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Auf dem Weg zu einem 'normalen Staat'? - Die Revision des Artikels 9 der Japanischen Verfassung

Die Revision des Artikels 9 der Japanischen Verfassung

AutorKai Schulze
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl94 Seiten
ISBN9783638860598
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Politik - Internationale Politik - Region: Ferner Osten, Note: 1,7, Georg-August-Universität Göttingen, 53 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die japanische Politik steht vor ihrer vielleicht größten Veränderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Planungen, die seit exakt 60 Jahren bestehende und bisher in ihrem Text unveränderte Nachkriegsverfassung zu revidieren, intensivieren sich. Speziell der Artikel 9 steht im Fokus der Diskussion. Dieser Artikel lautet: Artikel 9 der japanischen Verfassung: (1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten. (2) Zur Erreichung dieser Zwecke des Absatzes 1 werden Land-, See-, und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt. Er wird wegen seiner Bestimmungen in Bezug auf den Verzicht auf Militär und Kriegsmittel sowie auf das Kriegsführungsrecht Japans auch als 'Friedensartikel' bezeichnet. Allerdings empfinden viele japanische Politiker die Politik ihres Landes aufgrund der Beschränkungen, die durch diesen Artikel festgelegt werden, gegenüber anderen Staaten als 'unnormal'. Tatsächlich ist Japan, neben Costa Rica, theoretisch der einzige Staat, der freiwillig durch seine Verfassung auf Streitkräfte verzichtet. Damit sind den sicherheitspolitischen Optionen enge Grenzen gesetzt. Deshalb propagieren viele Politiker Japans eine Verfassungsrevision, um Japan zu einem 'normalen Land' werden zu lassen. Dabei ist die Diskussion um den vakanten Artikel 9 keineswegs eine neue Erscheinung in der japanischen Politik. Bereits im Jahr 1950 begann mit dem Aufbau der National Police Reserve (NPR) der Aufbau einer Truppe, die für die Sicherheit Japans verantwortlich war. Im Jahr 1954 wurde sie ausgebaut und in Self-Defense Force (SDF) umbenannt. Da die SDF militärischen Verbänden zumindest ähneln, werfen ihnen Kritiker vor, gegen den Wortlaut des Artikels 9 zu verstoßen. Daher erfolgte eine Diskussion über die Notwendigkeit einer Verfassungsrevision, die bis heute anhält. Es lassen sich insgesamt drei Phasen in der Diskussion feststellen. Die erste Diskussion fällt in die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurde diskutiert, ob Japan nach der Niederlage wieder Streitkräfte aufbauen sollte. Letztlich setzten sich die Gegner der Streitkräfte durch und etablierten den Artikel 9 in der japanischen Verfassung. Die zweite Diskussion wurde durch den Ausbruch des Koreakrieges 1950 ausgelöst. Dieser hatte die bereits erwähnte Aufstellung der NPR und der SDF zur Folge. Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Verbände entbrannten bis zum Anfang der 1960er Jahre zum Teil heftige Konflikte. Die dritte Phase setzte schließlich mit dem Ende des Kalten Krieges ein. Infolge dieser Umwälzungen sah sich Japan dem Druck der internationalen Gemeinschaft ausgesetzt, sich auch militärisch stärker zu engagieren. Der Auslöser dieser Entwicklung war der Golfkrieg im Jahr 1991.

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Leseprobe

3. Die Entstehung des Artikels 9 und dessen Entwicklung


 

3.1 Die Ursprünge des Artikels


 

Über die Entstehung des Artikels gibt es zwei Theorien. Die erste besagt, dass er der japanischen Regierung vom AHQ aufoktroyiert wurde, die zweite, dass Shidehara selbst für ihn verantwortlich ist.[20] Unstrittig ist, dass die Unterzeichnerstaaten der Potsdamer Erklärung zumindest für die Zeit direkt nach der Kapitulation eine vollständige Entwaffnung und Entmachtung der japanischen Armee vorsahen. So heißt es in Artikel 6 der Potsdamer Erklärung: „Weil wir der Auffassung sind, dass vor der Vertreibung des unverantwortlichen Militarismus aus der Welt eine neue Ordnung des Friedens, der Sicherheit und der Gerechtigkeit nicht entstehen kann, müssen die Macht und der Einfluss derjenigen, die das japanische Volk irregeführt und unter Ausnutzung des Irrtums sich vermessen haben, die Welt unterjochen zu wollen, für alle Zeiten ausgeschlossen werden.“[21] Aus dieser Formulierung könnte man die Interpretation ableiten, dass schon in Potsdam der Entschluss gefasst wurde, Japan für immer zu entwaffnen, um einen erneuten japanischen Militarismus zu verhindern.

 

Dies spricht dafür, dass die grundlegende Idee des Artikels 9 der japanischen Verfassung den Alliierten zuzuschreiben ist. Dabei ist jedoch zu beachten, dass in der Potsdamer Erklärung zwar von einer „Zerschlagung des japanischen Kriegspotentials“[22] gesprochen sowie die „vollständige Entwaffnung der japanischen Wehrmacht“[23] gefordert wird. Es ist jedoch nicht ersichtlich ist, ob diese Grundsätze auch nach dem Aufbau einer japanischen Demokratie und dem damit verbundenen Abzug der alliierten Truppen aus Japan gelten sollten.

 

Ganz im Gegenteil ist in dem Programmpapier, das das AHQ dem Minister der ersten Nachkriegsregierung um Prinz Higashikuni Konoe zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung vorlegte, lediglich von einer Beseitigung des Einflusses des Militärs in der Regierung die Rede.[24] Dies impliziert zwar eine politische Entmachtung des japanischen Militärs, nicht jedoch dessen vollständige Auflösung.

 

Aufgrund dessen gingen die Japaner scheinbar auch nicht von einer Auflösung ihrer Streitkräfte aus. In dem Verfassungsentwurf A, der unter dem Vorsitz Matsumoto Jôjis erarbeitet, vom Kabinett angenommen und den Alliierten vorgelegt wurde, war von einer Auflösung der Streitkräfte nicht die Rede. Ganz im Gegenteil heißt es in Artikel 5 des Entwurfes: „Der Kaiser führt den Oberbefehl über die Streitkräfte“[25] und in Artikel 6 heißt es weiter: „Die Organisation und die Friedensstärke der Streitkräfte werden durch Gesetz bestimmt.“[26], was folglich bedeutet, dass man weiterhin Streitkräfte unterhalten würde.

 

In ihrem Gegenentwurf zur japanischen Verfassungsvorlage reagierte das AHQ gerade in Bezug auf eventuelle Streitkräfte mit drastischen, eindeutigen Formulierungen. So heißt es in Abschnitt 2 Artikel 8 dieses Entwurfes: „Der Krieg als souveränes Recht der Nation ist abgeschafft. Die Androhung oder der Gebrauch von Gewalt als ein Mittel für die Erledigung von Streitigkeiten mit anderen Nationen wird für immer abgelehnt. Kein Heer, keine Flotte, Luftwaffe oder sonstigen Kriegsmittel werden jemals zugelassen, und keine Kriegsführungsrechte werden dem Staat jemals übertragen.“[27] Diese Formulierung ist schon sehr nah an der Formulierung des letztlich in der Verfassung stehenden Artikels 9, was erneut dafür spricht, dass dieser verfassungsmäßige Verzicht auf das Kriegsführungsrecht und auf eigene Streitkräfte den Japanern vom AHQ aufgezwungen wurde und somit allein von den Besatzungsmächten erdacht wurde.

 

Was jedoch lange Zeit nicht bekannt war, ist, dass Shidehara schon am 24. Januar 1946 ein geheimes Treffen mit General MacArthur hatte.[28] Wie bereits erwähnt, ist Shidehara von jeher ein Verfechter des Pazifismus gewesen. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg schien sich diese pazifistische Grundeinstellung noch weiter verfestigt zu haben, so dass er zu der Überzeugung gelangte, dass Japan keine Armee mehr unterhalten solle. Offenkundig war er der Ansicht, dass er sich mit der Idee der endgültigen Entwaffnung Japans in seinem eigenen Kabinett nicht durchsetzen würde, wenn nicht von alliierter Seite Druck ausgeübt werden würde.[29] Aus diesem Grund beschloss er MacArthur den Vorschlag direkt vorzutragen.

 

Da dem AHQ zu diesem Zeitpunkt der Entwurf für eine neue Verfassung Japans noch nicht vorlag, ist davon auszugehen, dass MacArthur zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant hatte, einen eigenen Entwurf des AHQ zu erarbeiten.[30] Dennoch gelang es Shidehara MacArthur zu überzeugen, dass es für das japanische Volk wichtig sei, den Kaiser als Symbol zu erhalten, dass im Gegenzug jedoch die Abschaffung des Militärs unabdingbar sei, um japanischen Militarismus für alle Zeit zu verhindern.

 

Da, wie erwähnt, keine Protokolle dieser Gespräche vorliegen, kann über die genauen Verhandlungen zwischen MacArthur und Shidehara leider nur spekuliert werden. Allerdings lassen später getätigte Äußerungen der beiden Verhandlungspartner darauf schließen, dass es den Tatsachen entspricht, dass Shidehara die Idee der endgültigen Entwaffnung Japans hatte und somit dieses nicht den Japanern von den Alliierten aufoktroyiert wurde. Besonders spätere Äußerungen MacArthurs sind Belege dafür. So erklärte er beispielsweise bei einer dreitägigen Befragung des US-Senats zu seiner Fernostpolitik und zum Koreakrieg eindeutig, dass Shidehara ihm die Idee selbst vorgetragen habe. MacArthur habe sich zwar sehr über diesen Vorschlag gefreut und er habe ihn auch sofort angenommen, seine Idee sei es aber nicht gewesen.[31] Shidehara selbst äußerte sich nie dazu, wer der Urheber des Artikels war, betonte aber in politischen Reden immer wieder die enorme Bedeutung dieses Artikels.[32]

 

Es gibt noch einen weiteren Hinweis darauf, dass diese Idee nicht amerikanischen Ursprungs ist. Am 11. Januar 1946, also vor dem Treffen zwischen Shidehara und MacArthur, erreichte das AHQ ein Dokument des in Washington sitzenden State, War, Navy Coordinating Committee (SWNCC). Das Dokument behandelte die Reformierung des politischen Systems Japans. Darin wurde unter anderem gefordert, dass durchgesetzt werden müsse, dass der Ministerpräsident und die Staatsminister in jedem Falle Zivilpersonen zu sein haben.[33] Es sollte folglich ausgeschlossen werden, dass Angehörige des Militärs wichtige politische Posten einnehmen konnten. Dies setzt jedoch voraus, dass man von amerikanischer Seite davon ausging, dass es auch weiterhin eine japanische Armee geben würde. Aufgrund dieser Indizien gilt es als wahrscheinlich, dass tatsächlich Shidehara der Urheber des Artikels 9 der japanischen Nachkriegsverfassung ist.

 

Dem widersprechen allerdings Passagen in Yoshidas Memoiren, in denen er auch im Jahre 1961 noch anzweifelt, dass Shidehara für den Artikel verantwortlich ist und nicht MacArthur. Obwohl dieser damals schon öffentlich geäußert hatte, dass die Idee zur Erschaffung des „Friedensartikels“ nicht amerikanischen Ursprungs ist, sondern Shidehara ihm den Vorschlag machte, glaubte Yoshida „daß eher der General es während eines Gesprächs dem Baron [Shidehara] so vorgeschlagen hat. Daß dann der Baron begeistert zugestimmt hat, mag immerhin sein.“[34] Dieser Sicht der Dinge schließt sich auch Shideharas Privatsekretär Kishi Kuramatsu an und äußerte es auch im Jahre 1957 öffentlich.[35]

 

Aufgrund der vielen widersprüchlichen Aussagen lässt sich der genaue Ursprung des Artikels nicht bestimmen. Die Diskussion an sich verdeutlicht jedoch die politische Brisanz des „Friedensartikels“

 

3.2 Die ersten Deutungen des Artikels 9


 

Da die Mehrheit der japanischen Politiker nicht von dem Inhalt des Artikels überzeugt war, kam es schon direkt nach der Inkrafttretung der Verfassung zu Diskussionen darüber, wie der Artikel zu interpretieren sei. Entscheidend dabei war, dass der Text des Artikels in den Verhandlungen um die endgültige Form der Verfassung abgeändert wurde. Die erste Fassung des japanischen Kabinetts vom 6. März 1946 erinnert noch stark an die Vorlage des AHQ. Sie lautet: „Der Krieg als souveräne Handlung der Nation sowie die Androhung oder der Gebrauch von bewaffneter Gewalt als ein Mittel für die Erledigung von Streitigkeiten mit anderen Nationen wird für immer verworfen. Die Unterhaltung von Land-, See- und Luftstreitkräften sowie anderen Kriegsmitteln ist verboten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.“[36]

 

Die Sonderkommission des Unterhauses für die Revision der Verfassung, die am 28. Juni 1946 eingerichtet wurde, änderte den Artikel erneut, so...

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