mit unseren Bedürfnissen und Gefühlen mehr im Einklang ist als das, was jetzt unser Leben bestimmt? Haben wir Vertrauen, uns in eine Suchbewegung nach dem »Noch-etwas-ganz-anderes-leben-Wollen« einzulassen?
Mit diesen Fragen begann ich mich vor fünf Jahren intensiv auseinanderzusetzen. Beantwortet habe ich sie nicht selbst allein, sondern auch das Leben gab die Antwort. Es hat mich neue Lebenswelten entdecken lassen, die gleichzeitig alt und vertraut waren. Mein Unterwegssein hat mich zu Orten geführt, die mir eine neue Form der Balance zwischen Außen- und Innenwelt geschenkt haben. Und einen neuen Zugang zu mir selbst und zu anderen Menschen. Dies hat mich nicht nur um Wirkungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten reicher gemacht, sondern in mir ein anderes Selbstbewusstsein und Vertrauen, eine andere Zuversicht und Offenheit entstehen lassen. Entstanden nach Zeiten von tiefer Verunsicherung, Angst und auch Panik, durch die ich gegangen bin. Zeiten, in denen ich erfuhr, welche Bedeutung »Schatten« in meinem Leben haben. Und welche überraschenden Perspektiven und neue Entwicklungen mir mein Leben schenkt – doch darüber wird später zu berichten sein. So staune ich, dass ich mich von einer gejagten – und sich selbst jagenden – Menschenrechtspolitikerin zu einer Malerin entwickelt habe. Staune, dass öffentliche Anerkennung und Resonanz auf mein bisheriges Tun mich nicht dazu verleitet haben, »mehr vom Gleichen« zu wollen, mich also nicht von meiner Reise ins Unbekannte abgehalten haben. Ich hätte meine eingetretenen erfolgreichen Pfade munter weiterbegehen können, was zweifellos seinen narzisstischen Reiz gehabt hätte. Ermunterung dazu hatte ich genug. So hieß es in einem Dokument eines UN-Berichterstatters zur Generalversammlung 2007, dass die EU-Agentur, die ich damals leitete, bemerkenswert geführt wurde. »Das ist doch etwas«, sagte der kleine Pfau in mir und schwellte stolz seine Brust, ergriffen von der eigenen Bedeutung. Aber das war vor sechs Jahren. Wo bin ich heute?
Wo ich heute bin: Meine Bilder verändern mich
Malerei ist zum Mittelpunkt meines Lebens geworden und hat mich neue Kontinente entdecken lassen. Es gibt nichts, bei dem ich so im Einklang mit mir selbst bin, Zeit und Raum vergesse, alles fließen lasse, wie während meines Gesprächs mit meiner Leinwand und meinen Farben. Die Leere der Fläche und die unendlichen Möglichkeiten an Farbnuancen geben mir Raum, mich zu versenken. Versenken nicht nur in den kreativen Akt des Malens, sondern auch in Lebensthemen, die ich mit meinen Farben berühre: die unerfüllbare Sehnsucht »anzukommen«, »Ja« zu mir selbst und zu meinem Leben zu sagen, meine Lust am Leben zu spüren, aber auch Gefühle von Einsamkeit und Angst, Verlassenheit und Verlorenheit zu berühren. Es sind Fragen, zu denen meine Bilder mir Anregungen geben. Fragen, die mich zu neuen Fragen führen.
Dieser Entstehungsprozess meiner Bilder hatte sich einige Jahre zuvor entwickelt, als ich mich mit Malerei intensiv auseinandersetzte. Ich suchte auch nach Möglichkeiten, ein Gegengewicht zu meiner kopf- und rollengesteuerten Welt zu entwickeln. Meine Offenheit machte mir ein überraschendes Geschenk: meine Bilder gaben mir erstaunliche Antworten. So malte ich kurz vor Ablauf meines Vertrages mit der Agentur im Jahr 2006 den Zyklus »Wo will ich hin?«. Beim Malen fragte ich mich auch, was ich in meinem beruflichen Leben noch bewirken wolle. Im Dialog zwischen meiner Leinwand und meiner inneren Wahrnehmung, dem Einbeziehen von malerischen Prozessen, die ich nur begrenzt steuern konnte, der Tiefe und Leichtigkeit von Bewegungen, gewann ich größere Klarheit zu meiner Lebensfrage. Es war und ist die Poesie, zu der es mich hinzog, die mir einen anderen Zugang zu meinem Leben und zur Sinnlichkeit schenkte. Dieser Sehnsucht nach dem Leichten und Spielerischen konnte ich mich aber in meiner Rolle als Direktorin nicht nähern. Das Ergebnis lag auf der Hand: Ich bewarb mich nicht noch einmal auf diese Position.
Die Malerei schenkt mir eine Öffnung in tiefere, manchmal kaum fassbare Dimensionen und einen anderen Zugang zu meinem Leben. Dass dieser neue Freiraum mir dann noch eine unerwartete Resonanz schenkt, freut mich von Kopf bis Fuß. Mein Gemüt ist nun einmal jederzeit bereit, Huldigungen in unbeschränkter Form entgegenzunehmen – trotz allen Wissens, dass das Gefühl der persönlichen Erfüllung von Anerkennung durch andere unabhängig ist. So leuchteten meine Augen und glühten meine Ohren, als ich bei der Eröffnung meiner ersten Ausstellung die Worte des Museumsdirektors hörte: »Sie schafft es, eine Balance zu finden, in der unsere unterschiedlichen Erfahrungen aufgehoben sind. Ihre Bilder bergen in sich, was wir uns von der Kunst erwünschen: Die Sehnsucht nach einem Weg in das Freie, ins Unendliche.« Die Sehnsucht nach »etwas anderem« war der Preis, den ich für faszinierende und erfüllende, aber auch sehr schwierige und belastende Aufgaben gezahlt hatte. Es waren Aufgaben im internationalen Menschenrechtsbereich, die vor fünf Jahren von einem Tag zum anderen weggefallen waren. Ich beschreibe sie, um das Ausmaß meines Veränderungsprozesses zu vermitteln. Skizzenhaft umreiße ich sie aber auch, weil ich durch sie Fähigkeiten entwickeln konnte, die mich später bei meinem eigenen Veränderungsprozess unterstützt haben: mit Konflikten und Widerständen kreativ umzugehen, Widersprüche zu leben, Krisen in Chancen umzuformen, Perspektiven zu wechseln und tragfähige soziale Beziehungen – Netzwerke – aufzubauen.
Woher ich komme: Sisyphos war dabei
Herausfordernde berufliche Jahre lagen hinter mir. Ich hatte als erste Frau in der Geschichte der EU eine unabhängige Agentur aufgebaut und sie neun Jahre über alle Stürme und Krisen hinweg geleitet – die frühere Europäische Beobachtungsstelle von Rassismus und jetzige EU-Grundrechtsagentur. Dies hieß Aufbau der Organisation von null an. Die Agentur beschäftigte sich zudem mit einer der komplexesten und umstrittensten Fragen unserer Zeit: dem Umgang mit kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in den damals 15 und jetzt 28 EU-Mitgliedstaaten. Unsere Aufgabe war es vor allem, Daten zur Situation von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in allen EU-Mitgliedstaaten zu sammeln und zu analysieren, Strategien zu entwickeln und unterschiedliche Netzwerke zur Information und Zusammenarbeit zu betreiben. Die gewonnenen Erkenntnisse stellten wir Politik, Gesellschaft und Medien vor allem in Veröffentlichungen, Konferenzen und Runden Tischen zur Verfügung.
EU-Direktorin: Im Zentrum von Konflikten
Die Arbeit in der Agentur schenkte mir eine Intensivausbildung im Umgang mit Komplexität, Widersprüchlichkeit und Konflikten. Gut zu gebrauchen in Krisensituationen. Neben allen positiven und faszinierenden Herausforderungen befand ich mich fast ständig auch in internen Konfliktsituationen: Es gab eine Fülle von tiefgreifenden Spannungen, die typisch für internationale Einrichtungen sind. Im Wesentlichen hatten sie ihren Grund in vielen interkulturellen Missverständnissen. Was für einen Griechen eine Beleidigung war, konnte für einen Briten normales Verhalten sein. Besprechbar waren diese Probleme jedoch kaum, weil fast jeder sich für so weltoffen hielt, dass das Interkulturelle eigentlich keine Rolle spielen durfte. »Wir sind doch so international, damit können wir doch keine Probleme haben«, bekam ich oft zu hören, wenn ich dieses Thema ansprechen wollte.
Verunsicherung gab es auch auf anderem Terrain. Beim Thema »Islam« bewegten wir uns im Minenfeld politischer und gesellschaftlicher Kontroversen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten und gleichzeitig im Spannungsfeld zu den muslimischen Staaten. Wenn es um das Thema »Antisemitismus« ging, verhielt es sich ähnlich. Nur befanden wir uns dieses Mal im Konfliktbereich USA, Israel und Europäische Union. Jeder Bericht, den wir veröffentlichten, hatte daher das Potenzial eines kleinen Sprengsatzes – nicht gerade eine geeignete Pille für entspannten Schlaf. Vieles habe ich dabei gelernt, was ich lernen wollte: interkulturelle Kompetenz und Umgang mit Komplexität, Management und internationale Zusammenarbeit. Manches habe ich auch gelernt, was ich nicht lernen wollte: den Umgang mit Intrigen und Gerüchten, gnadenloser Konkurrenz und Freigegeben-Sein zum öffentlichen Abschuss und einiges mehr. Doch bei allen negativen Aspekten überwog immer die positive Motivation: In der »Werkstatt Europa« mitwirken zu können, in der gerade der Umgang mit Vielfalt und Widersprüchlichkeit das Faszinierende ist. Erlebt habe ich es besonders in der Zusammenarbeit mit internationalen Teams, die sich gerade durch ihre Unterschiedlichkeit ergänzen und letztendlich doch gut funktionieren – über alle kulturellen Konflikte hinweg. Meine tägliche Erfahrung war, dass Europa ein nicht vollendeter Prozess und stets im Wandel ist. In der Agentur spiegelte sich Europa wie in einer kleinen »Nussschale« wider und wollte von unserem Team ständig neu gefunden werden. Diese Erfahrungen brachte ich in den Think Tank des Präsidenten der Europäischen Kommission ein. Für die Zeit danach hatte ich Zusagen für eine Professur in Brügge und ein Buchprojekt. Unverdrossen wollte ich weitermachen. Doch es kam ganz anders. Unerwartete Widerstände tauchten auf. Widerstände, mit denen ich...